GEFAHR IN DER TIEFE. Jonathan Green
»Nimm dir also Zeit, Nimrod. Kein Grund, sich zurückzuhalten. Ich bin mir sicher, dass wir ganz gut ohne dich auskommen werden. Ich meine, was für Probleme sollten wir hier schon bekommen?«
»Dann wünsche ich Ihnen und Miss Finch einen guten Tag.«
»Guten Tag, Mr. Nimrod.«
»Wir sehen uns später, alter Junge.«
»Dieser Ort ist wirklich überwältigend!«, gab Glenda mit einem Ausdruck kindlichen Staunens auf dem Gesicht zu. Ulysses musste sich eingestehen, dass sie ziemlich reizend war. Vor allem für jemanden, den man für seinen täglichen Broterwerb eher als zynischen Schmierfink eingeschätzt hatte. Sie mochte vielleicht die Klatschkolumne der Times füllen, aber sie schrieb lediglich über eine Welt, welche sie durch die Augen anderer sah. Bis heute war sie nie selbst Teil dieser Dinge gewesen.
Der welterfahrene Abenteurer, dem manche nachsagten, er wäre mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden und welcher alle möglichen Wunder der Welt bereits gesehen hatte, musste seiner vor Ehrfurcht erstarrten Begleiterin wieder einmal zustimmen.
Nachdem die Stadt auf der Spitze eines toten Riffs erbaut und das Meerwasser hinausgepumpt worden war, trat der Park auf dem Meeresboden zutage: die Skelette von Millionen korallener Lebensformen. Vielleicht war dieser farbenfrohe Knochengarten aber auch von irgendwoher hierher verpflanzt und sorgfältig auf dem Felsvorsprung arrangiert worden. Das Endergebnis jedenfalls war eine Pracht.
Der von der See geschliffene und durch Erosionen von Schalentieren gezeichnete Fels hatte das Format einer Grotte. Der Stein war durchzogen von Löchern, Höhlen und kleinen Tunneln.
Größere höhlenartige Strukturen waren zwischen blumenartigen Wölbungen aus purpurnen, bernsteinfarbenen und rosaroten Zweigen trockener toter Korallen und anderen natürlichen Höhlen, vorsichtig in den Stein gemeißelt worden. Künstlich angelegte Wasserfälle plätscherten zwischen den Felsen. Das Plätschern des Wassers war unterhalb der vielen Brücken und durch die künstlich angelegten Seen stets gegenwärtig. Anders als in allen öffentlichen Gärten, welche Ulysses vormals besucht hatte, bestanden sämtliche Kaskaden aus Salzwasser. Tintenfische und andere farbenfrohe Oktopoden jagten eingepfercht in den gefluteten Höhlen und gestalteten Strömungen zwischen den wehenden Wedeln von Seeanemonen und Seewürmern hindurch, während Aale mit Leopardenmuster aus ihren schattigen Höhlen hervorlugten. Seesterne klebten an den überspülten Steinen. Azurblaue Seegurken pendelten auf dem Grund. Krustentiere zupften kleine Häppchen aus dem Wasser, mit welchen sie von Spaziergängern gefüttert wurden. Papageienfische kreuzten in Schwärmen zwischen Büscheln aus Seegras und von Schnecken besetzten Felsen.
»So, und wohin jetzt? Was möchten Sie sich als Nächstes ansehen?«, fragte Ulysses mit dem Gefühl, dass ihr Schlendern ein neues Ziel benötigte.
»Oh, wir haben Tritons Springbrunnen noch nicht gesehen, oder?«, schlug Glenda erfreut vor.
»Nein, haben wir nicht. Da geht’s lang.« Ulysses zeigte mit seinem Blutsteinstock in die Richtung.
Das zwanglose Paar umrundete einen großen Teich. Dort war ein Parkpfleger zur Freude weiterer Besucher gerade damit beschäftigt, eine Gruppe pinkfarbener Spinnenkrebse zu füttern.
»Da ist der alte Jonah Carcharodon!«, rief Glenda freudig aus. »Mr. Carcharodon! Huhu, hier drüben!«
Bevor Ulysses sie stoppen konnte, warf sie jeglichen Anstand über Bord und winkte wild mit den Armen, während sie zum Schiffsmagnat hinüberrief. Warum hatte ihn sein stets präsenter sechster Sinn vor einem solch peinlichen sozialen Faux Pas nicht gewarnt?
Carcharodon wurde von seiner immer bereiten persönlichen Assistentin in einem gemächlichen Tempo durch die Korallengärten geschoben. Beide schienen in ein tiefes Gespräch versunken zu sein. Zumindest, bis sowohl Carcharodon als auch Miss Celeste auf sie aufmerksam wurden. Ulysses entging der genervte Blick des Mannes nicht, bevor dessen Kameralächeln – seiner öffentlichen Persönlichkeit geschuldet – zurückkehrte. Miss Celeste dagegen richtete ihren schüchternen Blick in der Hoffnung, ihr frisierter Pony könnte sie verstecken, zu Boden.
Miss Celeste faszinierte Ulysses. Sie war unzweifelhaft attraktiv, stand sich durch ihre erdrückende Schüchternheit aber selbst im Weg. Sie arbeitete für einen der reichsten und mächtigsten Männer der Welt und war dennoch nicht imstande, daraus Selbstsicherheit zu ziehen. Ulysses bemerkte, dass sie eine tragbare Babbage-Einheit in einer Schultertasche mit sich trug. Anscheinend war sie ständig im Dienst. Genau wie ihr Arbeitgeber.
Glenda steuerte Ulysses durch die Menschenmenge in Richtung des an den Rollstuhl gebundenen Milliardärs. Der arme verlorene Mann, dachte Ulysses. Er kann nicht eigenständig weggehen, selbst wenn er wollte.
»Mr. Carcharodon«, strömte es aus Glenda hervor, während sie dem alten Mann enthusiastisch die Hand schüttelte, »so verbringt ein Multi-Milliardär also seinen Nachmittag.«
»Was? Oh, ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen. Ich nehme es zumindest an.«
»Sind sie nicht wunderschön?«
»Was?«, brauste der Schiffsmagnat auf. Es war offensichtlich, dass er der Zeitungsreporterin nicht ganz folgen konnte.
»Na, die Korallengärten natürlich«, stellte sie mit einem amüsierten Gesichtsausdruck und spielerisch tadelndem Ton klar.
»Wenn ich euch beide allein lassen soll …«, flüsterte Ulysses in Glendas Ohr.
»Oh, Mr. Quicksilver, Sie sind ja so lustig«, flötete seine Begleiterin. Miss Celeste schenkte ihr einen giftigen Blick.
Ulysses fühlte den altbekannten Stich am hinteren Teil seines Gehirns. Aufmerksam blickte er sich um. Die Menge um sie herum war ziemlich dicht, aber er konnte keine Gefahr ausfindig machen. Anscheinend handelte es sich lediglich um einen Anflug von ihm bislang unbekannter Klaustrophobie. Vielleicht war es auch ein Hauch von Eifersucht. Er sollte wirklich wählerischer sein, anstatt immer wieder an Frauen mit einer gesunden Portion Selbstsucht zu geraten. Vielleicht war dies besser sein letzter Ausflug mit Miss Glenda Finch.
»Meine Güte!«, kreischte Miss Celeste plötzlich. Ihr Aufschrei überraschte alle.
Unmittelbar danach stürzte jemand an Ulysses vorbei. Instinktiv wollte er eine Hand vorschnellen lassen. Leider wurde diese dabei durch den Umstand gehindert, dass sie sich am selben Arm befand, an welchem Glenda hing. Er sah einen grobgekleideten Kerl, welcher den Kopf gesenkt hielt und sich sichtlich bemühte, die Menschenmenge hinter sich zu lassen.
»Meine Tasche!«, schrie Miss Celeste. »Sie wurde gestohlen. Jemand hat meine Tasche gestohlen!«
Und die Babbage-Einheit, dachte Ulysses, während er seinen Instinkten freien Lauf ließ und sich aus Glendas Umklammerung wand. Er schob sich durch die unbewegliche Menge aus Passanten, welche neugierig stehengeblieben waren, um zu sehen, was die Aufregung sollte.
»He!«, rief Ulysses dem Mann hinterher. »Stopp, du Dieb! Haltet den Dieb, um Himmels willen!«
Die Tasche von Miss Celeste fest in einer Hand, stürmte der Dieb in Richtung weniger überfüllter Wege zwischen korallenbewehrten Felsen. Ulysses folgte ihm, so schnell er konnte. Er fühlte das Adrenalin durch seinen Körper rauschen. Die alte Kampf-oder-Flucht-Reaktion tat ihr Übriges dazu. Die Jagd war eröffnet.
Auch bei dieser Geschwindigkeit, während die Nebennieren ihre Sekrete in seinen Blutkreislauf pumpten und sein Herz raste, fand Ulysses genug Zeit für den Gedanken, dass wirklich jede Stadt, egal wo sie auch lag oder wie idyllisch sie wirken mochte, ihre eigene kriminelle Unterschicht besaß. Und natürlich wusste Ulysses bereits alles über die Schattenseiten des Unterwasserparadieses Pacifica.
Er rannte weiter und rief erneut um Hilfe, während er sich durch Gruppen überraschter Promenadengäste schlängelte. Mehrere Touristen riefen überrascht auf, als er auf seiner Jagd nach dem Dieb an ihnen vorbeistürmte. Das lag allerdings weniger an Ulysses’ schroffer Art und Weise der Verfolgung, sondern eher grundsätzlich an seiner Gegenwart. Sein Prominenten-Status war wirklich