Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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Herr Baron, Bett Nummer fünf.« »Nein, wie sonderbar, ich habe Nummer sechs.« Dann gingen sie auf dem Perron hin und her. Georg war sehr gut aufgelegt, und es freute ihn, daß Anna in ihrem englischen Kleid mit dem schmalkrempigen Reisehut und dem blauen Schleier aussah wie eine interessante Fremde. Sie schritten den ganzen Zug ab, bis zur Lokomotive, die außerhalb der Halle stand und in aufgeregten Stößen hellgrauen Dampf zum dunkeln Himmel sandte. Draußen auf der Strecke, im matten Schein, erglühten grüne und rote Laternen. Angstvolle Pfiffe kamen von irgendwoher aus der Weite, und langsam aus dem Dunkel hervor ringelte ein Zug sich in den Bahnhof. Ein rotes Licht schwankte zauberhaft auf der Erde hin und her, schien meilenweit zu sein, und wie es stille hielt, war es mit einem Mal ganz nah. Und draußen, schimmernd und im Unsichtbaren sich verlierend, zogen die Gleise ihren Weg, nach Nähen und Fernen, in die Nacht, in den Morgen, in den nächsten Tag, ins Unerforschliche.

      Anna stieg ins Kupee. Georg blieb noch eine Weile draußen stehen und amüsierte sich über die Reisenden, die eilig Aufgeregten, die vornehm Ruhigen und die, die die Ruhigen spielten, und über die verschiedenen Abarten der Begleiter: die Wehmütigen, die Heitern, die Gleichgültigen.

      Anna beugte sich aus dem Fenster. Georg plauderte mit ihr, tat so, als dächte er gar nicht daran abzureisen, stieg im letzten Moment ein. Der Zug fuhr ab. Auf dem Bahnsteig standen Leute – unbegreifliche Leute, die in Wien zurückblieben, und denen wieder all die andern unbegreiflich schienen, die nun ernstlich davonfuhren. Ein paar Taschentücher wehten, der Stationschef stand wichtig da und sandte dem Zug einen strengen Blick nach, ein Träger, in blau weiß gestreifter Leinenbluse hielt eine gelbe Tasche hoch und blickte gierig in jedes Fenster. Merkwürdig, dachte Georg beiläufig, es gibt Leute, die davonfahren und ihre gelben Taschen in Wien zurücklassen. Alles verschwand, Tücher, Tasche, Stationschef, Bahnhofsgebäude, das hell erleuchtete Signalhaus, die Gloriette, die flimmernden Lichter der Stadt, die kleinen, kahlen Gärten am Damm; und der Zug sauste weiter durch die Nacht. Georg wandte sich vom Fenster ab. Anna saß in der Ecke, hatte Hut und Schleier neben sich liegen; kleine, sanfte Tränen rannen ihr über die Wangen. »Aber«, sagte Georg, umschlang sie, küßte sie auf die Augen, auf den Mund. »Aber Anna«, wiederholte er noch zärtlicher und küßte sie wieder. »Was weinst du denn? Es wird ja so schön sein.«

      »Du hasts leicht«, sagte sie, und über ihr lächelndes Antlitz flossen die Tränen weiter. –

      Es wurde schön. Zuerst hielten sie sich in München auf. In den hohen Sälen der Pinakothek spazierten sie umher, standen entzückt vor alten dunkelnden Bildern, wanderten in der Glyptothek zwischen marmornen Göttern, Königen und Helden; und wenn Anna plötzlich ermüdet auf einem Diwan sich niederließ, fühlte sie Georgs zärtlichen Blick über ihrem Scheitel. Sie fuhren durch den englischen Garten, in breiten Alleen, unter noch entlaubten Bäumen, eng aneinander geschmiegt, jung und glücklich, und glaubten gern, daß die Menschen sie für Hochzeitsreisende hielten. Und sie hatten ihre Plätze nebeneinander in der Oper, bei Figaro, bei den Meistersingern, bei Tristan; und es war ihnen, als webte sich aus den geliebten Klängen ein tönend durchsichtiger Schleier um sie allein, der sie von allen andern Zuhörern abschied. Und sie saßen, von niemandem gekannt, an hübsch gedeckten Gasthaustischen, aßen, tranken und plauderten wohlgelaunt. Und durch Gassen, die den wunderbaren Hauch der Fremde hatten, wandelten sie heim, wo im gemeinsamen Zimmer die milde Nacht ihrer wartete, schlummerten beruhigt Wange an Wange ein, und wenn sie erwachten, lächelte vor dem Fenster ein freundlicher Tag, mit dem sie schalten durften wie es ihnen beliebte. Sie waren ineinander beruhigt, wie sies nie gewesen und gehörten einander endlich ganz. Dann reisten sie weiter, dem rufenden Frühling entgegen; durch gedehnte Täler, auf denen der Schnee glänzte und zerrann, dann, wie durch einen letzten, weißen Wintertraum, über den Brenner nach Bozen, wo sie mittags auf dem grellen Marktplatz in Sonnenstrahlen badeten. Auf den verwitterten Stufen des weiten Amphitheaters von Verona, unter einem kühlen Osterabendhimmel, fand sich Georg endlich der ersehnten Welt gegenüber, in die eine wahrhaft Geliebte zu geleiten ihm diesmal gegönnt war. Aus rötlich blassen Fernen, zugleich mit all den ewigen Erinnerungen, die auch andern Menschen gehörten, grüßte ihn die eigene, entrückte Knabenzeit; ja ein Hauch der verwehten Tage, da seine Mutter noch gelebt hatte, zitterte hier schon durch die fremdheimatliche Luft. Venedig empfing ihn gefällig, doch zauberlos, und wohlbekannt, als hätte er es gestern verlassen. Auf dem Markusplatz wurde er von flüchtigen Wiener Bekannten gegrüßt, und der verschleierten Dame an seiner Seite im weiten Mantel galt mancher neugierige Blick. Einmal nur, spät abends auf einer Gondelfahrt durch enge Kanäle, erstanden ihm die starrenden Paläste, die im Alltagslicht allmählich zu Kulissen entwürdigt waren, im schweren Prunk dunkelgoldener Vergangenheiten.

      Dann kamen ein paar Tage in Städten, die er kaum oder gar nicht kannte, wo er als Knabe nur kurze Stunden, oder noch niemals geweilt hatte. Aus einem schwülen Paduaner Mittag traten sie in eine dämmrige Kirche und betrachteten langsam von Altar zu Altar wandelnd, die einfältig herrlichen Bilder, auf denen Heilige ihre Wunder vollbrachten und ihre Martyrien vollendeten. An einem trüben, regenschweren Tag fuhr sie ein rumpelnder, trauriger Wagen an einem ziegelroten Kastell vorbei, um das in einem breiten Graben graugrünliches Wasser stand, über einen Marktplatz, wo vor dem Kaffeehaus nachlässig gekleidete Bürger saßen; in stillere und traurige Gassen, wo zwischen den buckligen Steinen Gras wuchs; und sie mußten glauben, daß diese kläglich dahinsterbende Kleinstadt den schmetternden Namen Ferrara trug. In Bologna schon, wo die lebhaft aufblühende Stadt sich nicht am Stolz vergangener Herrlichkeiten genügen ließ, atmeten sie auf. Aber erst als Georg die Hügel von Fiesole erblickte, fühlte er sich wie von einer andern Heimat begrüßt. Dies war die Stadt, in der er aufgehört hatte Knabe zu sein, in der der Strom des Lebens durch seine Adern zu kreisen begonnen hatte. An manchen Plätzen tauchten Erinnerungen in ihm auf, die er für sich behielt; und in dem Dom, wo jenes Florentiner Mädchen unter dem Brautschleier den letzten Blick zu ihm gesandt, sprach er zu Anna nur von der Herbstabendstunde in der Altlerchenfelder Kirche, wo sie beide ahnungsvoll von dieser Reise zu reden begonnen hatten, die nun so unbegreiflich rasch Wirklichkeit geworden war. Er zeigte Anna das Haus, in dem er vor neun Jahren gewohnt hatte. Noch befanden sich unten die gleichen Kaufläden, in denen Korallenhändler, Uhrmacher, Spitzenhändler ihre Waren feilhielten. Da der zweite Stock zu vermieten war, hätte Georg ohne weiteres das Zimmer wiedersehen können, in dem seine Mutter gestorben war. Aber er zögerte lange, die Wohnung wieder zu betreten. Erst am Tage vor der Abreise, als dürfte er es doch nicht versäumen, und allein, ja ohne es Anna vorher zu sagen, betrat er das Haus, die Stiege, das Gemach. Der alt gewordene Portier führte ihn herum und erkannte ihn nicht. Es waren noch dieselben Möbel überall; das Schlafzimmer der Mutter sah noch genau so aus wie vor zehn Jahren, und in der gleichen Ecke, aus braunem Holz, mit der dunkelgrünen, silbergestickten Samtdecke, stand das gleiche Bett. Aber nichts von allem, was Georg erwartet hatte, regte sich in ihm. Ein müdes Erinnern, seichter und glanzloser als jemals sonst, rann ihm durch die Seele. Er verweilte lange vor dem Bett mit dem klar bewußten Willen, die Empfindungen, zu denen er sich verpflichtet fühlte, heraufzubeschwören. Er murmelte das Wort »Mutter«, er versuchte sichs vorzustellen wie sie hier gelegen war, in diesem Bett, viele Tage und Nächte lang. Er erinnerte sich der Stunden, in denen es ihr wohler gegangen war und er ihr hatte vorlesen oder im Nebenzimmer auf dem Klavier vorspielen dürfen, sah den kleinen runden Tisch in der Ecke stehen, an dem der Vater und Felician ganz leise gesprochen hatten, weil die Mutter eben eingeschlummert war; und endlich, wie eine Szene auf dem Theater, so nah und scharf, stieg jenes furchtbaren Abends Bild in ihm auf, an dem Vater und Bruder fortgegangen waren, er selbst ganz allein an der Mutter Lager saß, ihre Hand in der seinen… alles sah und hörte er wieder: wie sie mit einem Mal nach dem ruhigsten Tag sich übel befunden, wie er die Fensterflügel aufgerissen hatte und mit der lauen Märzluft das Lachen und Reden fremder Menschen ins Zimmer hereingedrungen war, wie sie endlich dalag, mit offenen und schon erloschenen Augen, das Haar, das noch vor wenigen Sekunden um Stirn und Schläfen wellig geflossen war – wirr und trocken auf dem Polster starrte, und der linke Arm nackt über den Bettrand herunterhing mit weit auseinander gekrampften Fingern. Mit so ungeheuerer Lebendigkeit war dies Bild ihm aufgestiegen, daß er sein eigenes Knabenantlitz im Geiste wiedersah und sein eigenes längst verhalltes Weinen wieder hörte… aber er fühlte keinen Schmerz. Es war doch zu lang vorbei. Zehn Jahr beinah.

      »E bellissima la vista di questa finestra«, sagte plötzlich der Portier hinter ihm, öffnete


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