WELT AUS DEN FUGEN. Jonathan Green

WELT AUS DEN FUGEN - Jonathan  Green


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machte er die Runde bereits seit sechsunddreißig Jahren. Auf diese Route hatte ihn einst Suttleworth mitgenommen, als er ein Junge von gerade einmal sechzehn Jahren und der alte Suttleworth nur noch zwei Monate von seinem Ruhestand entfernt gewesen war. Eine Route, wie sie der Alte selbst fünfundvierzig Jahre lang gegangen war. Nie war es nötig gewesen, den Weg zu ändern. Nachtwächter des Natural History Museum in South Kensington zu sein, war nun einmal kein anspruchsvoller Beruf.

      Alfred trug seinen Schlagstock und die Taschenlampe jede Nacht, doch Gebrauch machen musste er von Ersterem noch nie in all den Jahren und Zweitere benötigte er wohl auch nicht wirklich. Selbst in mondlosen Nächten und während eines Stromausfalles hätte er seinen Weg durch die Galerien mit geschlossenen Augen gefunden, das zumindest erzählte er Mrs. Wentwhistle gerne mit einem Kichern.

      Die Taschenlampe trug er einfach aus Macht der Gewohnheit. Es hatte auch noch nie ein Einbruch stattgefunden, seit es das Museum gab. Und abgesehen von den gelegentlichen Umbauten der sonderbaren Schränkchen hie und da oder dem Stellplatzwechsel eines Artefaktes ab und an … die altbekannte Gestaltung des Museums hatte sich kaum bedeutsam verändert, seit der Ankunft des Diplodocus carnegii im Jahre 1905, vor zweiundneunzig Jahren also.

      Alfred Wentwhistle hatte Freude an seinem Job. Ihn entzückte es, zahlreiche Stunden zwischen Exponaten wie den ausgestopften Bestien und Dinosaurierknochen zu verbringen. Natürlich konnte man sich diese heutzutage auch real ansehen, seit der Eröffnung des eingezäunten Kampfgeheges des Londoner Zoos, aber es lag doch etwas Zeitloses und Magisches auf all den fossilen Gestalten, ausgegraben von Hobbyarchäologen, gewissermaßen die ersten Paläontologen; als Beweisstücke für die Existenz von Meeresungeheuern, Drachen oder gar dem Zyklopen.

      Von Zeit zu Zeit, ungestört von all dem regulären Publikum, hatte Alfred seine Freude daran, die handgeschriebenen Etiketten zu studieren, auf denen Erklärungen zu jedem Objekt angegeben waren; wo es entdeckt und ausgegraben worden war, wer es zu einem Ganzen wiederherstellte und einige andere sachdienliche Informationen, die der Beschaffer des Exponats mitzuteilen für nötig befunden hatte. Nach sechsunddreißig Jahren gab es nicht viele Etiketten, die Alfred noch nicht gelesen hatte.

      Das Wissen um seine Rolle als Hüter des bedeutsamsten Museums für Volksgeschichte des Landes – und infolgedessen des ganzen Königreiches und demnach, faktisch, der gesamten Welt! – bereitete ihm große Befriedigung. Und auch wenn er sich seit seinem Amtsantritt noch keiner Herausforderung in seinem friedvollen Wächteramt im Dienste der unzähligen Schätze von Mutter Natur hatte stellen müssen, Alfred Wentwhistle war zur Stelle, jede Nacht des Jahres – sogar am Weihnachtsabend – nur für den Fall, dass das Museum ihn jemals brauchen würde.

      Hin und wieder stieß er auf einen der Museumsforscher, die noch bis spät in die Nacht arbeiteten. Sie tauschten dann einige Nettigkeiten aus und manchmal wurde ihm sogar ein warmes Getränk angeboten. Sie alle kannten den alten, zuverlässigen Alfred, und auch er kannte sie alle beim Namen. Über die Jahre hatte Alfred Professoren kommen und gehen sehen – Botaniker, Zoologen, Naturforscher und Kryptozoologen – doch manche Dinge blieben stets dieselben, wie das Waterhouse-Gebäude selbst und sein nächtlicher Hüter.

      Alfred wusste, wo sein Platz war. Die Wissenschaftler waren hochgradig intelligente und gelehrte Berühmtheiten der Museumseinrichtung und er nicht mehr als ein einfacher Wachmann. Ihm reichte es vollkommen aus, sich stundenlang zwischen den Ausstellungsstücken in den Vitrinen aufhalten zu dürfen. Es wurde das Haus der Naturkunstwerke genannt; Sir Richard Owens nachhaltiges Vermächtnis an die Welt.

      Alfreds langsame, unaufhaltsame Schritte trugen ihn zurück in die Haupthalle und zum Museumseingang. Er verweilte kurz neben dem gereckten, skelettierten Hals eines Diplodokus, um im Schein der Lampe seine Taschenuhr zu lesen, so wie in jeder vorangegangenen Nacht, fünf Minuten, nachdem er seinen Gang begonnen hatte – pünktlich wie ein Uhrwerk.

      Er sah auf. Der Strahl seiner Lampe traf direkt in das Innere der Augenhöhle eines Giganten. Der glotzte teilnahmslos direkt auf den Museumseingang, um dort täglich 20.000 Besucher unter dem Torbogen hervorkommen zu sehen.

      Alfred hörte Metall an Metall schlagen, bemerkte aus dem Augenwinkel einen Lichtschimmer und realisierte zu spät, dass eine der Türen offen stand. Zweifellos war die Tür zuvor verschlossen gewesen. Es war stets das Erste, was er bei Dienstantritt tat. Falls einer der Wissenschaftler oder Katalogisierer noch zu nächtlicher Zeit arbeitete und auch erst zu später Stunde das Museum verließ, schloss Alfred stets eigenhändig für sie auf – und verriegelte die Tür sogleich wieder hinter ihnen.

      Nein, er hatte keinen Zweifel, dass hier etwas nicht in Ordnung war. Er durchschritt die Tür und konnte sogleich erkennen, dass sie aufgebrochen wurde.

      Das Geräusch von berstendem Glas schallte von einer der oberen Galerien durch die Museumshalle. Da lief ganz eindeutig etwas gehörig schief! Zum ersten Mal seit sechsunddreißig Jahren wurde er von seinem Museum gebraucht.

      Der Wachmann watschelte geschwind von der Tür aus durch die Eingangshalle und flog geradezu an dem fünfundzwanzig Meter langen Diplodokus vorbei auf die Haupttreppe zu. Dort angelangt, warf er einen raschen Blick über seine Schulter, direkt in den Schlund des gewaltigen Gewölbes zum ersten Stockwerk, in das der prunkvolle Treppenaufgang führte. Über ihm hüpften geschnitzte Affen in den oberen Teilen der Rundbögen hinauf in die Dunkelheit, mitten hinein in das mit Schnörkeln verzierte, eiserne Dachgebälk.

      Definitiv kam der Lärm aus der Galerie, gleich dort, wo auch die privaten Büros des Museumspersonals lagen. Eine Hand auf der polierten Steinbalustrade tat Alfred Wentwhistle einen tiefen Atemzug und erklomm die Stufen – immer zwei auf einmal. Auf dem ersten Absatz, unter dem strengen, bronzenen Blick von Sir Richard Owen, wandte er sich nach rechts. Er eilte die Galerie parallel zur Eingangshalle entlang, passierte ausgestopfte Dreifinger-Faultiere und die drapierten Skelette von prähistorischen Meeresreptilien und sprang den dritten Treppenabsatz hinauf. Völlig außer Atem nahm er sich einen Moment, um zu verschnaufen. Er spitzte die Ohren, um auszumachen, von wo genau das Geräusch gekommen war. Plötzlich tönte ein Krachen durch die verhältnismäßige Stille des schlafenden Museums, als wenn ein Tisch umgestoßen würde. Der Lärm kam von irgendwoher aus diesem Stockwerk, aus dem westlichen Flügel, der allein Darwin zustand.

      Alfred wandte sich den Galerien zu und lief unter einem geschnitzten Bogengang hindurch, auf dem Der Aufstieg des Menschen geschrieben stand. Er beschleunigte seine Schritte, als er die mondbeschienene Galerie betrat, in der sich einige aus Wachs gefertigte Nachbildungen der zahlreichen Vorfahren des Menschen befanden. Für alle Zeiten starr und in den buckeligsten Posen, konnte man hier die verschiedenen Arten bestaunen, vom Australopithecus afarensis bis zum Homo Neanderthalensis. Der schweifende Strahl der Lampe wurde von gebleckten Zähnen, verzerrten Mäulern, gläsernen Knopfaugen und schwarz geränderten Feuersteinklingen zurückgeworfen.

      In jeder anderen Nacht hätte Alfred innegehalten, um durch die Musterstücke und die dazugehörigen Erklärungen zu schmökern, die den Besucher durch die Evolution vom primitiven Affenmenschen bis hin zur Entwicklung des denkenden Menschen führten. Er wäre ebenso fasziniert und verblüfft gewesen wie damals, als er das erste Mal Die Entstehung der Arten gelesen hatte; die unglaubliche Geschichte über den Aufstieg der menschlichen Rasse, um die mächtigste und am meisten verbreitete Spezies der Welt – und darüber hinaus – zu werden.

      Als Charles Darwin die Entstehung der Arten erklärte, ihre natürliche Selektion und das Überleben des Stärkeren, wurde er zuerst von den weltbesten wissenschaftlichen Gehirnen jener Tage verspottet und als Scharlatan und Ketzer dafür denunziert, dass er sich gegen die einst weltweit verbreitete christliche Kirche und deren Kernglauben aussprach, dass allein Gott sowohl alles Leben, als auch die schlussendliche Version der Welt am Anbeginn der Zeit erschaffen hatte.

      Mit der Wiederentdeckung der verlorenen Welten in den Tiefen des kongolesischen Dschungels, oberhalb des Tafelbergplateaus des südamerikanischen Binnenlandes und auf halbversunkenen Inseln inmitten des Indischen Ozeans, traten jedoch auch andere – viele davon Männer der Kirche – zum Vorschein, um Darwins Behauptungen erneut anzufechten. Lautstark untermauerten sie die Annahme, dass die Theorie von der Entwicklung einer Spezies in eine völlig andere haarsträubend und aberwitzig


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