Wir Seezigeuner (Abenteuer-Klassiker). Robert Kraft
haben Sie doch gehört?«
Ja, von der hatte ich schon genug gehört und gelesen. Da muß ich aber erst einiges einschalten.
Es ist alles schon einmal dagewesen! Auch unsere modernsten Riesendampfer haben vor mehr denn vierzig Jahren schon einmal ein Vorbild gehabt.
Im Jahre 1860 wurde in England die ›Great Eastern‹ gebaut oder vielmehr fertig abgeliefert, ein Dampfer, der damals zu den Weltwundern gerechnet wurde, und das mit Recht.
Die Länge vom Stern bis zum Steven betrug 681 Fuß oder rund 230 Meter, die mittlere Breite fünfundzwanzig die Höhe vom Kiel bis zum Deck achtzehn Meter. Man suche sich ein Bild zu machen!
Der Dampfer war vollständig aus dreiviertelzölligen Eisenplatten konstruiert, und zwar mit doppelten Wandungen in einem Zwischenraum von zwei Fuß zehn Zoll, das Innere war in zweiundzwanzig wasserdichte Abteilungen geteilt. Bei einem eigenen Gewicht von 8000 Tonnen konnte er 30 000 Tonnen tragen, war eingerichtet zur Aufnahme von 4000 Passagieren.
Kann man denn von einem unserer modernsten Riesendampfer mehr verlangen? Und man muß nur die ausführlichen Beschreibungen lesen, mit was allem die ›Great Eastern‹ ausgestattet gewesen ist!
Mit der Maschinerie freilich haperte es etwas – das heißt nach unseren heutigen Begriffen. Als Triebkraft dienten sowohl zwei Schaufelräder, als eine Propellerschraube, letztere von vierundzwanzig Fuß oder sieben Metern Durchmesser, zu deren Gesamtantrieb acht Maschinen von zusammen 2500 Pferdekräften dienten.
Das ist nun freilich etwas wenig. Heute wird ein solcher Koloß mit zehnmal soviel Pferdekräften ausgestattet. Aber das waren eben frühere Verhältnisse. Ueber sechs Knoten in der Stunde hat es die ›Great Eastern‹ nie gebracht, und damit war man damals zufrieden.
Trotzdem bewährte sie sich ausgezeichnet. Aber sie wurde vom Unglück verfolgt, lief mehrmals auf; der große Koloß konnte stets nur mit großer Mühe wieder flott gemacht werden, man verlor das Zutrauen. Die größten Dienste leistete sie beim Legen des ersten transatlantischen Kabels. Ohne die ›Great Eastern‹ wäre das damals gar nicht möglich gewesen.
Dann erlitt sie im Hafen von New-York eine schwere Havarie, man gab sie auf, sie blieb dort liegen, diente einige Jahre als schwimmendes Vergnügungsetablissement.
Ihr ferneres Schicksal ist mir unbekannt. Ich bin dann der Welt ganz entfremdet worden, wie der Leser noch erfahren wird.
Aber, wohlverstanden, die ›Great Eastern‹ wurde erst im Jahre 1860 fertig zur Probefahrt abgeliefert, vielleicht im Juni, und heute schrieben wir noch den 31. Dezember 1859!
Damals berichteten nur die Zeitungen über sie, von den Fortschritten im Bau dieses Ungetüms, immer die größten Zweifel in seine einstige Gebrauchsfähigkeit setzend.
Dies alles dürfte dem belesenen Publikum so ziemlich bekannt sein. Oder ist das gar nicht so sehr der Fall?
Dann darf man sich nicht wundern, daß noch weniger bekannt ist, wie auch schon diese ›Great Eastern‹ eine Vorgängerin gehabt hat, mit ganz demselben Namen. Die Welt vergißt eben schnell.
Dieselbe Schiffswerft hatte bereits im Jahre 1858, also ein Jahr vor meiner damaligen Zeit, solch einen Riesendampfer gebaut und abgeliefert, von ganz denselben Dimensionen, das war also die ursprüngliche ›Great Eastern‹ gewesen — aber die bestellende Schiffskompanie hatte die Abnahme des Dampfers verweigert.
Er sollte verbaut gewesen sein. Tatsächlich betrug die Tragkraft trotz derselben Dimensionen nur 26 000 Tonnen, da mußte irgendein kolossaler Irrtum untergelaufen sein, und die 2500 Pferdekräfte entwickelten sogar nur fünf Knoten Geschwindigkeit.
Die Maschinen wurden wieder herausgenommen, die ganze innere Einrichtung – dies alles wurde für die neue ›Great Eastern‹ verwendet. Ueber den Verbleib des so ausgeweideten ersten Riesendampfers ist man ganz im unklaren geblieben. Eine Schiffsreederei kaufte ihn wohl, verschacherte ihn aber gleich wieder weiter, dann erstand ihn wohl ein Eisenhändler – ins alte Eisen!
In Aktion ist er wenigstens nie getreten. Es wurde damals viel darüber von den Zeitungen phantasiert. Ich hatte einmal gelesen, die chinesische Regierung hätte ihn gekauft, als Flußwohnung für Fischer, weil doch in China in den bevölkerten Distrikten überhaupt viele Menschen ganz auf dem Wasser wohnen — ich hielt es für ein Märchen, für eine Zeitungsente. Für solche phantastische Unternehmungen hat das konservative China doch niemals Sinn gehabt.
Außerdem richtete sich damals die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf den drohenden Konflikt zwischen den amerikanischen Nord- und Südstaaten, der zum Bürgerkrieg führte – da hatte man kein Interesse für solch einen alten, ausrangierten Kasten, der doch einen lebendigen Nachfolger bekommen hatte. – – –
»Nun, diese verpfuschte ›Great Eastern‹ ist jetzt Eigentum dieses Radschputenfürsten.«
»Was Sie nicht sagen!« rief ich erstaunt. »Auf der fährt er jetzt in der Welt umher?«
»Nicht so ganz. Vorläufig liegt er in der Fucusbank mit ihr fest.«
»Eingesponnen?«
»Nein, das nicht.«
»Hat er denn Maschinen?«
»Alles. Aber die geeignete Mannschaft fehlt ihm, ein führender Kapitän, und … dazu hat Maharadscha Ghasna Sie und Ihre Leute erkoren.«
Ich war ob dieser Erklärung so überrascht, daß ich gar nicht an die Frage dachte, wie denn der Riesenkoloß dorthingekommen sei, woher er die Maschinen habe usw. usw.
»Mich?!«
»Ja.«
»Ja, wie komme ich dazu?«
»Sie sind lange genug beobachtet worden.«
»Von wem denn?«
»Mein Gott, die Zeitungen berichteten doch genug über die ganze Affäre mit der englischen Lady, dabei spielten Sie doch auch eine große Rolle, so erwachte das Interesse für Sie, und dann hat dieser Radschpute in jedem Hafen seine Spione – aus Gründen, die Sie später erfahren werden – an Bord befinden sich sogar genug Leute, auch Kapitäne und Steuerleute die Sie persönlich kennen — kurz und gut, Sie sind zum Kapitän ausersehen worden. Der Maharadscha wünscht es eben. Um das zu begreifen, dazu müssen Sie erst zu uns an Bord kommen, das geht ja bei uns ganz eigentümlich zu. Dieser Oberbrahmane ist so eine Art von Herrgott, den ich manchmal selber für allwissend halten möchte. Jedenfalls ein großartiger Kerl! Und ich sage Ihnen: das ist etwas für Sie! – Nun, werden Sie die Führung der ›Indianarwa‹ übernehmen?«
»Indianarwa heißt der Dampfer jetzt?«
»Ja. Die Freiheit von Indien. Der ins Exil gegangene Fürst hat sich ein neues, sein eigenes Indien geschaffen. Oder sagen wir: auf diesem Riesendampfer, eine ganze Welt für sich, will er die indische Freiheit wahren. Also auch der verfolgten Lady will er auf seinem schwimmenden Königreiche ein Asyl bieten.«
Simmer erzählte mir am Lagerfeuer viel davon, wie es auf diesem Riesendampfer zuging, jetzt schon, und was dieser unermeßlich reiche Maharadscha noch alles vorhabe.
Ich lauschte wie ein Mäuschen und sperrte, mit Respekt zu sagen, vor Staunen Maul und Nase auf.
Aber was ich jetzt zu hören bekam, davon will ich hier nicht das geringste wiedergeben. Sonst würde ich mich später in der Beschreibung ja wiederholen.
Und außerdem sollte, als ich dann selbst sah und erlebte, alles in den Schatten gestellt werden, was ich hier zu hören bekommen hatte.
Ich hatte dann einen fieberhaften Traum, Simmer hatte mir den Kopf ganz verwirrt, ich träumte mit einer glühenden Phantasie – und selbst dies, was mir der Traumgott vorgaukelte, sollte durch die Wirklichkeit noch immer übertroffen werden! -
Am anderen Morgen beim ersten Sonnenstrahl wurde die Wanderung fortgesetzt.
»Hören Sie auf, hören Sie auf,« hatte ich gesagt, als Simmer wieder von seinem indischen Schiffe anfangen wollte, »ich muß