Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
nicht… sie trägt ein Kind unter ihrem Herzen, das sich sogar schon regt… Deswegen… ach Gott… Auch mein Kind ist es ja… Nun fährt unser Kind auf dem See von Lugano spazieren… Werd ich es ihm einmal erzählen, daß es vor seiner Geburt auf dem See von Lugano herumgefahren ist…? Wie wird das alles nun werden? In wenigen Tagen ist man wieder in Wien. Existiert denn dieses Wien überhaupt? Es ersteht erst langsam wieder, während wir zurückfahren… Ja, so ist es… Sobald ich zu Hause bin, wird ernstlich gearbeitet. Ich werde ruhig in meiner Wiener Wohnung bleiben und Anna immer nur besuchen; nicht mit ihr auf dem Lande wohnen höchstens in den allerletzten Tagen… Und im Herbst ich in Detmold? Und wo wird Anna sein? Und das Kind? Bei fremden Menschen irgendwo auf dem Land?… Wie unwahrscheinlich ist das alles… Aber es war auch heute vor einem Jahr sehr unwahrscheinlich, daß ich mit Fräulein Anna Rosner, und Stanzides mit Fräulein Therese Golowski auf dem See von Lugano spazieren fahren würde… und jetzt ist es die selbstverständlichste Sache von der Welt. – Mit einem Male hörte er neben sich, überdeutlich, als wenn er eben erwachte, Demeters Stimme. »Wann geht unser Schiff morgen ab?«
»Um neun Uhr früh«, erwiderte Therese.
»Sie ist nämlich der Reisemarschall«, sagte Demeter, »ich brauche mich um gar nichts zu kümmern.«
Nun stand mit einemmal der Mond über dem See.
Es war, wie wenn er hinter den Bergen gewartet hätte und nun zum Abschied aufgestiegen käme. Ganz weiß und nahe lag plötzlich jenes unendlich ferne Dorf an der Berglehne. Der Kahn legte an. Therese erhob sich und sah, von der Nacht umgeben, auffallend groß aus. Georg sprang aus dem Kahn und half ihr beim Aussteigen. Er spürte ihre kühlen Finger, die nicht zitterten, sondern sich wie mit Absicht leise bewegten, in seiner Hand und fühlte den Hauch ihrer Lippen nah. Nach ihr stieg Demeter aus, dann kam Anna, schwerfällig und müd. Die Schiffer dankten für das reichliche Trinkgeld, und die beiden Paare spazierten heimwärts. Auf einer Bank in der Uferallee, in einem langen, dunkeln Mantel saß der Prinz, rauchte eine Zigarre, schien auf den nächtlichen See hinauszusehen und wandte den Kopf, offenbar um nicht gegrüßt zu werden.
»So einer könnte einem manches erzählen«, sagte Therese zu Georg, mit dem sie immer weiter zurückblieb, während Demeter und Anna vor ihnen gingen.
»So bald also fahren Sie schon nach Wien?« fragte Georg.
»In vierzehn Tagen, finden Sie das so bald? Jedenfalls werden Sie vor uns daheim sein, nicht?«
»Ja, in ein paar Tagen reisen wir. Es läßt sich nicht länger verschieben. Auch werden wir einigemale unterbrechen müssen. Anna verträgt das Fahren nicht gut.«
»Wissen Sie denn schon, daß ich noch gerade vor meiner Abreise die Villa für Anna gefunden habe?« sagte Therese.
»Wirklich? Sie? Haben Sie denn auch gesucht?«
»Ja, ich hab meine Mutter ein paarmal aufs Land begleitet. Es ist ein kleines, ziemlich altes Haus in Salmansdorf, mit einem schönen Garten, der direkt auf Wiese und Wald hinausführt, und der Vorgarten ist ganz verwachsen… Anna wird Ihnen schon mehr erzählen. Ich glaub, es ist das letzte Haus im Ort, dann kommt noch ein Gasthof, aber ziemlich weit davon.«
»Sollt ich dieses Haus auf meinen Entdeckungsreisen im Frühjahr übersehen haben?«
»Offenbar, sonst hätten Sie es gemietet. Auf einem Rasenplatz, nah am Gartenzaun, steht eine kleine Figur aus Ton.«
»Kann mich nicht erinnern. Aber wissen Sie, Therese, es ist wirklich nett, daß Sie sich auch für uns bemüht haben. Mehr als nett.« ›Bei Ihrer aufreibenden Tätigkeit‹, wollte er hinzusetzen, unterdrückte es aber.
»Warum wundern Sie sich«, fragte Therese. »Ich habe Anna sehr gern.«
»Wissen Sie, was ich einmal über Sie habe sagen hören?« bemerkte Georg nach einer kleinen Pause.
»Nun, was?«
»Daß Sie entweder auf dem Schafott enden werden, oder als Prinzessin.«
»Das ist ein Ausspruch vom Doktor Berthold Stauber, er hat es mir selbst auch einmal gesagt. Er ist sehr stolz darauf, aber es ist doch ein Unsinn.«
»Jetzt stehen die Chancen allerdings mehr auf der Prinzessinnenseite.«
»Wer sagt Ihnen das? Der Prinzessinnentraum ist bald zu Ende.«
»Traum?«
»Ja, ich fange sogar schon an zu erwachen. Es ist ungefähr, wie wenn Morgenluft ins Schlafzimmer hereinwehte.«
»Und dann fängt wohl der andere Traum an?«
»Wieso der andre Traum?«
»Ich stell mir das so bei Ihnen vor. Wenn Sie wieder in der Öffentlichkeit stehen, Reden halten, sich für irgendeine Sache opfern, dann kommt Ihnen in irgendeinem Moment wieder das wie ein Traum vor, nicht? Und Sie denken, das wahre Leben, das ist wo anders.«
»Das ist nicht einmal so dumm, was Sie da sagen.«
In diesem Augenblick wandten sich Demeter und Anna, die schon am Gartentor standen, nach den beiden um, und nahmen gleich die breite Allee zum Eingang des Hotels. Auch Georg und Therese gingen weiter, ungesehen, außerhalb des Gitters, im finstersten Schlagschatten. Plötzlich ergriff Georg die Hand seiner Begleiterin. Diese wandte, wie erstaunt, sich zu ihm, und beide standen sich nun gegenüber, von Dunkel umhüllt und näher als sie verstehen konnten. Sie wußten nicht wie… sie wollten es kaum, und ihre Lippen ruhten aufeinander, einen kurzen Augenblick, der mehr erfüllt war von der wehen Lust der Lüge als von irgend einer andern. Dann gingen sie weiter, schweigend, unbeglückt, verlangend, und durchschritten das Gartentor.
Die beiden andern vor dem Hotel wandten sich jetzt um und gingen ihnen entgegen. Rasch sagte Therese zu Georg: »Selbstverständlich fahren Sie nicht mit uns.« Georg nickte leicht. Nun standen alle in der breiten, ruhigen Helle der Bogenlampen.
»Es war ein wunderschöner Abend«, sagte Demeter und küßte Anna die Hand.
»Also auf Wiedersehen in Wien«, sagte Therese und umarmte Anna.
Demeter wandte sich zu Georg. »Ich hoffe, wir sehen uns morgen früh auf dem Schiff.«
»Es wäre möglich, aber ich will nichts versprechen.«
»Adieu«, sagte Therese und reichte Georg die Hand.
Dann wandte sie sich mit Demeter zum Gehen.
»Wirst du mit ihnen fahren?« fragte Anna, während sie durchs Tor in die Halle gingen, wo Herren und Damen saßen, rauchten, tranken, plauderten.
»Was fällt dir ein«, erwiderte Georg, »ich denke nicht dran.«
»Herr Baron«, rief plötzlich jemand hinter ihm. Es war der Portier, der ein Telegramm in der Hand hielt.
»Was ist denn das?« fragte Georg etwas erschrocken und öffnete rasch. »O«, rief er aus, »wie entsetzlich.«
»Was ist denn?« fragte Anna.
Er las ihr vor, während sie in das Blatt schaute. »Oskar Ehrenberg hat heute früh im Wald bei Neuhaus einen Selbstmordversuch verübt. Schuß in die Schläfe, wenig Hoffnung, sein Leben zu erhalten. Heinrich.« Anna schüttelte den Kopf. Schweigend gingen sie die Treppen hinauf und ins Zimmer, das Anna bewohnte. Die Balkontür war weit geöffnet. Georg trat ins Freie. Aus der Dunkelheit heraus drang ein schwerer Duft von Magnolien und Rosen. Vom See war nichts zu sehen. Wie aus einem Abgrund gewachsen ragten die Berge. Anna trat zu Georg. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und liebte sie sehr. Es war, wie wenn das ernste Geschehnis, von dem er eben Kunde erhalten, seinen eigenen Erlebnissen das Gefühl ihrer wahren Bedeutung aufgezwungen hätte. Er wußte wieder, daß es nichts Wichtigeres für ihn auf der Welt gab, als das Wohl dieser geliebten Frau, die mit ihm auf dem Balkon stand und ihm ein Kind gebären sollte.
Sechstes Kapitel