WELT AUS DEN FUGEN. Jonathan Green

WELT AUS DEN FUGEN - Jonathan  Green


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Nummer 16A wirkte dagegen eher anspruchslos mit seiner Front aus der Regentschaftszeit, die jedoch keineswegs darüber hinwegtäuschte, was hinter den geschlossenen Türen vor sich ging.

      Einigermaßen verstimmt darüber, dass man ihn nicht nur am ersten Tag nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt zu solch früher Stunde störte, sondern, dass auch noch die Fahrt nicht im Voraus bezahlt worden war, stapfte Ulysses die Stufen zu der großen Tür aus Palisanderholz empor, während die zweirädrige Droschke qualmend davon tuckerte.

      Er klopfte dreimal mit dem Knauf seines Spazierstocks gegen die Tür.

      Die Tür öffnete sich einen Spalt. Dahinter stand ein gedrungener, livrierter Portier mit dem Gesicht einer kampferprobten Dogge, der trotz des hoch auf seinem Kopf sitzenden Zylinderhutes Ulysses gerade einmal bis zur Schulter reichte. Dank seiner zwergenhaften Größe schätzten viele die Robustheit von Max Grendel, seinerzeit als Kirmesattraktion Grendel, der Monstermann - Der stärkste Zwerg der Welt bekannt, falsch ein.

      »Guten Abend, Mr. Quicksilver, Sir«, sagte der Portier mit dem unverwechselbaren Akzent der niederen Stände; ohne jeden Zweifel war er einst inmitten der City von London geboren worden. Er schenkte Ulysses ein breites, zahnloses und daher wenig ansprechendes Lächeln. »Es ist lange her.«

      »Hallo Max, alter Knabe. Wie geht es dir denn so?«

      »Hm, kann nich’ klagen. Beehren Sie uns heute beruflich oder zum Vergnügen, Sir?«

      »Höchstwahrscheinlich beruflich. Bei letzterem würde ich dich um eine Empfehlung bitten, nicht wahr, Max?«

      Der Portier kicherte dreckig. »Da haben Sie recht, Sir. Wenn Sie mir nun bitte hier entlang folgen wollen.«

      Ulysses steckte dem Portier eine halbe Krone zu und durchschritt erneut eine Flügeltür. Oberhalb dieser, direkt in den Türrahmen geschnitzt, prangte Dantes schicksalhafter Ausspruch Lasciate ogni speranza voi ch’entrate, was jedoch im italienischen Original unpassend und in dieser Bastion des englischen Charakters deplatziert wirkte.

      Uriah Wormwood hatte in einem von zwei gewaltigen ledernen Armsessel vor dem knisternden Feuer im Quartermain-Raum Platz genommen. Trotz der Jahreszeit und der Nähe zum Feuer wirkte der dürre Mann durchgefroren, die langen Hände und Finger bleich, das blaue Venengeflecht schimmerte durch seine porzellanartige Haut. Das zunehmend dünner und grauer werdende Haupthaar wich bereits stark zurück und deutete eine beginnende Glatze an, wobei ihm die fettigen Strähnen bis auf die Schultern hinabfielen. In seinem aus der Mode gekommenen, gehrockähnlichen schwarzen Anzug, dem gestärktem, weißen Hemd und der schlichten schwarzen Seidenkrawatte sah er genauso aus, wie ein in die Jahre gekommener Staatsmann eben aussehen musste. Hinter ihm stand ein stiller, ernster Berater, der aussah, als wäre er durchaus in der Lage, sich ebenso wie Max Grendel in einem Kampf problemlos zu behaupten.

      Ulysses nahm in dem Sessel gegenüber von Wormwood Platz. Der ältere Mann fixierte ihn mit stechendem Blick.

      »Ich hörte, Sie seien tot«, sagte er.

      »Nun, wie Sie sehen, Minister, waren die Nachrichten über mein Ableben in höchstem Maße übertrieben.«

      Ein Diener, steif wie ein Bock, tauchte von irgendwoher auf und reichte Wormwood ein Glas Whisky. »Sir?«, fragte er und wandte sich Ulysses zu.

      »Einen Brandy für mich – Cognac«, entgegnete er, als Wormwood den Lakaien bereits wieder herrisch fortwinkte.

      Ulysses nahm sich einen Moment Zeit, um die Umgebung in sich aufzunehmen. Es war einige Zeit her, seit er das letzte Mal hier gewesen war, doch in all den Monaten schien sich nicht wirklich etwas verändert zu haben.

      Der blaue Dunst von den viel zu vielen Pfeifen und Zigarren, welche die Klubmitglieder ständig pafften, hüllte den Raum völlig ein. Dem zufälligen Beobachter musste dieser Ort lediglich wie ein Klub von alternden Gleichgesinnten erscheinen, von pensionierten Offizieren, die einst die Streitkräfte Ihrer Majestät befehligten, und ehemaligen Vorstandsvorsitzenden multinationaler Konzerne. Dennoch gesellten sich auch einige jüngere Männer hinzu, die sich bereits das Gehabe der Älteren anzueignen versuchten, jederzeit bereit, die Zügel der Macht in die Hand zu nehmen, sobald sie ihnen angeboten wurden. Ulysses Quicksilver wusste, dass in diesen Bastionen der Frauenfeindlichkeit – und die ehrlichsten und verborgensten Vertreter waren wohl die Mitglieder des Inferno Clubs, wenn es um dieses Thema ging – die wirkliche Macht lag. Hier wurden die wichtigen Entscheidungen getroffen; jene, die das Schicksal der Nation beeinflussten. An diesem Ort trafen Vertreter aller Organisationen und Interessen ihre Abkommen, und von hier aus wurden ihre häufig widerwärtigen Beschlüsse an ihre obskuren Meister übermittelt. Ulysses Quicksilver wusste bestens darüber Bescheid, immerhin gehörte er selbst dazu.

      »Nun«, sagte Wormwood und beäugte Ulysses über seine Fingerspitzen hinweg, die er wie ein spitzes Dach aneinandergelegt hatte. »Da haben Sie sich keinen Gefallen getan mit Ihrer … Berichterstattung. Was ist passiert? Haben Sie das Artefakt?«

      »Es gibt wirklich keinen geeigneteren Weg, es Ihnen mitzuteilen«, meinte Ulysses und nahm von dem Lakaien den Brandy entgegen. »Nein.«

      »Wie erwartet«, sagte Wormwood vernichtend und seine Worte trieften vor Geringschätzung für sein Gegenüber. »Und Ihr orientalischer … Freund? Was ist mit ihm?«

      »Wir stürzten zusammen ab«, entsann sich Ulysses des schrecklichen und dramatischen und beinahe verheerenden Abgrundes, der sich erneut vor seinen Augen auftat. »Er versuchte, zu mir in die Gondel zu steigen. Wir kämpften. Er fiel. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen, Sumatras grünäugigen Affengott.«

      »Sie hätten uns über Ihre Rückkehr informieren müssen.«

      »Das war zu riskant. Ich hoffte, die Schwarze Mamba selbst aufstöbern zu können. Ich nehme an, dass keiner Ihrer anderen Agenten etwas über sein erneutes Auftauchen an einem seiner Lieblingsplätze gemeldet hat?«

      »Nein. Wir können nur hoffen, dass er sich noch immer irgendwo in den südlichen Gefällen des Mount Manaslu befindet, zu Eis erstarrt wie ein Relikt aus der Vorzeit. Aber manchmal bezweifle ich das. Zudem liegt es auch nicht mehr in unseren Händen.«

      »Was?«

      Ulysses war verblüfft.

      »Ich habe eine andere, dringlichere Angelegenheit, die Sie für mich erledigen werden.«

      »Und um was genau handelt es sich bei diesem neuen Unterfangen?«

      »Letzte Nacht wurde im Natural History Museum eingebrochen.«

      »In der Cromwell Road?«

      »Kennen Sie noch ein anderes? Ein Nachtwächter wurde getötet. Jemand plünderte ein Labor. Würden Sie das wohl … untersuchen?«

      Beiläufig nahm Ulysses noch einen weiteren Schluck aus seinem Glas. »Sicherlich unterliegen doch Einbruchsdiebstahl und Mord noch immer der Zuständigkeit von Scotland Yard.«

      »Und Ihre Zuständigkeit ist es, der Königin und dem Land zu dienen. Und das, solange es die Abgeordneten der königlichen Regierung für nötig befinden. Außerdem könnte es hier um mehr gehen, als es auf den ersten Blick scheint. Natürlich werden Sie Ihren üblichen Vorschuss erhalten.«

      »Willkommen zu Hause, Ulysses«, brummte der jüngere Mann leise und leerte sein Glas.

      »Gibt es da ein Problem?«

      »Nur, dass sich manche Dinge wohl nie ändern werden, nicht wahr, Minister?«

      Ulysses Gegenüber blinzelte ihn finster an, die messerscharfen Gesichtszüge traten für einen Moment noch schärfer hervor, noch bedrohlicher.

      »Ich kann Sie nicht leiden, Quicksilver, aber in meinem Metier muss ich das auch nicht. Ich bin, wenn Sie so wollen, ein … Bewunderer dessen, was Sie tun, und Sie sind höchst versiert, meistens zumindest. Aber es ist allerlei im Gange in dieser Welt. Wir sind alle nur noch wenige Jahre von einem neuen Millennium entfernt und Magna Britannia war noch nie in einer besseren Verfassung. Doch auch waren ihre Gegner noch nie so erpicht darauf, sie fallen zu sehen und würden


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