WELT AUS DEN FUGEN. Jonathan Green

WELT AUS DEN FUGEN - Jonathan  Green


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die Kontinente mit dem Zug durchquerte, bis ihn der sogenannte Thames-Tunnel zurück nach England, nach London und zu guter Letzt, nach Hause gebracht hatte.

      Und hier lag er nun. In einem Bett, in welchem er seit über einem Jahr keine Nacht mehr zugebracht hatte. Doch war es wirklich noch sein Zuhause, fragte er sich, während er die Risse betrachtete, welche die Zimmerdecke über ihm durchzogen. Eine Weile noch sagte er sich, dass er erfreut war, wieder heimgekehrt zu sein, doch bei allen Annehmlichkeiten – der Kissen mit weichen Gänsedaunen und der gefederten Matratze – sehnte sich sein Körper zurück nach der harten Holzpritsche im Kloster und zu den Schlägen der gezahnten Bambusprügel, die auf seinen Rücken niederprasselten.

      Ein zurückhaltendes Klopfen an der Tür holte Ulysses aus seinem Tagtraum zurück.

      »Herein.«

      Die Klinke senkte sich, die Tür schwang auf und Nimrod betrat den Raum. Der Hausdiener sah wie immer tadellos aus, gekleidet in seiner grauen Livree, jedes Haar an seinem Platz. Auf den gespreizten Fingern einer Hand balancierte er ein silbernes Tablett. Über den anderen Arm hatte er sorgfältig ein gestärktes Leinentuch drapiert.

      »Guten Tag, Sir.«

      »Guten Tag, Nimrod.«

      »Da es bereits Nachmittag ist, habe ich mir die Freiheit genommen, Mrs. Prufrock um ein Frühstück für Sie zu bitten.«

      »Nun, ich danke dir, Nimrod.«

      »Nichts zu danken, Sir«, entgegnete der Butler, platzierte das Tablett auf Ulysses Schoß und legte die weiße Serviette aus Leinen entfaltet vor ihn. Neben dem silbernen Gedeck stand eine schlanke Kristallvase auf dem Tablett, darin eine einzelne rote Nelke, eine Cafétiere mit heißem Kaffee und passender Tasse, ein silberner Toastständer mit vier Dreiecken von hellem und dunklem Brot und eine aktuelle Tagesausgabe der Times.

      Mit einer überschwänglichen Geste lüpfte Nimrod den Deckel der Speiseplatte. Eine Duftwolke nach Eiern, geräuchertem Rückenspeck, Cumberlandwürstchen, Black Pudding, gegrillten Tomaten, gedünsteten Pilzen und Hash Browns bestürmte Ulysses’ Nasenlöcher.

      »Ich dachte mir, Sie könnten nach Ihrer langen Reise etwas hungrig sein.«

      Ulysses griff beherzt zu und scheute sich nicht, jegliche Manieren außer Acht zu lassen, als er mit dem Mund voll Wurst murmelte: »Richte Mrs. Prufrock doch bitte meine Komplimente aus, für das sicherlich beste Frühstück, das ich je gegessen habe.«

      »Mit Vergnügen, Sir.«

      Ulysses fühlte eine wohlige Wärme in sich aufsteigen und wusste, dass es nicht nur an der heißen Hausmannskost lag, die er sich gerade in den Bauch schlug. Dieses Gefühl, zu Hause zu sein, umgeben von Menschen, denen man etwas bedeutete und auf die man zählen konnte. Plötzlich war das alles wieder sehr vertraut, er fand das tröstlich. »Es ist gut, wieder daheim zu sein, Nimrod.«

      »Und wenn ich das anmerken dürfte, Sir: Es ist gut, Sie wieder zurückzuhaben. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden?« Nimrod verließ den Raum und zog die Tür sorgfältig hinter sich ins Schloss.

      Ulysses entfaltete die Times auf der Tagesdecke und ließ sich sein Frühstück weiter schmecken. Es war Zeit, sich auf den neuesten Stand über die Geschehnisse in der sogenannten zivilisierten Welt zu bringen. Die Ausgaben der Times, die er im Orient Express hatte ergattern können, waren bedauerlicherweise völlig veraltet gewesen.

      Die Schlagzeile dieser Ausgabe hingegen, datiert auf den 16. April 1997 (das Papier war noch immer warm von dem Bügeleisen, mit dem Nimrod die Seiten geglättet hatte), war äußerst aktuell. Da stand: Buckingham Palace bestätigt Jubiläumsfeierlichkeiten, wobei es sich offensichtlich um das 160. Thronjubiläum von Königin Victoria handelte. Der Anlass sollte außerdem noch der Enthüllung einer kolossalen Statue der Britannia im Hyde Park dienen, direkt vor Paxtons grandioser Konstruktion des zweiten Crystal Palace. Das alles sollte am 23. Juni stattfinden, in weniger als zwei Monaten. All die Politiker, Speichellecker, feinen Pinkel und Blaublütigen würden es wieder einmal als die glorreichste Zeit in der Geschichte des britischen Empire bezeichnen.

      Tatsächlich waren es unglaubliche eineinhalb Jahrhunderte gewesen, in welchen die Visionäre jener Zeit von den Anfängen des Industriezeitalters und der einfallsreichen Nutzung der Dampfleistung aufgestiegen waren, um sich die Welt gefügig zu machen und sogar die Sterne zu bezwingen. Raumfahrt, eine Selbstverständlichkeit in der heutigen Zeit, war einst reine Science-Fiction gewesen, heraufbeschworen von Autoren wie H.G. Wells und Jules Verne. Mit der Beherrschung des interplanetarischen Reisens, der Inbetriebnahme der kapitalen Raumfahrtstation in Gatwick-Süd, der Einführung jeglicher Klassen von Staatsbürgern in die Reichskolonien Ihrer Majestät auf dem Mond und den umliegenden Planeten, munkelte man nun in gewissen geheimniskrämerischen Zirkeln über das Vorhaben, die einzig bestehende Grenze zu brechen, die der Menschheit nun noch blieb – die Zeitreise. Was einst absonderlich klang, gehörte nun zum Alltag, das Unmögliche schlicht zum neuen Durchbruch von Morgen. Es gab beispiellose Fortschritte in der Medizinwissenschaft, den Differenzmaschinen und dem neueren Feld der Kybernetik.

      Das Imperium von Magna Britannia – seinerzeit als Großbritannien bekannt – wäre nicht das, was es war, ohne die Fortschritte in diesen Bereichen. Ohne sie wäre die Witwe von Windsor nicht dort, wo sie nun war und die Nation nicht feldführend in einer Menge von Projekten, welche auf der Uhrwerk-Kybernetik beruhten, seit Charles Babbage der bahnbrechende Erfolg gelungen war, einen ersten vollautomatischen Rechenapparat zu konstruieren. Doch während die Welt sich weiterdrehte und die technischen Entwicklungen förmlich explodierten, verschlechterten sich die Lebensumstände der Menschen im Empire auf beschämende Art und Weise.

      Zu dieser Zeit waren Londons Slums düsterer, verschmutzter und überfüllter, als es sich sogar der große Visionär Charles Dickens je in einer seiner verzweifelten Stunden hätte vorstellen können. In diesen dunkelsten Zeiten des Empire waren die Straßen überfüllt mit den Ärmsten der Armen, die ihrem Schicksal im Gin-Rausch harrten. Viele von ihnen verdingten sich als Sklaven der Maschinen einen kärglichen Unterhalt; gezwungen, unermüdlich in den riesigen gotischen Fabrikhallen zu arbeiten. Doch immer öfter waren sie den Maschinen zugunsten ausgemustert worden und Robotersklaven nahmen stattdessen ihren Platz in den industriellen Werkstätten ein.

      Die Tatsache, als Werkstatt der Welt zu gelten, hatte einen hohen Preis. Ganze Landstriche der britischen Insel waren nunmehr verdorbenes Brachland, dessen Flora und Fauna mutiert oder von den Verunreinigungen der vielen tausenden Fabriken gänzlich zerstört worden war. Während die schrecklich hohe Kindersterblichkeitsrate, Prostitution, Mangelernährung, Cholera und Syphilis das Leben der verarmten Unterklassen zunichtemachten, genossen die oberen Zehntausend die Vorzüge des elektrischen Lichtes, der Automobile und jener denkenden Maschinen, die ein Vermächtnis Babbages waren.

      Gerade als Ulysses Messer und Gabel auf dem leer geputzten Teller kreuzte, pochte es erneut an der Tür.

      Auf einen Wink hin trat abermals Nimrod ein.

      »Sir, wenn Sie so weit sind, erwartet Sie eine Kutsche, um Sie in den Inferno Club zu bringen.«

      »Tatsächlich?«, meinte Ulysses. »Schon? Wormwood hat nicht besonders lange dafür gebraucht, herauszufinden, dass ich wieder in der Stadt bin, nicht?«

      »Nein, Sir.«

      »Ich gehe davon aus, dass er eine Einsatzbesprechung abhalten möchte. Da lasse ich ihn wohl besser nicht warten«, sagte Ulysses mit einem Zwinkern und fuhr sich durch das vom Schlaf zerzauste Haar, »so was macht ihn nur reizbar. Ich halte es bestenfalls für eine lästige Pflicht, sich auch nur kurz mit ihm abgeben zu müssen, und wenn er gereizt ist, macht es das noch zehnmal schlimmer. Eine kurze Warnung wäre nett gewesen; vielleicht ein Begrüßungskärtchen mit einem verschnörkelten Willkommen zu Hause oder ein Bouquet mit Chrysanthemen.«

      Binnen einer halben Stunde hatte Ulysses Quicksilver seine Morgentoilette beendet. Angekleidet und mit seinem Gehstock in der Hand saß er auf dem Rücksitz der stattlichen, wenn auch holpernden Kutsche, war auf dem Weg zum Inferno Club und ertrug geduldig das weltgewandte Geplänkel des Kutschers.

      Die


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