Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


Скачать книгу
Annerl nicht gekannt hat. Er war doch sicher einer der klügsten und vorurteilslosesten Menschen, den man sich denken kann… Und trotzdem zweifeln Sie gewiß nicht daran; daß es auch bei ihm nicht ganz ohne Ruck abgegangen wäre.«

      Georg streckte dem Arzt unwillkürlich die Hand entgegen. Das Unerwartete dieser plötzlichen Mahnung an den geliebten Toten ließ eine so heftige Sehnsucht in ihm aufsteigen, daß er sie nur zu lindern vermochte, indem er von dem Entschwundenen zu reden begann. Auch der Arzt wußte noch von mancher Begegnung mit dem verblichnen Baron zu erzählen, meist zufälligen, flüchtigen auf der Straße, bei Sitzungen der Akademie der Wissenschaften, in Konzerten. Wieder war einer jener Augenblicke, in dem Georg sich dem Dahingeschiedenen gegenüber seltsam schuldvoll erschien und sich im Innern zuschwor, seines Andenkens würdig zu werden.

      »Grüßen Sie das Annerl von mir«, sagte der Arzt beim Abschied zu ihm, »aber von dem ›Ruck‹ erzählen Sie ihr lieber nichts. Sie ist ein sehr feinfühliges Geschöpf, das wissen Sie ja, und jetzt kommt es vor allem darauf an, ihr jede unangenehme Aufregung zu ersparen. Bedenken Sie nur, lieber Baron, es handelt sich jetzt nur um das eine, daß ein gesundes Kind auf die Welt kommt, alles übrige… na, grüßen Sie sie schön von mir, hoffentlich sehen wir uns alle gesund im Sommer wieder.«

      Georg entfernte sich mit dem erhöhten Bewußtsein seiner Verpflichtungen gegenüber dem Wesen, das sich ihm gegeben, und jenem andern, das in wenigen Monaten zum Dasein erwachen sollte. Er dachte zuerst daran, ein Testament zu machen und es bei einem Notar zu hinterlegen. Bei näherer Überlegung aber fand er es richtiger, sich seinem Bruder zu eröffnen, der ihm unter allen Menschen doch auch innerlich am nächsten stand. In der eigentümlichen Befangenheit aber, die dem doch so innigen Verhältnis zwischen den Brüdern eigen war, ließ er Tag um Tag verstreichen, bis endlich Felicians Abreise nach Afrika zu den Jagden ganz nahe bevorstand. In der Nacht vorher, auf dem Weg aus dem Klub nach Hause, teilte Georg seinem Bruder mit, daß er schon in der nächsten Zeit eine lange Reise anzutreten gedenke.

      »So? Auf wie lange willst du denn fort?« fragte Felician.

      Georg hörte im Ton dieser Worte eine gewisse Besorgnis mitklingen und fühlte sich veranlaßt hinzuzusetzen: »Es wird wohl auf Jahre hinaus die letzte größere Reise sein, die ich unternehme. Im Herbst befinde ich mich ja hoffentlich in einer festen Stellung.«

      »Du bist also ganz entschlossen?«

      »Ja, selbstverständlich.«

      »Es freut mich sehr, Georg, aus verschiedenen Gründen, wie du dir denken kannst, daß du nun endlich ernst machen willst. Und im übrigen trifft’s sich auch gut, daß nicht nur einer von uns in die Welt hinaus muß, und der andere allein zurückbleibt. Das wär doch ein biß‘l traurig gewesen.«

      Georg wußte wohl, daß Felician im nächsten Herbst einer auswärtigen Vertretung zugeteilt werden sollte, aber mit solcher Klarheit war ihm noch nie bewußt geworden, daß es nun in wenigen Monaten mit der langjährigen brüderlichen Gemeinschaft, mit dem Zusammenwohnen in dem alten Haus gegenüber dem Park, ja gewissermaßen mit der Jugend unwiederbringlich vorbei sein mußte. Er sah das Leben ernst, beinahe drohend vor sich liegen.

      »Hast du denn schon eine Ahnung«, fragte er, »wohin sie dich schicken werden?«

      »Eine gewisse Chance besteht für Athen.«

      »Wär’ dir das angenehm?«

      »Warum nicht. Die Gesellschaft dort soll nicht uninteressant sein. Bernburg war drei Jahre lang dort, und er ist ungern fort. Und dabei haben sie ihn nach London versetzt, was doch auch nicht ohne ist.«

      Sie gingen eine Weile schweigend weiter, nahmen den Weg durch den Park wie gewöhnlich. Eine Luft wie vom nahen Frühling war um sie, obwohl auf den Rasenplätzen noch schmale, weiße Schneeflecken schimmerten.

      »Also nach Italien reist du?« fragte Felician.

      »Ja.«

      »Wieder so weit nach dem Süden wie voriges Frühjahr?«

      »Das weiß ich noch nicht.«

      Wieder ein kurzes Schweigen.

      Plötzlich aus dem Dunkel heraus die Stimme Felicians: »Hast du von Grace eigentlich seitdem etwas gehört?«

      »Von Grace«, wiederholte Georg etwas verwundert, denn es war lange her, daß Felician diesen Namen nicht mehr ausgesprochen hatte. »Von Grace hab’ ich nichts mehr gehört. Das war übrigens so abgemacht zwischen uns. In Genua haben wir für ewig Abschied genommen. Auch schon über ein Jahr her…«

      Auf einer Bank, ganz im Dunkeln, saß ein Herr im Pelz, mit Zylinder und weißen Handschuhen. Ah, Labinski, dachte Georg einen Moment lang; im nächsten fiel ihm natürlich ein, daß der sich erschossen hatte… Es war nicht das erstemal, daß er ihn zu sehen glaubte. Auch im botanischen Garten zu Palermo unter einer japanischen Esche war einmal einer gesessen, bei hellichtem Tag, den Georg eine Sekunde lang für Labinski gehalten hatte. Und neulich, hinter den geschlossenen Fenstern eines Fiakers hatte Georg das Antlitz seines verstorbenen Vaters zu erkennen geglaubt.

      Hinter den laublosen Ästen schimmerten Häuser her. Eines davon war das, in dem die Brüder wohnten.

      Es wäre Zeit, dachte Georg, daß ich endlich auf die Angelegenheit zu reden komme. Und um rasch anzuknüpfen, bemerkte er leicht: »Ich fahr’ übrigens auch heuer nicht allein nach Italien.«

      »So, so«, sagte Felician und sah vor sich hin.

      Im selben Moment fühlte Georg, daß er den Ton nicht richtig genommen hatte. Er besorgte, daß Felician sich etwa denken könnte: ah, nun hat er wieder ein Abenteuer mit so einer dubiosen Person. Und ernst fügte er hinzu: »Du, Felician, ich hätte was ziemlich Wichtiges mit dir zu besprechen.«

      »Was Wichtiges?«

      »Ja.«

      »Na Georg«, sagte Felician mild und sah ihn von der Seite an. »Was gibt’s denn, du heiratest doch nicht am Ende?«

      »O nein«, erwiderte Georg und ärgerte sich gleich wieder, daß er diese Möglichkeit so entschieden abgelehnt hatte. »Nein, nicht um eine Heirat handelt es sich, sondern um etwas viel Wesentlicheres.«

      Felician blieb einen Moment stehen. »Du hast ein Kind?« fragte er ernst.

      »Nein. Noch nicht. Das ist es eben. Darum reisen wir fort.«

      »So«, sagte Felician.

      Sie waren aus dem Park herausgetreten. Unwillkürlich sahen sie beide zu dem Fenster ihrer Wohnung auf, von dem aus noch vor einem Jahr ihr Vater ihnen manchmal grüßend zugenickt hatte. Beide fühlten mit Wehmut, wie sie seit dem Tode des Vaters einander allmählich entglitten waren – und mit leiser Angst, um wie viel weiter sie das Leben noch voneinander entfernen konnte.

      »Komm zu mir ins Zimmer«, sagte Georg, als sie oben waren. »Da ist’s am gemütlichsten.«

      Er setzte sich auf seinen bequemen Sessel am Schreibtisch. In die Ecke des kleinen, grünen Lederdiwans, der an den Schreibtisch angerückt war, lehnte sich Felician und hörte ruhig zu. Georg nannte ihm den Namen seiner Geliebten, sprach von ihr in guten und innigen Worten und erbat sich von Felician, daß er sich der Mutter und des Kindes annähme für den Fall, daß ihm, Georg, in der nächsten Zeit etwas Menschliches zustieße. Was von seinem Vermögen noch vorhanden wäre, hinterließe er selbstverständlich dem Kind, der Mutter fiele die Nutznießung bis zu des Kindes Volljährigkeit zu. Als Georg zu Ende war, sagte Felician nach kurzem Schweigen lächelnd: »Na, du hast ja gegründete Hoffnung, von deiner Reise ebenso gesund und wohl zurückzukommen, als ich aus Afrika, und so hat unsere Besprechung wohl nur akademische Bedeutung.«

      »Das hoff ich natürlich auch. Aber es ist mir jedenfalls eine Beruhigung, Felician, daß du nun eingeweiht bist und ich nach jeder Richtung hin unbesorgt sein kann.«

      »Ja natürlich, das kannst du.« Er reichte dem Bruder die Hand. Dann stand er auf, ging im Zimmer auf und ab. Endlich fragte er: »Zu legitimieren denkst du deine Beziehungen nicht?«

      »Vorläufig nein. Was


Скачать книгу