WELT AUS DEN FUGEN. Jonathan Green

WELT AUS DEN FUGEN - Jonathan  Green


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hielt sich hartnäckig und zornig – wie eh und je – unermüdlich über viele Jahrzehnte.

      Doch mehr als einhundert Jahre nach seinem Tod wurde Darwin dann posthum von allen Anschuldigungen der bestialischen Ketzerei und wissenschaftlichen Idiotie entlastet und zu jenem Punkt erhoben, an dem man ihn praktisch als den Vater des Wissenschaftszweigs der Evolutionsbiologie vergötterte, und so erhielt er einen eigenen Flügel im Natural History Museum; seinen Fortschritten und Entdeckungen gewidmet, die er seit seiner Veröffentlichung im Jahre 1859 machte. Tatsächlich arbeiteten Wissenschaftler bis heute in diesem Fachgebiet, wie die Professoren Galapagos und Crichton.

      Bei mehreren vorangegangenen Gelegenheiten hatte Alfred Wentwhistle so manche Zeit durch das Anstarren seiner Vorfahren vertrödelt, während sich sein Antlitz im Glas der Vitrine spiegelte, die eingesunkenen Augen von den ausgeprägten Brauen überdeckt. In solchen Augenblicken wunderte er sich über Darwins Vermächtnis für die menschliche Rasse und welche Implikation eine solch anerkannte Theorie wohl für Ihre Majestät, Königin Victoria, gehabt haben mochte, da doch durch diese Hypothese vorausgesetzt wurde, dass die britische Monarchin ebenfalls vom urzeitlichen Affenmenschen abstammte.

      Der vertraute Geruch von Kampfer und Bodenpolitur drang durch Alfreds Nasenhaare. Mondlicht tauchte die Galerie in ein monochromes Licht und enthüllte die grauen Umrisse von ausgestellten Säugetieren, Reptilien und Amphibien, die so angeordnet waren, dass sie deutlich den Evolutionsweg des Menschen aufzeigten, von dem Moment an, da sie aus dem steinzeitlichen Morast gekrochen kamen, bis zum heutigen Tage, an dem er den Globus dominierte. Der Mensch als die herrschende Rasse, welche die Erde und die näheren Planeten des Sonnensystems beinahe vollständig bevölkerte.

      Angrenzend an diese Galerie befanden sich die Arbeitsbereiche der Wissenschaftler. Eine große Anzahl von Türen auf jeder Seite erstreckte sich vor Alfred und auf jeder einzelnen befand sich ein Messingschildchen mit den Namen wichtiger Menschen.

      Alfred konnte nun klar und deutlich die Geräusche einer Auseinandersetzung hören. Im Strahl seiner Taschenlampe sah er Glasstücke auf dem Boden glitzern wie Wolfsmilch an einem ersten Wintermorgen. Der flackernde Schein einer elektrischen Lampe schien von einem Büroraum in die Galerie, bis es plötzlich erlosch. Da erklang das brachiale Bersten von noch mehr Glas und umstürzenden Möbeln. Am nächsten Morgen würde er Mrs. Wentwhistle bei Ei und Speck sicherlich eine äußerst dramatische Geschichte erzählen können, dachte Alfred plötzlich unpassenderweise.

      Als der Wachmann sich dem Büro näherte, fielen ihm schwache Rauchfähnchen oder eine Art Gas auf, die unter dem Türspalt hervor sickerten. Ein Geruch – ähnlich dem von Anis mit einer unerquicklichen Note verrotteten Fleisches – machte sich breit und ließ ihn die Nase rümpfen.

      Mit einem Mal brach die Tür auf. Es hagelte Glasstücke in die Galerie, die gegen die Schaukästen prasselten. Eine männliche Gestalt sprang aus dem Büro, prallte gegen den in die Jahre gekommenen Nachtwächter und stürzte zu Boden. Alfred taumelte zurück und konnte rein gar nichts dagegen tun, dass er in die Szene einer Familie wächserner Neandertaler stolperte, die um ein lebloses Feuer kauerte. Die Taschenlampe glitt ihm aus der Hand. Ihr Strahl erstarb.

      »Sie da! Was glauben Sie eigentlich, was Sie da tun!« Alfred schaffte es gerade noch, dem Eindringling hinterherzurufen, bevor dieser sich aufrappelte und mit einem Satz in die Galerie sprang. Er hielt etwas in seinen Armen, das von Umriss und Größe her einem Umzugskarton glich. Bevor Alfred wieder auf die Beine kommen konnte, war er bereits verschwunden.

      Alfreds Herz raste, hämmerte in seiner Brust. In all den sechsunddreißig Jahren hatte er so etwas noch nicht erlebt. Adrenalin durchflutete seinen Körper und er hätte beinahe die Verfolgung aufgenommen und die Bobbys zur Unterstützung gerufen, als ihm bewusst wurde, dass der Dieb sich ja nicht allein in dem Büro aufgehalten hatte. Alfred hatte mehr als eine Stimme ausmachen können, deren Tonfall bei seinem Näherkommen immer ärgerlicher wurde, und er hatte eindeutige Anzeichen einer Auseinandersetzung wahrgenommen.

      Behutsam näherte er sich dem Zugang zum Büro. Der ranzige Dunst hatte sich fast verflüchtigt. Alfreds Schuhsohlen zermahlten zerbrochene Glassplitter. Innerhalb des stockfinsteren Büros hörte er ein raues Atmen, das an das Schnauben eines Tieres erinnerte. Dann, plötzlich, war es still.

      Alfred tat noch einen Schritt nach vorn. »Was in drei Teufels Namen …«, war alles, was er hervorbrachte, bevor eine Explosion aus Glassplittern und geborstenem Holz auf ihn niederging und die Tür aus ihren Angeln gerissen wurde. Der Nachtwächter konnte gerade noch vor Schmerz aufjaulen, als kleine Glasstückchen ihm ins Gesicht und die Hände schnitten, die er zum Schutz erhoben hatte, und bevor ein klobiger Schatten massiver dunkler Muskelmasse über ihn kam. Er bekam für einen Augenblick einen Eindruck von dickem, verfilztem Haar und scharfen, viehischen Ausdünstungen – da war er wieder, der widerliche Geruch nach Anis, gemischt mit einer ekelerregenden Note verrotteten Fleisches – breiten Schultern und einer plumpen Nase, die tief zwischen den Schultern in einem scheinbar halslosen Kopf saß. Silbrig, wie ein Blitz, brach sich das Mondlicht in etwas, das dem Ding um den Nacken baumelte. Alfred hatte so etwas noch nie gesehen – niemals in all den Jahren.

      Dann attackierte ihn die affenähnliche Kreatur, die Zähne zu einem animalischen Schrei entblößt, mit ohrenbetäubendem Brüllen, das seine Ohren förmlich bluten ließ, und Fäusten gleich Vorschlaghämmern, die auf ihn eindroschen.

      Geschwächt hob Alfred seine Arme, um sich zu schützen, doch es gab nichts, was er gegen die rohe Gewalt dieses Untieres tun konnte. Es griff seinen Kopf so gewalttätig bei den Haaren, dass er spürte, wie ganze Büschel aus seiner Kopfhaut gerissen wurden. Dann, mit einer einzigen ruckartigen Bewegung, zertrümmerte die aufgebrachte Bestie seinen Schädel an einem Schaukasten. Bereits mit dem zweiten Hieb zerbarst das Glas der Vitrine und die Welt von Alfred Wentwhistle explodierte in eine dunkle Vergessenheit.

      

      Kapitel 2

       Im Teufelskreis

      Ulysses Quicksilver erwachte mit der mittäglichen Sonne, als diese durch einen Spalt der schweren Samtvorhänge seines Schlafgemaches strömte. Das warme Licht erreichte ihn und wischte eine unruhige Nacht mit all ihren Fieberträumen hinfort, verbannte und ersetzte die flüchtigen, verstörenden Gedanken mit greifbaren Erinnerungen an die alten Verletzungen, die sein ermatteter Körper noch immer in sich trug.

      Er streckte die Glieder unter den steifen Laken seines Himmelbettes und bereute es augenblicklich wieder. Ein stechender Schmerz schoss durch seine rechte Schulter, ein ekelhafter Krampf stieß augenblicklich in sein linkes Bein, und er fühlte ein dumpfes Pochen in seiner linken Seite. Er hatte lang und fest geschlafen, in überfließenden Träumen aus teils wahren Erinnerungsfragmenten die Ereignisse der vergangenen achtzehn Monate passieren lassen.

      Da war der rapide Abhang, der sich plötzlich in den gefrorenen Nebelschwaden oberhalb der schneebedeckten Gipfel auftat, das brachiale Taumeln der Kollision, als das Seil der Gondel in dem unbarmherzigen Gebirge riss. Er erwachte im Schnee, die Zähne klapperten so heftig in seinem Mund, dass er fürchtete, sie würden abbrechen. Davenports Körper erkannte er gleich neben sich, das Blut seines Kameraden zu schwarzem Frost erstarrt, in dieser gefrorenen Hölle.

      Sein Traum wurde mit einem Mal von sonorem Singsang erfüllt, wie er ihn aus dem Kloster kannte, der Empfindung von Wärme, die langsam in seine Glieder zurückkehrte, von weicher Luft, geschwängert vom Geruch nach Talg und Jasmin. In nächsten Augenblick fand er sich bei den Tempelmeistern wieder, wie er an einer ihrer Trainingseinheiten teilnahm, in denen sein frisch verheilter Körper mit Staken aus Bambus und stumpfen Holzwaffen traktiert wurde; ebenso jene mentalen Herausforderungen, in denen er danach strebte, allein durch den bloßen Willen körperliche Überlegenheit zu erlangen. Zu guter Letzt war da noch der Abschluss des Ganzen: Das Duell mit dem Schneemonster, in welchem er seinen Körper inmitten der Arena zuerst in Luft auflöste, um sogleich zurückzukehren, körperlich und mental völlig wiederhergestellt, und – unglaublicherweise – so die Bestie zu besiegen.

      All seine Erinnerungen an die Vorkommnisse der letzten Zeit waren im Schlaf wieder und wieder in einer


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