Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
gäbe ja doch keinen, der sein Vaterland mehr liebte und seinen Beruf ernster nähme, als gerade er. Er gab es zu. Für ihn aber bedeutete Österreich ein unendlich kompliziertes Instrument, das nur ein Meister richtig behandeln könnte und das nur deshalb so oft übel klänge, weil jeder Stümper seine Kunst daran versuche. »Sie werden solange darauf herumschlagen«, sagte er traurig, »bis alle Saiten zerspringen und der Kasten dazu.«
Als Georg ging, begleitete ihn Else ins Vorzimmer. Sie hatte ihm noch ein paar Worte über seine Ballade zu sagen. Besonders der Mittelsatz hatte ihr gefallen. So innerlich glühend wäre er gewesen. Im übrigen wünschte sie ihm glückliche Reise. Er dankte ihr. »Also«, sagte sie plötzlich, während er schon den Hut in der Hand hielt, »nun heißt es wohl gewissen Träumen endgültigen Abschied geben.«
»Welchen Träumen?« fragte er befremdet.
»Den meinen selbstverständlich, die Ihnen nicht unbekannt geblieben sein dürften.«
Georg war sehr überrascht. So deutlich war sie nie gewesen. Er lächelte befangen und suchte nach einer Antwort. »Was weiß man von der Zukunft«, sagte er endlich leicht.
Sie runzelte die Stirn. »Warum sind Sie nicht wenigstens ehrlich zu mir, so wie ich zu Ihnen? Ich weiß ja, daß Sie nicht allein da hinunter reisen… Ich weiß auch, wer Sie begleitet… Ich weiß überhaupt alles. Gott, was hab ich denn nicht gewußt, seit wir uns kennen.«
Und Georg hörte Schmerz und Zorn im Untergrund ihrer Worte beben. Und er wußte: wenn er sie doch einmal zur Frau nähme, sie würde ihn fühlen lassen, daß sie zu lange hatte auf ihn warten müssen. Er sah vor sich hin, schwieg wie schuldbewußt und trotzig zugleich. Da lächelte Else heiter, reichte ihm die Hand und sagte nochmals: »Glückliche Reise«.
Er drückte ihr die Hand, als müßte er ihr etwas abbitten. Sie entzog sie ihm, wandte sich ab, ging ins Zimmer zurück. Er blieb noch ein paar Sekunden an der Türe stehen, dann eilte er auf die Straße.
Am Abend desselben Tages sah Georg nach vielen Wochen zum erstenmal Leo Golowski im Kaffeehaus wieder. Er wußte von Anna, daß Leo als Freiwilliger in der letzten Zeit unangenehme Dinge durchzumachen hatte, daß besonders jene »Bestie in Menschengestalt« ihn mit Bosheit, ja mit wahrem Haß verfolgte. Es fiel Georg heute auf, wie Leo in der kurzen Zeit, während er ihn nicht gesehen, sich verändert hatte. Er sah geradezu gealtert aus.
»Es freut mich, daß ich Sie vor meiner Abreise noch einmal zu Gesicht bekomme«, sagte Georg und setzte sich ihm gegenüber an den Kaffeehaustisch. »Sie freut es«, erwiderte Leo, »daß Sie mich zufällig wieder einmal zu Gesicht kriegen, und mir war es ein Bedürfnis, Sie noch einmal zu sehen, das ist der Unterschied.« Seine Stimme klang noch zärtlicher als gewöhnlich. Er sah Georg ins Auge, gütig, beinahe väterlich. In diesem Moment zweifelte Georg nicht mehr, daß Leo alles wußte, war ein paar Sekunden so verlegen, als wenn er sich vor ihm zu verantworten hätte, ärgerte sich über seine Verlegenheit und war Leo dankbar, daß er sie nicht zu bemerken schien. Sie sprachen beinahe nur über Musik an diesem Abend. Leo erkundigte sich nach dem Fortgang von Georgs Arbeiten, und im Verlaufe der Unterhaltung ergab es sich, daß Georg sich bereit erklärte, Leo am morgigen Sonntag Nachmittag einiges aus seinen neuesten Kompositionen vorzuspielen. Aber als sie sich voneinander verabschiedeten, hatte Georg plötzlich das unangenehme Gefühl, als wenn er eben eine theoretische Prüfung mit mäßigem Erfolg bestanden hätte und ihm für morgen das praktische Examen bevorstünde. Was wollte dieser junge, weit über sein Alter sich reif gebärdende Mensch eigentlich von ihm? Sollte Georg ihm gegenüber erweisen, daß sein Talent ihn berechtigte, Annas Geliebter zu sein, oder der Vater ihres Kindes zu werden? Er erwartete Leos Besuch mit innerm Widerstand. Einen Moment dachte er sogar daran, sich verleugnen zu lassen. Aber als Leo erschienen war, so harmlos und herzlich, wie er sich manchmal zu geben liebte, wurde Georg bald milder gestimmt. Sie tranken Tee, rauchten Zigaretten, Georg zeigte seine Bibliothek, die Bilder, die in der Wohnung hingen, Antiquitäten und Waffen, und die Prüfungsstimmung verschwand. Georg setzte sich ans Klavier, spielte ein paar seiner Stücke aus früherer Zeit und die letzten, auch die Ballade, viel besser als gestern bei Ehrenbergs, dann einige Lieder, zu denen Leo ohne Stimme, aber mit sicherem, musikalischen Gefühl die Melodie markierte. Endlich begann er das Quintett aus der Partitur vorzutragen, es gelang ihm nicht recht, und Leo stellte sich mit den Noten zum Fenster hin und las sie aufmerksam. »Eigentlich weiß man noch gar nichts«, sagte er. »Manches ist wie von einem Dilettanten mit sehr viel Geschmack und anderes wie von einem Künstler ohne rechte Zucht. In den Liedern spürt man noch am ehesten… aber was… Talent?… ich weiß nicht… daß Sie eine vornehme Natur sind, spürt man jedenfalls, eine musikalisch vornehme Natur.«
»Na, das wäre nicht viel.«
»Es ist sogar ziemlich wenig. Aber da Sie noch so wenig gearbeitet haben, beweist das auch nichts gegen Sie. Wenig gearbeitet und wenig durchfühlt.«
»Sie glauben…« Georg zwang sich zu einem spöttischen Lächeln.
»O, erlebt wahrscheinlich sehr viel, aber gefühlt… wissen Sie, was ich meine, Georg?«
»Ja, ich kann mirs schon denken. Aber Sie irren sich entschieden. Ich finde sogar eher, daß ich eine gewisse Neigung zur Sentimentalität habe, die ich bekämpfen muß.«
»Ja, das ist es eben. Sentimentalität ist nämlich etwas, was in einem direkten Gegensatz zum Gefühl steht, etwas, womit man sich über seine Gefühlslosigkeit, seine innere Kälte beruhigt. Sentimentalität ist Gefühl, das man sozusagen unter dem Einkaufspreis erstanden hat. Ich hasse Sentimentalität.«
»Hm, und doch glaube ich, daß Sie selbst nicht ganz frei davon sind.«
»Ich bin Jude, bei uns ist es eine Nationalkrankheit. Die Anständigen arbeiten dran, daß Grimm oder Zorn daraus werde. Bei den Deutschen ist es schlechte Gewohnheit, innere Nachlässigkeit sozusagen.«
»Also bei Ihnen zu entschuldigen, bei uns nicht?«
»Auch Krankheiten sind nicht zu entschuldigen, wenn man im vollen Bewußtsein seiner Anlage versäumt hat, sich dagegen zu wehren. Aber wir fangen an, aphoristisch zu werden, befinden uns also auf dem Wege zu Halb-oder Viertelswahrheiten. Kehren wir zu Ihrem Quintett zurück. Das Thema des Adagio ist mir das liebste daran.«
Georg nickte. »Das hab ich einmal in Palermo gehört.«
»Wie«, fragte Leo, »sollte es eine sizilianische Melodie sein?«
»Nein, aus den Wellen des Meeres ist es mir entgegengerauscht, wie ich eines Morgens allein am Strand spazieren gegangen bin. Das Alleinsein tut meiner Produktion überhaupt gut. Auch fremde Gegenden. Ich verspreche mir darum von meiner Reise allerlei.« Er erzählte ihm von Heinrich Bermanns Opernstoff, der für ihn von Anregungen erfüllt sei. Wenn Heinrich wieder zurückkäme, sollte Leo ihn doch veranlassen, den Text ernstlich in Angriff zu nehmen.
»Wissen Sie noch nicht«, sagte Leo, »sein Vater ist gestorben.«
»Wirklich? Wann denn? Woher wissen Sies?«
»Heute früh ist es in der Zeitung gestanden.«
Sie redeten über Heinrichs Verhältnis zu dem Hingeschiedenen, und Leo sprach aus, daß es um die Welt vielleicht besser stünde, wenn die Eltern öfter von den Erfahrungen ihrer Kinder lernten, statt zu verlangen, daß diese sich ihrer Altersweisheit anbequemten. Sie kamen in ein Gespräch über die Beziehungen zwischen Vätern und Söhnen, über echte und falsche Arten von Dankbarkeit, über das Sterben von geliebten Menschen, über die Verschiedenheit von Trauer und Schmerz, über die Gefahren des Erinnerns und die Pflichten des Vergessens. Georg fühlte, daß Leo den ernstesten Dingen nachsann, sehr allein war, und es verstand, allein zu sein. Er liebte ihn beinahe, als die Tür in später Abendstunde sich hinter ihm geschlossen hatte, und der Gedanke, daß Annas erste Schwärmerei ihm gegolten, tat ihm wohl.
Noch ein paar Tage vergingen rascher als man gedacht, mit Einkäufen, Besorgungen, Vorbereitungen aller Art. Und eines Abends fuhren Georg und Anna nacheinander, in zwei Wagen, am Bahnhof vor und begrüßten sich gegenseitig in der Vorhalle zum Spaß mit großer Höflichkeit, wie entfernte Bekannte, die sich zufällig begegneten. »O mein Fräulein, was für ein