WELT AUS DEN FUGEN. Jonathan Green
»Screwtape, wollen Sie nicht Platz nehmen?«, fragte der junge Mann und deutete in Richtung des gepolsterten Lederstuhles.
Der Anwalt betrachtete den ungemütlichen Armsessel und drehte dabei unruhig die Krempe seiner Melone in den Händen. »Nein, ist schon gut. Ich bevorzuge es, stehenzubleiben.«
Der junge Mann schaute zum ersten Mal, seit der Anwalt das Studierzimmer betreten hatte, auf den Lederstuhl. Ein distanziert wirkender, wehmütiger Blick vernebelte seine Miene. »Ja, ich weiß, was Sie meinen.«
Es schien, als strahle der leere Sitz eine beunruhigende Dominanz aus.
»Wenigstens einen Drink?«, fragte Quicksilver, das Glas wie zu einem Trinkspruch erhoben.
»Sehr gerne«, nahm der Anwalt erleichtert das Angebot an. Ein harter Drink war genau das, was er nötig hatte. »Whisky bitte.«
»Ich befürchte, es wird wohl Cognac sein müssen. Es hat den Anschein, die Vorräte meines Bruders sehen eher mau aus.« Er warf dem Hausdiener, der noch immer in der offenen Tür des Studierzimmers stand, den Blick eines Verdurstenden zu und drückte Screwtape ein Brandyglas in die Hand. Dieser legte seinen Hut und die Aktentasche sorgfältig auf dem Schreibtisch ab und nahm den angebotenen Drink entgegen.
»Auf die Zukunft«, tat Quicksilver kund und ließ sein Glas gegen das von Screwtape klirren. Der junge Mann leerte den Inhalt in einem Zug. Screwtape nippte an dem seinen. Das weiche Aroma des Cognacs füllte seinen Mund und rann die Kehle hinab, um sein Magengeschwür etwas zu besänftigen.
»Allerdings«, brummte er.
»Also, die Papiere?«
»J-ja, natürlich«, der Anwalt wandte seine Augen endlich mit einiger Mühe von dem leeren Armsessel ab. »Ich habe sie gleich hier.«
Nach einigem Herumfummeln gelang es ihm schließlich, die kostbaren Dokumente aus ihrem Umschlag zu fischen. Er reichte sie über den Schreibtisch und Quicksilver griff begierig danach, doch Screwtape wollte sie noch nicht aus den Händen geben.
»Wenn diese Papiere erst einmal unterzeichnet sind«, sagte er mit einer Stimme, die plötzlich ruhig und gesetzt klang, »wird Ihr älterer Bruder Ulysses offiziell für tot erklärt sein und all das gehört dann Ihnen.« Mit einer allumfassenden Geste seiner Hand bezog er das Studierzimmer und folglich auch das ganze Haus mit ein.
»Als der einzig verbliebene Erbe Ihres Bruders wird er Ihnen alles hier hinterlassen. Das verstehen Sie, nicht wahr?«
»Natürlich verstehe ich das.« Quicksilver zerrte an den Unterlagen und schließlich lockerte Screwtape seinen Griff.
»Es schmerzt mich ebenso sehr, dies hier zu tun«, sagte der junge Mann, ohne auch nur eine Spur von aufrichtiger Traurigkeit in der Stimme. »Und wie es mich schmerzt, dass mein Bruder seit über einem Jahr vermisst wird. Nicht ein einziges Wort habe ich von ihm gehört, seit er zu dieser verhängnisvollen Unternehmung aufbrach. Die Überreste seines Ballons wurden in den unteren Gefällen des Mount Manaslu gefunden. In dieser Höhe und bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt könnte ein Mann nicht einmal eine Nacht überleben, selbst wenn er den Absturz überstanden hätte. Leider muss ich sagen, dass diese Eishölle wohl nun zu seiner letzten Ruhestätte geworden ist.«
Stille breitete sich zwischen den beiden Männern aus, bleischwer von dutzenden unbehaglichen Gedanken. Erneut erklang die Türglocke und erschütterte die spannungsgeladene Atmosphäre. Sowohl der Anwalt als auch der Erbe spähten durch die offene Tür des Studierzimmers hinaus, direkt in die undurchdringlichen Schatten der geisterhaft bedeckten Möbel in der Bibliothek.
»Wer kann das zu dieser Zeit noch sein?«, fragte Screwtape mehr zu sich selbst.
»Tatsächlich, wer wohl?«, wunderte sich auch der junge Quicksilver und schielte argwöhnisch in Richtung des Anwalts.
»Wenn Sie mich wohl entschuldigen würden, meine Herren. Ich werde mich nach Kräften bemühen, es herauszufinden«, meinte Nimrod, der schwere Bariton seiner Stimme bar jeglicher Emotion.
»Gern.« Quicksilver winkte ihm mit seinem leeren Glas hinterher, die Augen erneut starr auf die Papierschnipsel gerichtet.
Der Blick des Anwalts wanderte zurück zu den Bildern und dem kuriosen Krimskrams, der die Wände zierte – die persönliche Ausbeute eines Mannes, den sie in Bälde in sein Grab verdammen würden. Screwtape wurde auf einmal auf eine Ansammlung kleiner Fotografien aufmerksam. Stets derselbe Mann war auf jeder davon abgelichtet; tatsächlich der Einzige, der gleich mehrmals in den eingefangenen Szenen auftauchte. Geschichtliche Momente, auf ewig für die Nachwelt festgehalten. Einmal stand er inmitten einer halbnackten Sippe von Pygmäen des Äquators, ein anderes Mal schüttelte er die Hände eines Turban tragenden Maharadschas und auf einer weiteren Abbildung trug er die Garderobe eines amerikanischen Grenzansiedlers, Arm in Arm mit einem sündhaft aufgetakelten Exemplar von Frau am Pokertisch eines Schaufelraddampfers auf dem Mississippi. Es handelte sich hier nicht um denselben europäischen Jäger wie auf dem Porträt über der Feuerstelle – dieser Mann war jünger – doch es offenbarte mehr als nur eine simple Ähnlichkeit mit Screwtapes Klienten. »Sicherlich hatte er bereits die ganze Welt bereist, Ihr Bruder«, gestattete sich der Anwalt einen Kommentar.
»Ja. Und sehen Sie, wohin es ihn gebracht hat!«
Quicksilver fuhr fort, die eng beschriebenen Vertragsseiten nach etwaigen Nebenklauseln und fachlich unverständlichem Kauderwelsch zu durchsuchen, welche klipp und klar festlegten, dass nach dem Tod von Ulysses Lucian Quicksilver auch wirklich alles an ihn übergehen würde.
»Diese Artefakte …« Der Anwalt nahm eines davon in die Hände. »Sie dürften doch sicher für Sammler einen gewissen Wert haben.«
»Andenken, Schnickschnack, Nippes und nicht mehr. Ich werde sie dem Pitt-Rivers-Museum in Oxford vermachen. Und warum auch nicht? Immerhin ist das Haus die einzige Anlage, die mir mein Bruder hinterlassen hat.«
»Und wie wollen Sie mit dem Verkauf des Anwesens verfahren?«
»Ich ziehe in eine der Mondstädte um. Ich bin London leid und ich spüre, dass auch London meiner überdrüssig ist. Hier gibt es jetzt nichts mehr für mich.«
»Wie ich hörte, soll das Transquillity ganz nett sein«, bot Screwtape an. »Oder das Luna Prime. Es soll eine recht erquickliche Atmosphäre haben.«
»Sehen Sie, Screwtape, ich denke wir haben genug an Nettigkeiten ausgetauscht. Also lassen Sie uns wieder mit dem vorliegenden Fall beschäftigen. Wollen wir?«
Nur wenig später hatte Quicksilver die Begutachtung des Dokuments abgeschlossen. »Gut, ich unterschreibe also hier und hier«, er deutete mit dem Finger auf die Zeilen, »und die Tat ist vollbracht?«
»Ja, Sir. Dann ist’s gewiss getan«, meinte der Anwalt resigniert.
»Spricht etwas dagegen?«
»Wissen Sie denn, was Sie tun, Mr. Quicksilver?«
»Oh, Sie haben Ihre Rolle gut gespielt, Screwtape. Und in völligem Einvernehmen hinsichtlich der Konsequenzen. Sagen Sie nicht, Sie hätten nun ein schlechtes Gewissen. Das wäre nicht hilfreich für einen Mann Ihres Faches.«
»Ihr Bruder war sehr angesehen, ebenso wie der gute Name Ihrer Familie seit vielen Jahren schon. Ich würde es nur nicht begrüßen, wenn sich das ändern würde.«
»Oh, ebenso wenig wie ich, Screwtape. Ebenso wenig wie ich. Sie sprechen darüber, als ob es sich nicht um den guten Namen meiner Familie handeln würde.«
»D-das war nicht respektlos gemeint, Mr. Quicksilver, seien Sie versichert.«
»Und ich versichere Ihnen, dass man des guten Namens meiner und meines Bruders Familie noch lange Jahre gedenken wird. Ich verspreche Ihnen, sobald wir das hier hinter uns haben, ist das Erste, was ich morgen in aller Frühe tun werde, einen Grabstein in Auftrag zu geben, damit er auf unserem Familiengrab auf dem Highgate-Friedhof aufgestellt werden kann. Und ich arrangiere einen Gedenkgottesdienst zu seinen Ehren in der St.-Paul‘s-Cathedral.«
»St.-Paul‘s,