Dr. Daniel Staffel 1 – Arztroman. Marie Francoise
Er schwieg einen Moment, dann fuhr er fort: »Und wenn sie sich gar zu einsam fühlt, dann ruft sie bei mir in der Praxis an und behauptet, sie hätte starke Unterleibsschmerzen und könnte nicht kommen.«
Irene lächelte. »Und du fährst sofort zu ihr, auch wenn du vor lauter Arbeit nicht mehr aus den Augen sehen kannst.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, du bist der einzige Frauenarzt in Deutschland, der Hausbesuche macht.«
»Ach komm, übertreib nicht.« Dr. Daniel warf einen raschen Blick auf die Uhr, dann leerte er seinen Teller und stand auf. »Also, ich muß los. Bis später.«
Und noch ehe Irene etwas erwidern konnte, war er schon draußen.
»Er arbeitet sich noch mal zu Tode«, murmelte sie.
*
Anna Deichmann saß in ihrem Wohnzimmer auf dem Sofa und starrte trübsinnig vor sich hin. Vor einer halben Stunde hatte sie sich aufgerafft und das Fenster geöffnet, weil es im Zimmer so stickig gewesen war. Jetzt strömte warme Augustluft herein, die Sonne lachte, und die Vögel zwitscherten um die Wette, doch Anna nahm das alles nicht wahr. In ihrem Herzen herrschte trostlose Einsamkeit.
Das Klingeln an der Tür schreckte sie auf.
»Es ist offen!« rief sie hinaus, und als gleich darauf Dr. Daniel eintrat, huschte ein Lächeln über ihr Gesicht.
»Herr Doktor, schön, daß Sie gleich Zeit für mich gefunden haben«, erklärte sie, während sie ihm die Hand reichte.
Dr. Daniel ergriff sie voller Herzlichkeit. »Das ist doch selbstverständlich, Frau Deichmann.« Er nahm auf einem der gemütlichen Sessel Platz. »Nun, wie fühlen Sie sich?«
»Schlecht, Herr Doktor«, behauptete Anna. »Sonst hätte ich Sie ganz bestimmt nicht belästigt.«
»Sie belästigen mich doch niemals, Frau Deichmann.«, verwahrte sich Dr. Daniel.
Wieder huschte ein Lächeln über das verhärmte Gesicht der Frau, doch dann wurde sie ernst.
»Die Schmerzen werden immer schlimmer«, behauptete sie. »Ich kann nachts nicht mehr schlafen, und tagsüber weiß ich nicht, wie ich mich noch auf den Beinen halten soll. Herr Doktor, glauben Sie, daß ich operiert werden muß?«
Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, Frau Deichmann, bestimmt nicht.« Er stand auf. »Machen Sie sich bitte frei, und dann legen Sie sich ganz entspannt auf das Sofa. Ich werde Sie untersuchen.«
Anna gehorchte. Sehr gewissenhaft tastete Dr. Daniel Gebärmutter und Eierstöcke ab, aber wie jedesmal ergab sich kein Befund, obwohl Anna Deichmann während der Untersuchung beständig vor sich hin jammerte.
»Sie können sich wieder anziehen, Frau Deichmann«, erklärte Dr. Daniel, während er ins Bad hinausging, um sich die Hände zu waschen. Er kannte sich hier ja schon bestens aus.
»Herr Doktor, sagen Sie mir bitte die Wahrheit«, verlangte Anna und strich sich dabei mit einer fahrigen Handbewegung ein paar graue Strähnchen zurück, die ihr in die Stirn gefallen waren. »Bin ich sehr krank?«
Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, Frau Deichmann, Sie sind kerngesund, das kann ich Ihnen versichern.«
»Aber… das kann nicht sein. Die Schmerzen sind wirklich unerträglich«, behauptete sie, konnte den Arzt dabei jedoch nicht ansehen.
»Und diese Schmerzen kommen immer, wenn Sie sich sehr allein fühlen, nicht wahr?« meinte Dr. Daniel in sanftem Ton. Er wollte die einsame Frau keinesfalls verletzen. Dazu war sie ihm viel zu sympathisch.
Anna Deichmann schluckte, dann wandte sie das Gesicht ab und brach in Tränen aus.
»Es tut wirklich weh«, brachte sie unter Schluchzen hervor.
Dr. Daniel griff nach ihrer rechten Hand und hielt sie fest.
»Das glaube ich Ihnen, Frau Deichmann«, meinte er. »Es müssen sogar ganz schreckliche Schmerzen sein, aber nicht im Unterleib, sondern ein Stückchen weiter oben. Das Herz tut Ihnen weh, habe ich recht?«
Anna zögerte, dann nickte sie. »Es ist…« Sie zuckte hilflos die Schultern. »Ich bin so allein…, keiner braucht mich…«
Dr. Daniel schielte unauffällig zu seiner Uhr. In einer Viertelstunde würde die Nachmittagssprechstunde beginnen, aber er konnte Anna Deichmann jetzt nicht allein lassen.
Mit einer sanften Geste streichelte er über ihre zitternde Hand.
»Ich würde Ihnen so gern helfen, Frau Deichmann«, erklärte er. »Aber ich weiß nicht, wie. Das einzige, was ich Ihnen anbieten kann, ist, daß Sie mich anrufen, wenn Sie sich gar zu einsam fühlen – auch am Wochenende. Ich werde mir immer für Sie Zeit nehmen, das verspreche ich Ihnen.«
In den gütigen grauen Augen der Frau leuchtete es auf.
»Sie sind ein guter Mensch, Herr Dr. Daniel«, meinte sie, »und ich bin froh, daß es Sie gibt.«
*
Ganz im stillen hatten Leandra Krenn und Christian Schütz geheiratet. Und obwohl Leandra immer wieder von leichten Schwächeanfällen geplagt wurde, fühlte sie sich an Christians Seite wohler als in der Klinik.
Überhaupt versuchte sie, sowohl den Aufenthalt im Krankenhaus als auch ihre schreckliche Krankheit zu vergessen und gab sich Mühe, ihr noch verbleibendes Leben zu genießen. Einzig den Rat des Professors, Dr. Daniel aufzusuchen, wollte sie beherzigen. Schließlich wollte sie ja um jeden Preis noch ein Kind bekommen.
Unmittelbar nach der Hochzeit machten sich Christian und Leandra auf den Weg in das kleine Vorgebirgsdorf Steinhausen. Im Gasthof »Zum Goldenen Löwen« bekamen sie ein hübsches Doppelzimmer, und noch am selben Tag rief Leandra in der Praxis des Arztes an und vereinbarte einen Termin.
»Stell dir vor, ich kann gleich morgen früh kommen«, erklärte Leandra, während sie den Hörer auflegte, dann ließ sie sich schwer auf den danebenstehenden Sessel fallen. »Wenn ich nur nicht immer so verdammt müde wäre.«
Besorgt sah Christian sie an. »Vielleicht war deine Entscheidung doch falsch. In der Thiersch-Klinik…«
»Davon will ich nichts mehr hören«, fiel Leandra ihm ins Wort. »Wir waren uns einig, daß wir unser restliches gemeinsames Leben genießen wollen – auch wenn es nur sehr kurz sein wird.«
»Bist du sicher, daß du das kannst?« In Christians Stimme lag eine unüberhörbare Bitterkeit, dann seufzte er. »Ach, Liebes, ich bin todunglücklich. Ich will dich einfach nicht hergeben und…« Er senkte den Kopf. »Ich wünschte, du hättest zumindest versucht, dein Leben zu retten.«
Mühsam erhob sich Leandra, kam auf ihn zu und legte ihre Arme um seinen Nacken.
»Es gibt keine Rettung, Chris«, flüsterte sie. »Es wäre nur ein Hinauszögern gewesen. Keiner von den Ärzten hat das zugegeben, aber ich habe es gespürt.« Der Blick ihrer blauen Augen war zwingend. »Chris, ich will dieses Baby haben. Ich will, daß etwas von mir hierbleibt, wenn ich gehen muß.«
Lange sah Christian sie an.
»Ich bewundere dich für deinen Mut«, erklärte er dann leise.
Doch Leandra schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht mutig, Chris – ganz im Gegenteil. Ich habe verdammte Angst. Ich habe Angst vor den Schmerzen und Angst vor dem Tod. Aber ich zwinge mich, nicht daran zu denken. Ich will ein Baby, aber das kann ich nicht haben, wenn ich in der Klinik bin. Dort hätten sie mich mit Medikamenten vollgestopft, bis ich gestorben wäre. Nein, Chris, ich habe meinen Entschluß noch nicht bereut, und ich werde es niemals tun, das schwöre ich dir.«
*
Am nächsten Morgen, gleich nach dem Frühstück, machten sich Leandra und Christian auf den Weg zu Dr. Daniel. Die Wirtin des »Goldenen Löwen« hatte ihnen erklärt, wie sie fahren mußten, und tatsächlich fanden sie die Villa, die ein wenig außerhalb des Ortes am Hang stand, auf Anhieb.
»Mein lieber Mann, das ist ja eine feudale Hütte«, urteilte