Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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bin, in dem großen Garten, mit dem Blick auf die Berge und zu den Auen. Wie aus den Tiefen des Wassers kommt sie emporgestiegen, die Einsamkeit, die ja offenbar überhaupt etwas ganz anderes vorstellt, als man gewöhnlich meint. Keineswegs einen Gegensatz zur Geselligkeit. Ja vielleicht hat man nur unter Menschen das Recht, sich einsam zu fühlen. Nehmen Sie das als aphoristisch, lächerlich-unwahres Extrablättchen, oder legen Sie es auch als solches beiseite. Um wieder auf meine Donauuferfahrt zu kommen, – gerade in jener etwas schwülen Abendstunde sind mir allerlei gute Einfälle gekommen, und ich hoffe Ihnen bald manches Sonderbare über Ägidius erzählen zu können, wie der mordlustige und traurige Jüngling nun endgültig benannt ist, über den tiefsinnig-undurchdringlichen Fürsten, über den lächerlichen Herzog Heliodor, unter welchem Namen ich Ihnen den Bräutigam der Prinzessin vorzustellen die Ehre habe, und ganz besonders über die Prinzessin selbst, die ein viel merkwürdigeres Geschöpf zu sein scheint, als ich anfangs vermutet habe.«

      »Das bezieht sich auf den Operntext?« fragte Anna und ließ ihre Arbeit sinken.

      »Natürlich«, antwortete Georg und las weiter.

      »Sie sollen auch gleich erfahren, mein Lieber, daß ich in den letzten Wochen einige vorläufig nicht besonders unsterbliche Verse zum ersten Akt verfertigt habe, die nun bis auf weiteres, ohne Ihre Musik nämlich, in der Welt herumhüpfen, wie ungeflügelte Engel. Der Stoff reizt mich in seltsamer Weise. Und ich bin schon selber neugierig, worauf ich eigentlich mit ihm hinaus will. Auch allerlei anderes hab ich begonnen… entworfen… bedacht. Und, kurz und frech gesagt, es ist mir, als kündigte sich eine neue Epoche in mir an. Doch das klingt frecher, als es ist. Denn auch Rauchfangkehrer, Salamutschimänner und Feldwebel haben ihre Epochen. Unsereiner weiß es nur immer gleich. Was ich für sehr wahrscheinlich halte, ist, daß ich aus dem phantastischen Element, in dem ich mich jetzt behage, sehr bald in ein höchst reales hinab oder hinauf steigen dürfte. Was würden Sie zum Beispiel dazu sagen, wenn ich mich in eine politische Komödie einließe? Und schon fühl ich, daß das Wort von der Realität nicht völlig stimmt. Denn mir scheint, Politik ist das phantastischeste Element, in dem Menschen sich überhaupt bewegen können, nur, daß sie es nicht merken… Hier wäre die Sache vielleicht anzupacken. Dies fiel mir ein, als ich neulich einer politischen Versammlung anwohnte, (unwahr, diese Gedanken kommen mir soeben), jawohl – einer Versammlung von Arbeitern und Arbeiterinnen in der Brigittenau, in die ich mich an der Seite von Mademoiselle Therese Golowski verfügt hatte und in der ich sieben Reden über das allgemeine Wahlrecht anzuhören bemüßigt war. Jeder von den Rednern – auch Therese war darunter – sprach ungefähr so, als gäbe es für ihn persönlich nichts Wichtigeres, als die Lösung dieser Frage, und ich glaube, keiner von ihnen ahnte, daß ihm in der Tiefe der Seele die ganze Frage ungeheuer gleichgültig war. Therese war natürlich sehr empört, als ich ihr das eröffnete, und erklärte mir, daß ich von dem vergiftenden Skeptizismus Nürnbergers angesteckt sei, mit dem ich überhaupt zu viel verkehre. Sie ist sehr schlecht auf ihn zu sprechen, seit er sie vor einigen Wochen im Kaffeehaus gefragt hat, ob sie zu ihrem nächsten Hochverratsprozeß hohe Frisur oder aufgesteckte Zöpfe tragen werde? Übrigens stimmt es, daß ich mit Nürnberger viel zusammen bin. In schweren Stunden gibt es wohl keinen, der einem mit mehr Güte entgegenkäme. Nur daß es manche Stunden gibt, von deren Schwere er nichts ahnt oder nichts wissen will. Es gibt allerlei Schmerzen, von denen ich fühle, daß er sie unterschätzt und von denen ihm gegenüber zu sprechen ich daher aufgehört habe.«

      »Was meint er denn?« unterbrach ihn Anna.

      »Offenbar die Geschichte mit der Schauspielerin«, erwiderte Georg und las weiter: »Dafür ist er wieder geneigt, andere Schmerzen zu überschätzen, aber das ist wahrscheinlich meine Schuld, nicht seine. Ich muß es gestehen, dem Verlust, den ich durch den Tod meines Vaters erlitt, hat er eine Teilnahme entgegengebracht, die mich beschämt hat. Denn so furchtbar es mich getroffen hat, wir waren einander so fremd geworden, schon lange bevor der Wahnsinn über ihn hereinbrach, daß sein Tod mir gleichsam nur ein weiteres, grauenhafteres Entrücken bedeutete, nicht eine neue Erfahrung.«

      »Nun?« fragte Anna, da Georg innehielt.

      »Mir fällt eben was ein.«

      »Was denn?«

      »Die Schwester von Nürnberger liegt auf dem Friedhof von Cadenabbia begraben. Ich hab dir ja von ihr erzählt. Ich will dieser Tage einmal hinüberfahren.«

      Anna nickte. »Ich fahr vielleicht mit, wenn mir ganz wohl ist. Mir ist Nürnberger nach allem, was ich von ihm höre, viel sympathischer als dein Freund Heinrich, dieser schauerliche Egoist.«

      »Du findest?«

      »Na höre, wie er über seinen Vater schreibt, das ist doch beinahe unerträglich.«

      »Gott, wenn man einander so fremd geworden ist wie die zwei.«

      »Trotzdem. Auch meinen Eltern bin ich innerlich nicht gerade sehr nah. Und doch… wenn ich… nein, nein ich will lieber gar nicht an solche Dinge denken. Willst du nicht weiter lesen?«

      Georg las: »Es gibt ernstere Dinge als den Tod, traurigere gewiß, weil eben diesen andern Dingen das Endgültige fehlt, das im höhern Sinn das Traurige des Todes wieder aufhebt. Es gibt zum Beispiel lebendige Gespenster, die auf der Straße wandeln bei hellichtem Tag, mit längst gestorbenen und doch sehenden Augen, Gespenster, die sich zu einem hinsetzen und mit einer Menschenstimme reden, die viel ferner klingt als aus einem Grab heraus. Und man könnte sagen, daß in Augenblicken, da man dergleichen erlebt, das Wesen des Todes sich viel unheimlicher erschließt, als in solchen, da man dabeisteht, wie jemand in die Erde gesenkt wird… und wär er einem noch so nah gestanden.«

      Georg ließ den Brief unwillkürlich sinken, und Anna sagte mit Bestimmtheit: »Du kannst ihn dir schon behalten deinen Freund Heinrich.«

      »Ja«, erwiderte Georg langsam, »er ist manchmal ein bißchen affektiert. Und doch… o, das ist ja schon das erste Läuten zum Lunch, lesen wir rasch zu Ende.« »Aber nun muß ich Ihnen doch erzählen, was sich gestern hier zugetragen hat, die peinlichste und lächerlichste Geschichte, die mir seit langem vorgekommen ist, und leider sind die Beteiligten unsere guten Bekannten Ehrenberg Vater und Sohn.«

      »O«, rief Anna unwillkürlich.

      Georg hatte die folgenden Zeilen rasch für sich durchgeflogen und schüttelte den Kopf.

      »Was ist denn?« fragte Anna.

      »Das ist doch… höre nur«, und er las weiter. »Wie sehr sich das Verhältnis zwischen dem Alten und Oskar im Lauf des letzten Jahres zugespitzt hat, wird Ihnen ja nicht entgangen sein. Sie kennen ja auch die innern Gründe, so daß ich den Vorfall einfach berichten kann, ohne mich über die Motive des breitern auszulassen. Denken Sie also. Gestern zur Mittagszeit geht Oskar an der Michaelerkirche vorüber und lüftet den Hut. Sie wissen, daß es zurzeit kaum eine Eigenschaft gibt, die für eleganter gilt als die Frömmigkeit. Und so bedarf es vielleicht nicht einmal einer weiteren Erklärung wie z. B. die, daß eben ein paar junge Aristokraten aus der Kirche gekommen sein mögen, vor denen sich Oskar katholisch gebärden wollte. Weiß der Himmel wie oft er schon vorher sich dieser Falschmeldung ungefährdet schuldig gemacht hat. Das Unglück wollte nun gestern, daß im selben Moment der alte Ehrenberg des Wegs daherkommt. Er sieht wie Oskar vor dem Kirchentor den Hut abnimmt… und von einer fassungslosen Wut ergriffen, holt er aus und haut seinem Sprößling eine Ohrfeige herunter. Eine Ohrfeige! Oskar dem Reserveleutnant! Mittag, im Zentrum der Stadt! Daß die Geschichte noch am selben Abend in der ganzen Stadt bekannt wurde, ist also weiter nicht merkwürdig. Heute steht sie auch schon in einigen Zeitungen zu lesen. Die jüdischen schweigen sie zwar tot, von ein paar Klatschblättern abgesehen, die antisemitischen legen sich natürlich mächtig hinein. Das beste leistet der ›Christliche Volksbote‹, der verlangt, daß beide Ehrenbergs wegen Religionsstörung oder gar Gotteslästerung vor die Geschworenen kommen. Oskar soll vorläufig abgereist sein, unbekannt wohin.«

      »Nette Familie«, sagte Anna mit Überzeugung.

      Wider Willen mußte Georg lachen. »Du an der Geschichte ist Else wirklich vollkommen unschuldig.«

      Die Glocke tönte zum zweitenmal. Sie begaben sich in den Speisesaal und nahmen an ihrem kleinen


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