Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
nickte manchmal, als stimmte sie allem zu. Aber die Züge ihres Antlitzes wurden immer trauriger. Nicht so sehr das, was sie erfahren hatte, drückte auf sie, als vielmehr die Vorstellung, daß sie es so wehrlos über sich ergehen lassen mußte, eine arme Mutter, in kleinbürgerlichen Verhältnissen, die dem vornehmen Verführer machtlos gegenübersaß. Georg, der dies mit Bedauern merkte, suchte einen immer leichteren und liebenswürdigeren Ton. Er rückte näher zu der guten Frau hin, er nahm ihre Hand und behielt sie sekundenlang in der seinen. Anna hatte sich an dem ganzen Gespräch kaum mit einem Worte beteiligt. Als aber Georg sich zum Fortgehen anschickte, erhob sie sich, und zum erstenmal vor der Mutter, als hätte sie nun ihre Verlobung mit ihm gefeiert, bot sie ihm die Lippen zum Kusse. In gehobener Stimmung ging Georg die Treppen hinunter, wie wenn nun eigentlich das schlimmste überstanden wäre. Öfter als früher verbrachte er nun ganze Stunden bei Rosners, mit Anna musizierend, deren Stimme in dieser Zeit merklich an Fülle und Kraft gewann. Das Benehmen der Mutter Georg gegenüber wurde freundlicher, ja, manchmal schien es ihm, als müßte sie sich gegen eine wachsende Sympathie für ihn geradezu wehren. Und es gab einen Abend im Kreise der Familie, an dem Georg zum Nachtmahl blieb, nachher, die Zigarre im Munde, den Anwesenden aus den Meistersingern und Lohengrin vorphantasierte, sich, ganz besonders von seiten Josefs, lebhaften Beifalls erfreuen durfte, und beim Nachhausegehen fast erschrocken merkte, daß er sich so behaglich gefühlt hatte wie in einem neu gewonnenen Heim.
Ein paar Tage später, als er mit Felician beim schwarzen Kaffee saß, brachte ihm der Diener eine Karte, bei deren Empfang er eine leichte Röte aufsteigen fühlte. Felician tat, als hätte er des Bruders Verlegenheit nicht bemerkt, sagte ihm adieu und verließ das Zimmer. In der Tür begegnete er dem alten Rosner, neigte leicht den Kopf zum Gegengruß und sah vorüber. Georg forderte Herrn Rosner, der im Winterrock mit Hut und Regenschirm eingetreten war, zum Sitzen auf und bot ihm eine Zigarre an. Der alte Rosner sagte: »Ich habe eben geraucht«, was Georg irgendwie beruhigte, und nahm Platz, während Georg an den Tisch gelehnt stehen blieb. Dann begann der Alte mit gewohnter Langsamkeit: »Herr Baron werden sich wahrscheinlich denken können, weshalb ich so frei bin zu stören. Ich wollte eigentlich schon am Vormittag vorsprechen, aber ich konnte leider aus dem Bureau nicht abkommen.«
»Vormittag hätten Sie mich nicht zu Hause gefunden, Herr Rosner«, erwiderte Georg verbindlich.
»Nun, umso besser, daß ich den Weg nicht vergeblich gemacht habe. Also meine Frau hat mir nämlich heute morgen… berichtet… was sich ereignet hat.« Er sah zu Boden.
»So«, sagte Georg und nagte an der Oberlippe. »Ich hatte eigentlich selbst die Absicht… Aber wollen Sie nicht den Winterrock ablegen, es ist sehr warm im Zimmer.«
»O, danke, danke, es ist mir durchaus nicht zu warm. Nun, ich war ganz entsetzt, als meine Frau mir diese Mitteilung machte. Jawohl, Herr Baron… Nie hätt ich von Anna gedacht… niemals für möglich gehalten… es ist ja furchtbar…« Er sagte alles in seiner gewohnten eintönigen Weise, nur schüttelte er öfter den Kopf dabei als sonst. Georg mußte immer auf die Glatze mit dem dünnen, gelblichgrauen Haar herunterschauen und empfand nichts als eine öde Gelangweiltheit. »Furchtbar, Herr Rosner, ist die Sache wahrhaftig nicht«, sagte er endlich. »Wenn Sie wüßten, wie sehr ich… wie innig meine Neigung zu Anna ist, so würden Sie gewiß auch fern davon sein, die Sache furchtbar zu finden. Ihre Frau Gemahlin hat Sie ja jedenfalls hinsichtlich unserer Absichten für die nächste Zeit unterrichtet. – Oder irre ich mich?« –
»Durchaus nicht, Herr Baron, seit heute morgen bin ich über alles orientiert. Doch kann ich nicht verschweigen, schon seit einigen Wochen merkte ich, daß etwas im Hause nicht in Ordnung wäre. Es fiel mir insbesondere auf, daß meine Frau sehr erregt und häufig geradezu dem Weinen nahe war.«
»Dem Weinen nahe? – Dazu liegt wahrhaftig kein Grund vor, Herr Rosner; Anna selbst, auf die es doch schließlich vor allem ankommt, befindet sich sehr wohl, hat ihre gewohnte Heiterkeit…«
»Ja, Anna ist allerdings in guter Stimmung und dies, um die Wahrheit zu sagen, bildet gewissermaßen meinen Trost. Aber im übrigen kann ich Ihnen nicht schildern, Herr Baron, wie schwer getroffen… wie, ich möchte sagen… wie aus allen Himmeln gerissen… nie, nie hätte ich geglaubt…«, er konnte nicht weiter, seine Stimme zitterte.
»Ich bin wirklich sehr bekümmert«, sagte Georg, »wenn Sie der Angelegenheit in dieser Weise gegenüberstehen, trotzdem Ihnen doch Ihre Frau Gemahlin jedenfalls alles auseinandergesetzt hat, und die Maßnahmen, die wir für die nächste Zeit getroffen haben, wohl auch Ihre Zustimmung finden dürften. Von einer ferneren Zeit, einer hoffentlich nicht allzufernen, will ich heute lieber noch nicht reden, weil mir Phrasen jeder Art ziemlich zuwider sind. Aber Sie können versichert sein, Herr Rosner, daß ich gewiß nicht vergessen werde, was ich einem Wesen wie Anna… Ja, was ich mir selber schuldig bin.« Er schluckte.
Soweit er zurückdachte, gab es keinen Moment in seinem Leben, in dem er sich selbst so unsympathisch gewesen war. Und nun, wie in Gesprächen von vollkommener Aussichtslosigkeit nicht anders möglich, wiederholte jeder einigemale dasselbe, bis Herr Rosner sich endlich entschuldigte gestört zu haben und sich von Georg verabschiedete, der ihn bis zur Stiege hinausbegleitete. Georg behielt es einige Tage lang nach diesem Besuche wie einen unangenehmen Nachgeschmack in der Seele. Jetzt fehlt nur noch der Bruder, dachte er geärgert und stellte sich unwillkürlich eine Auseinandersetzung vor, in deren Verlauf sich der junge Mann als Rächer der Hausehre aufzuspielen suchte und Georg ihn mit außerordentlich treffenden Worten in seine Schranken verwies. Immerhin fühlte sich Georg, nachdem die Unterredung mit den Eltern Annas überstanden war, wie befreit. Und über den Stunden, die er mit der Geliebten allein in dem friedlichen Zimmer, der Kirche gegenüber verbrachte, lag ein eigenes Gefühl von Behaglichkeit und Sicherheit. Zuweilen schien es ihnen beiden, als stünde die Zeit stille. Wohl brachte Georg zu den Zusammenkünften Reisehandbücher, den Burckhardtschen Cicerone, sogar Fahrpläne mit, und stellte gemeinschaftlich mit Anna allerlei Routen zusammen, aber eigentlich dachte er nicht ernstlich daran, daß all das einmal wahr werden sollte. Was jedoch das Haus anbelangte, in dem das Kind geboren werden sollte, so waren sie beide von der Notwendigkeit durchdrungen, daß es gefunden und gemietet sein mußte, ehe sie Wien verließen. Einmal sah Anna in der Zeitung, die sie sorgfältig daraufhin durchzulesen pflegte, ein Forsthaus angekündigt, hart am Walde, unweit einer Bahnstation, die von Wien in eineinhalb Stunden zu erreichen war. Eines Morgens fuhren sie beide an den bezeichneten Ort – und nahmen die Erinnerung an einen verschneiten, einsamen Holzbau mit Hirschgeweihen über der Tür, an einen alten, betrunkenen Förster, an eine junge, blonde Magd, an eine windesrasche Schlittenfahrt über eine besonnte Winterstraße, an ein unbegreiflich lustiges Mittagessen in einem riesigen Gasthofzimmer und an ein schlecht beleuchtetes, überheiztes Kupee mit nach Hause. Dies war das einzige Mal, daß Georg mit Anna zusammen das Haus suchen ging, das doch schon irgendwo in der Welt stehen und seiner Bestimmung warten mußte… Sonst fuhr er meist allein mit der Bahn oder mit der Tramway in die nahegelegenen Sommerfrischen Umschau halten.
Einmal, an einem mitten in den Winter verirrten Frühlingstag, spazierte Georg durch einen der kleinen, ganz nahe der Stadt gelegenen Orte, die er besonders liebte, wo dorfmäßige Baulichkeiten, bescheidene Landhäuser und elegante Villen sich aneinanderreihten; hatte so ziemlich vergessen, wie ihm das manchmal geschah, warum er hergefahren war, und dachte eben mit Ergriffenheit daran, daß auf den gleichen Wegen wie er vor manchen Jahren Beethoven und Schubert gewandelt waren, als ihm unvermutet Nürnberger entgegentrat. Sie begrüßten einander, lobten den schönen Tag, der so weithinaus ins Freie lockte, und bedauerten höflich, daß man einander so selten begegne, seit Bermann Wien verlassen hatte.
»Haben Sie schon lange nichts von ihm gehört?« fragte Georg.
»Seit er fort ist«, erwiderte Nürnberger, »habe ich nur eine Karte von ihm erhalten. Es ist wohl anzunehmen, daß er mit Ihnen in regerer Korrespondenz steht, als mit mir.«
»Warum ist es anzunehmen?« fragte Georg, durch Nürnbergers Ton wie manchmal etwas geärgert.
»Nun, zum mindesten haben Sie das eine vor mir voraus, den neuern Bekannten für ihn zu bedeuten, ihm also für seine psychologischen Interessen ein anregenderes Problem zu bieten, als ich.«
Aus diesen mit dem üblichen Spott gebrachten