GEFAHR IN DER TIEFE. Jonathan Green
»Ist das nicht wunderschön?«, flüsterte Glenda und folgte Ulysses’ Blick durch das gehärtete Glas.
»Unglaublich«, murmelte ihr Begleiter gedankenverloren, »dass wir beim Abtauchen des Schiffes hier herumlaufen können, ohne Angst davor haben zu müssen, zu ertrinken.«
Ulysses wurde zwischen die Rippen gestupst. »Ich meine die Sterne«, sagte sie.
»Oh, natürlich … wundervoll.«
»Haben Sie jemals zuvor die Sternenbilder in diesen Breiten gesehen?«, fragte eine akzentuierte männliche Stimme.
Der Reiseschriftsteller Thor Haugland lehnte gegen die Reling. Die Glaskuppel befand sich einen knappen Meter vom Rand des Decks entfernt, um einen spektakulären Blick auf das Meer zu bieten, während das Schiff sank.
»Oh ja«, antwortete Ulysses.
»Sie sind also reiseerfahren?«, hakte der Schriftsteller nach.
»Ach, Sie wissen doch, wie das ist. Ich komme etwas herum. Hauptsächlich beruflich.«
»Und Sie, Miss Finch?«
»Oh nein, nicht wirklich. Ein bisschen über den Kontinent, hauptsächlich Europa. Paris, Cannes, Mailand; ebenfalls beruflich«, brachte sie nervös hervor. »Aber dies hier ist das erste Mal für mich. Ich war noch nie zuvor an Bord eines Kreuzfahrtschiffes.«
»Dann ist es für uns beide das erste Mal«, gab Ulysses zu.
»Wenn Sie das hier schon als spektakulär betrachten …«, Haugland zeigte auf die Streuung der Milchstraße über ihnen, »… dann sollten Sie mal die Polarlichter meines Heimatlandes sehen, die funkelnden Nordlichter. Hammerfest liegt innerhalb des nördlichen Polarkreises, weit im Norden Norwegens.«
»Ah, nirgends ist es so schön wie zu Hause, oder, Haugland?«, sagte Ulysses mit einem Lächeln.
»Je mehr man reist, umso mehr Wahrheit steckt in diesem einen Satz, Mr. Quicksilver«, sagte der Norweger, strich sich über den sauber geschnittenen Ziegenbart und richtete seinen Blick über das dunkle Meer zum Horizont, als ob er dort seine Heimat entdecken könnte. »Aber nur in der Erinnerung. Zurückzukehren würde die perfekte Illusion zerstören. So, als ob man aus einem wundervollen Traum erwacht. Und wo wären wir ohne unsere Träume?«
»Zu Hause?«, schlug Ulysses vor. Glenda kicherte und stupste ihn erneut in die Rippen.
Aus den auf der Promenade verteilten Lautsprechern drang das Geheul von Sirenen. Die Neptune war bereit zum Abtauchen.
Ohne seine Geschwindigkeit zu reduzieren, pflügte der Luxusliner durch den weißen Schaum über dem nachtschwarzen Meeresspiegel. Ulysses und Glenda traten zu Haugland an die Reling und blickten auf das wirbelnde Wasser neben dem Schiff hinab. Sie beobachteten, wie die Neptune zu sinken begann. Von ihrem Aussichtspunkt wirkte es so, als ob der Meeresspiegel steigen und auf seinem Weg die unteren Decks verschlingen würde. Bullaugen und abgedichtete Luken wurden verschluckt.
Die Crew flutete die Ballasttanks. Der Luxusliner schob sich unter die Wellen und wirkte dabei dennoch so, als ob er weiterhin auf der Meeresoberfläche reiten und nicht darunter gleiten würde.
Glenda keuchte. Ulysses beobachtete ihre begeisterte Miene, gespannt mit kindlichem Erstaunen, und folgte ihrem Blick durch die Glaskuppel.
Die Wellen schlugen nun gegen den Schutzschild der Promenade. Andere Abendspaziergänger hatten ebenfalls innegehalten, um das Spektakel zu beobachten. Die versilberte dunkle Linie des Horizonts verschwand hinter den höherschlagenden Wellen. Unterseeische Dunkelheit umschloss das Schiff von beiden Seiten. Nur noch das Leuchten der Sterne am wolkenlosen Himmel war durch das klare Glas des Promenadendachs zu sehen. Dann ergoss sich das Meer von allen Seiten und der ständig schrumpfende Kreis des Himmels war mit einem Mal vollständig verschwunden. Der letzte Teil des Schiffes, welcher noch über den Wellen thronte, war der geschützte Schornstein.
Glenda ließ ihren, wie Ulysses vermutete, lange angehaltenen Atem entweichen.
»Das ist absolut unglaublich.« Ihre Stimme war nur ein Flüstern.
»Ja, genauso würde ich es wohl auch sagen«, stimmte Ulysses ihr zu.
Die Lichter des Schiffs färbten die Unterseite der Wellen über ihnen für einen Moment himmelblau.
Ulysses hörte leicht knackende Geräusche, als der Wasserdruck auf die Aufbauten der Neptune stieg. Es sah allerdings nicht danach aus, als ob etwas Unerwartetes passieren würde. Im extra verstärkten Glas waren keine Risse zu sehen. Die Kuppel hielt stand.
Natürlich hält sie stand, schalt sich Ulysses selbst. Er hätte sich nicht als Mensch eingeschätzt, der immer und überall mit dem Schlimmsten rechnete. Aber seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, jederzeit wachsam zu sein. Er glaubte, dass sich an Bord nur wenige besorgte Menschen finden würden, wenn man bedachte, dass sich heutzutage ganze Städte auf dem Meeresgrund befanden und dort dem extremen Wasserdruck von Trillionen Tonnen standhielten.
»Schauen Sie dort!«, rief Glenda plötzlich. Begeistert drückte sie Ulysses Arm und zeigte auf eine Stelle hinter dem Glas.
Lichter erschienen in der das Schiff umgebenden Dunkelheit. Beim Tauchgang abgelassene silberne Luftblasen rauschten vorbei. Eine biolumineszierende grüne Suppe aus Plankton, das lila- und orangefarbene kräuselnde Licht von durchsichtigen Tintenfischen und die schwankenden blauen Laternenköder nachtaktiver Unterwasserraubtiere wurden sichtbar.
»Willkommen in der Wasserwelt«, verkündete Ulysses. »Pacifica, wir kommen.«
Das Geräusch kindlicher Schritte erklang auf den Gitterwegen und wurde von den gekrümmten Wänden der Gänge zurückgeworfen. Tränen strömten aus ihren Augen und obwohl diese die Sicht beeinträchtigten, wusste sie, wohin sie ging. Sie kannte diesen Platz so gut wie ihren Handrücken – eigentlich sogar besser.
In der Tat kannte sie ihn besser als alle anderen. Alle anderen an Bord waren erwachsen. Und Erwachsene spielten nicht. Nur wenn man Verstecken spielt, geheime Höhlen baut und den Erwachsenen in ihren weißen Kitteln und Overalls bei ihrer geheimen Arbeit hinterherspioniert, findet man jeden noch so kleinen Schleichweg und versteckten Belüftungskanal und alle anderen ungeahnten Versteckmöglichkeiten.
Geräusche von Tod und Zerstörung verfolgten sie durch den gebogenen Korridor. Sie hörte ein wimmerndes Stöhnen zwischen schluchzendem Schnappen nach Luft und brauchte einen Moment, bis sie bemerkte, dass sie selbst diese Geräusche machte. In einem Versuch, den ängstlichen kindischen Lärm zu beenden, schluckte sie ein Schluchzen hinunter.
Die Tränen flossen weiter und tropften auf das Gitter unter ihren genagelten Schuhen. Sie vermischten sich mit dem Schmutz und dem Blut auf ihrem Gesicht. Auch ihr Kleidchen war schmutzig und zerrissen. Sie war knapp davongekommen. Madeleine musste sie zurücklassen und jetzt war keine Zeit mehr, um zurückzugehen. Als sie an Madeleine dachte, einsam und verlassen, konnte sie ein Aufheulen nicht unterdrücken. Ihre Emotionen ergossen sich in einem ungebremsten Jammern aus Trauer und Angst. Seit dem Verlust ihrer Mutter hatte sie nicht mehr so geweint. Nun hatte sie Madeleine verloren, ihre liebe Madeleine. Und ihren Vater gleich mit.
Sie stolperte, als sich eine Schuhspitze in dem Gitterweg verfing, und fiel auf ihre Hände und Knie. Dabei schürfte sie sich die Haut ihrer Handflächen auf. Blut floss. Durch den Schock über den Sturz stoppte für einen Moment ihr Weinen und ließ sie um ihre Kontrolle kämpfen.
Sie versuchte, sich selbst zu beruhigen. Ihre innere Stimme, bei welcher sie sich gerne vorstellte, dass es die Stimme ihrer Mutter sei, sagte ihr, dass sie aufhören sollte, ein dummes Mädchen zu sein. Hör auf zu weinen! Das Weinen wird dir auch nicht weiterhelfen. Was würde dein Vater dazu sagen?
Während sie den Flur weiter entlang rannte, sah sie in ihren Gedanken das Gesicht ihres Vaters. Der hohläugige erschöpfte Blick voller Panik. Der schreiende Mund mit den Speichelfäden an seinen Lippen. Über das Brüllen und Krachen, der hinter ihr zusammenbrechenden Konstruktion, hörte sie seine letzten Worte, die er je zu ihr sprechen würde: »Lauf, Marie!