Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
daß sie immer wie eine neue Person wirkt.«
Herr Winternitz las leise, aber eindringlich, wie innerlich verzehrt. Aus seinem Zyklus ergab sich, daß er geliebt worden war, wie nie ein Mensch vor ihm, aber auch betrogen wie noch keiner, was gewissermaßen metaphysischen Ursachen und keineswegs Mängeln seiner Persönlichkeit zuzuschreiben war. Im letzten Gedicht aber erwies er sich als völlig befreit von seiner Leidenschaft und erklärte sich bereit von nun an alle Freuden zu genießen, die die Welt ihm bieten mochte. Dieses Gedicht hatte vier Strophen, der letzte Vers jeder Strophe begann mit einem »Hei«, und es schloß mit dem Ausruf: »Hei, so jag ich durch die Welt.«
Georg mußte sich gestehen, daß ihm die Vorlesung einen gewissen Eindruck gemacht hatte, und als Winternitz das Heft vor sich hinlegend, mit übergroßen Augen um sich schaute, nickte Georg beifällig und sagte: »Sehr schön.«
Winternitz sah erwartungsvoll auf Heinrich, der ein paar Sekunden schwieg und endlich bemerkte: »Es ist im ganzen sehr interessant… aber warum sagen Sie ›hei‹, wenn ich fragen darf? Es glaubt’s Ihnen ja doch niemand.«
»Wieso?« rief Winternitz.
»Fragen Sie sich doch nur selber aufs Gewissen, ob dieses ›hei‹ ehrlich empfunden ist. Alles übrige, was Sie mir da vorgelesen haben, glaub ich Ihnen. Das heißt, ich glaub es Ihnen in höherm Sinn, obzwar kein Wort davon wahr ist. Ich glaube Ihnen, daß Sie ein fünfzehnjähriges Mädchen verführen, daß Sie sich benehmen wie ein ausgepichter Don Juan, daß Sie das arme Geschöpf in der furchtbarsten Weise verderben, daß es Sie mit einem,… was war er nur…«
»Ein Clown natürlich«, rief Winternitz mit wahnwitzigem Lachen.
»Daß es Sie mit einem Clown betrügt, daß Sie durch dieses Geschöpf in immer dunklere Abenteuer geraten, daß Sie die Geliebte, ja sich selber umbringen wollen, daß Ihnen die Geschichte schließlich egal wird, daß Sie durch die Welt reisen, oder sogar jagen, meinetwegen bis Australien, ja, das alles glaub ich Ihnen, aber daß Sie der Mensch sind ›hei‹ zu rufen, das, lieber Winternitz, das ist einfach ein Schwindel.«
Winternitz verteidigte sich. Er beschwor, daß dieses »hei« aus seinem innersten Wesen hervorgegangen wäre, zum mindesten aus einem gewissen Element seines innersten Wesens. Auf weitere Einwände Heinrichs zog er sich allmählich zurück und erklärte endlich, daß er sich irgendeinmal bis zu jener innern Freiheit durchzuringen hoffe, die ihm gestatten würde »hei« zu rufen.
»Niemals wird diese Zeit kommen«, entgegnete Heinrich bestimmt. »Sie werden vielleicht einmal bis zum epischen oder dramatischen ›hei‹ kommen, das lyrisch subjektive ›hei‹ bleibt Ihnen, bleibt unsereinem, mein lieber Winternitz, doch bis in alle Ewigkeit versagt.«
Winternitz versprach das letzte Gedicht zu ändern, sich überhaupt weiter zu entwickeln und an seiner innern Reinigung zu arbeiten. Er stand auf, wobei seine gestärkte Hemdbrust knackte und ein Knopf aufsprang, reichte Heinrich und Georg eine etwas feuchte Hand und begab sich in den Hintergrund an den Tisch der Literaten. Georg äußerte sich vorsichtig anerkennend zu Heinrich über die Gedichte, die er gehört hatte.
»Er ist mir noch der liebste von der ganzen Gesellschaft, persönlich wenigstens«, sagte Heinrich. »Er weiß doch wenigstens innerlich eine gewisse Distanz zu wahren. Ja. Sie brauchen mich nicht gleich wieder anzusehen, als wenn Sie mich auf einem Anfall von Größenwahn ertappten. Aber ich kann Sie versichern, Georg, von der Sorte Leute«, er streifte den Tisch drüben mit einem flüchtigen Blick, »denen immer ein ›ä soi‹ auf den Lippen schwebt, hab ich nachgerade genug.«
»Was schwebt ihnen auf den Lippen?«
Heinrich lachte. »Sie kennen doch die Geschichte von dem polnischen Juden, der mit einem Unbekannten im Eisenbahnkupee sitzt, sehr manierlich – bis er durch irgendeine Bemerkung des andern darauf kommt, daß der auch ein Jude ist, worauf er sofort mit einem erlösten ›ä soi‹ die Beine auf den Sitz gegenüber ausstreckt.«
»Sehr gut«, sagte Georg.
»Mehr als das«, ergänzte Heinrich streng. »Tief. Tief wie so viele jüdische Anekdoten. Sie schließt einen Blick auf in die Tragikomödie des heutigen Judentums. Sie drückt die ewige Wahrheit aus, daß ein Jude vor dem andern nie wirklichen Respekt hat. Nie. So wenig als Gefangene in Feindesland voreinander wirklichen Respekt haben, besonders hoffnungslose. Neid, Haß, ja manchmal Bewunderung, am Ende sogar Liebe kann zwischen ihnen existieren, Respekt niemals. Denn alle Gefühlsbeziehungen spielen sich in einer Atmosphäre von Intimität ab, sozusagen, in der der Respekt ersticken muß.«
»Wissen Sie, was ich finde?« bemerkte Georg, »daß Sie ein ärgerer Antisemit sind, als die meisten Christen, die ich kenne.«
»Glauben Sie?« Er lachte: »Ein richtiger wohl nicht. Ein richtiger ist ja nur der, der sich im Grunde über die guten Eigenschaften der Juden ärgert und alles dazu tut, um ihre schlechten weiter zu entwickeln. Aber in gewissem Sinne haben Sie schon recht. Ich gestatte mir ja schließlich auch Antiarier zu sein. Jede Rasse als solche ist natürlich widerwärtig. Nur der einzelne vermag es zuweilen, durch persönliche Vorzüge mit den Widerlichkeiten seiner Rasse zu versöhnen. Aber daß ich den Fehlern der Juden gegenüber besonders empfindlich bin, das will ich gar nicht leugnen. Wahrscheinlich liegt es nur daran, daß ich, wir alle, auch wir Juden mein ich, zu dieser Empfindlichkeit systematisch herangezogen worden sind. Von Jugend auf werden wir darauf hingehetzt gerade jüdische Eigenschaften als besonders lächerlich oder widerwärtig zu empfinden, was hinsichtlich der ebenso lächerlichen und widerwärtigen Eigenheiten der andern eben nicht der Fall ist. Ich will es gar nicht verhehlen, – wenn sich ein Jude in meiner Gegenwart ungezogen oder lächerlich benimmt, befällt mich manchmal ein so peinliches Gefühl, daß ich vergehen möchte, in die Erde sinken. Es ist wie eine Art von Schamgefühl, das vielleicht irgendwie mit dem Schamgefühl eines Bruders verwandt ist, vor dem sich seine Schwester entkleidet. Vielleicht ist das Ganze auch nur Egoismus. Es erbittert einen eben, daß man immer wieder für die Fehler von andern mit verantwortlich gemacht wird, daß man für jedes Verbrechen, für jede Geschmacklosigkeit, für jede Unvorsichtigkeit, die sich irgendein Jude auf der Welt zuschulden kommen läßt, mitzubüßen hat. Da wird man dann natürlich leicht ungerecht. Aber das sind Nervositäten, Empfindlichkeiten, weiter nichts. Da besinnt man sich auch wieder. Das kann man doch nicht Antisemitismus nennen. Aber es gibt schon Juden, die ich wirklich hasse, als Juden hasse. Das sind die, die vor andern und manchmal auch vor sich selber tun, als wenn sie nicht dazu gehörten. Die sich in wohlfeiler und kriecherischer Weise bei ihren Feinden und Verächtern anzubieten suchen und sich auf diese Art von dem ewigen Fluch loszukaufen glauben, der auf ihnen lastet, oder von dem, was sie eben als Fluch empfinden. Das sind übrigens beinahe immer solche Juden, die im Gefühl ihrer eigenen höchst persönlichen Schäbigkeit herumgehen und dafür unbewußt oder bewußt ihre Rasse verantwortlich machen möchten. Natürlich hilfts ihnen nicht das geringste. Was hat den Juden überhaupt jemals geholfen. Den guten und den schlimmen. Ich meine natürlich«, setzte er hastig hinzu, »denen, die so irgend etwas wie eine äußerliche oder innerliche Hilfe brauchen.« Und in einem absichtlich leichten Tone brach er ab. »Ja mein lieber Georg, die Angelegenheit ist etwas kompliziert, und es ist ganz natürlich, daß allen denen, die nicht direkt mit der Frage zu schaffen haben, das richtige Verständnis für sie abgeht.«
»Na das darf man doch nicht so…«
Heinrich unterbrach ihn gleich. »Man darf schon, lieber Georg. Es ist nun einmal so. Ihr versteht uns nämlich nicht. Manche haben vielleicht eine Ahnung. Aber verstehen!? Nein. Wir verstehen euch jedenfalls viel besser, als ihr uns. Wenn Sie auch den Kopf schütteln! Es ist ja nicht unser Verdienst. Wir haben es nämlich notwendiger gehabt, euch verstehen zu lernen, als ihr uns. Diese Gabe des Verstehens hat sich ja im Lauf der Zeit bei uns entwickeln müssen… nach den Gesetzen des Daseinskampfes, wenn Sie wollen. Denn sehen Sie, um sich unter Fremden, oder wie ich schon früher sagte, in Feindesland zurechtzufinden, um gegen alle Gefahren, Tücken gerüstet zu sein, die da lauern, dazu gehört natürlich vor allem, daß man seine Feinde so gut kennen lernt als möglich – ihre Tugenden und ihre Schwächen.«
»Also unter Feinden leben Sie? Unter Fremden? Dem Leo Golowski gegenüber wollten Sie das nicht zugestehen. Ich bin übrigens