Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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noch scheint mir«, sagte Nürnberger, »als hätt ich niemals, auch von der größten Schauspielerin, Verse so sprechen gehört, ganze Szenen so agieren gesehen, wie von meiner Schwester in dem Hotelzimmer in Cadenabbia mit der Aussicht auf den Comosee, ein paar Tage, bevor sie starb. Freilich«, setzte er hinzu, »ist es möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß mich die Erinnerung täuscht.«

      »Warum denn?« fragte Georg, dem dieser Abschluß so gut gefiel, daß er sich ihn nicht verderben lassen wollte. Und er bemühte sich, Nürnberger, der es lächelnd anhörte, zu überzeugen, daß der sich nicht geirrt haben könnte und daß mit dem seltsamen Mädchen, das in Cadenabbia begraben lag, eine große Schauspielerin dahingegangen war…

      Das Landhaus, das Georg suchte, fand er auch auf seinen Wanderungen mit Nürnberger nicht; ja, von einem Mal zum andern, schien die Entdeckung schwieriger zu werden. Nürnberger spottete wohl zuweilen über die schwer erfüllbaren Ansprüche Georgs, der nach einer Villa zu suchen schien, an der vorn die wohlgepflegte Straße vorbeiführen und die rückwärts eine Gartentüre in den Urwald haben sollte. Schließlich glaubte Georg selbst nicht mehr ernsthaft daran, daß es ihm jetzt gelingen würde, das erwünschte Haus zu finden und verließ sich auf den Zwang des Findenmüssens nach der Rückkehr von der Reise. Notwendiger erschien es, sich möglichst bald mit einem Arzt ins Einvernehmen zu setzen; aber auch das verschob Georg von einem Tag zum andern. Doch eines Abends teilte Anna ihm mit, daß sie, durch einen neuen Ohnmachtsanfall in plötzliche Angst versetzt, Doktor Stauber besucht und ihm ihren Zustand eröffnet hatte. Er war sehr herzlich gewesen, hatte keinerlei Erstaunen ausgedrückt, sie in jeder Hinsicht vollkommen beruhigt und nur den Wunsch geäußert, Georg vor der Abreise zu sprechen.

      Ein paar Tage darauf folgte Georg der Einladung des Arztes. Die Ordination war eben zu Ende. Doktor Stauber empfing ihn mit der vorausgesehenen Freundlichkeit, schien die ganze Angelegenheit so einwandfrei und natürlich als möglich zu finden und sprach von Anna nie anders als von der jungen Frau, was Georg eigentümlich, aber nicht unangenehm berührte. Als die sachlichen Erörterungen abgeschlossen waren, erkundigte sich der Arzt nach dem Ziel der Reise. Georg hatte noch kein Programm entworfen, nur so viel stand fest, daß das Frühjahr im Süden, wahrscheinlich in Italien verbracht werden sollte. Doktor Stauber nahm Anlaß von seinem letzten Aufenthalt in Rom zu erzählen, der zehn Jahre zurücklag. Er war damals, wie schon früher einmal, mit dem Leiter der Ausgrabungen in persönlichem Verkehr gestanden und sprach zu Georg in fast begeistertem Ton von den neuesten Entdeckungen auf dem Palatin, über den er als junger Mann selbst Studien gepflogen und in den Heften für Altertumsforschung veröffentlicht hatte. Dann zeigte er Georg nicht ohne Stolz seine Bibliothek, die in eine medizinische und in eine kunsthistorische geschieden war, und trug ihm leihweise einige seltenere Bücher, eines aus dem Jahre 1834 über die vatikanischen Sammlungen und eine Geschichte Siziliens an. Georg fühlte sich höchst angeregt, während ihm so deutlich zum Bewußtsein kam, wie reiche Tage ihm bevorstanden. Eine Art von Heimweh nach wohlbekannten und lang entbehrten Gegenden überkam ihn, halbvergessene Bilder tauchten wieder in ihm auf: die Pyramide des Cestius stand am Horizont, in den scharfen Umrissen, wie sie ihm erschienen, da er als Knabe mit dem Prinzen von Makedonien in die abendliche Stadt zurückgeritten war; die dämmrige Kirche tat sich auf, wo er seine erste Geliebte als Braut zum Altar hatte schreiten sehen; unter einem dunkeln Himmel zog ein Nachen mit seltsam schwefelgelben Segeln an der Küste hin… Er begann zu reden, sprach von den vielen Städten und Landschaften des Südens, die er als Knabe, als Jüngling gesehen, erzählte von der Sehnsucht nach diesen Orten, die ihn oft wie ein wahres Heimweh ergriff, von seiner Freude all das Ersehnte, Bewahrtes und Vergessenes, und vieles Neue, mit gereiftem Blick umfassen zu dürfen, und diesmal in Gesellschaft eines Wesens, das fähig, alles mit ihm zu verstehen und zu genießen, und das ihm teuer war. Doktor Stauber, der eben daran war, ein Buch in die Reihe zurückzustellen, wandte sich plötzlich nach Georg um, sah ihn mild an und sagte: »Das laß ich mir gefallen.« Da Georg seinen Blick ein wenig befremdet erwiderte, setzte er hinzu: »Es war nämlich das erste warme Wort über Ihre Beziehung zu Annerl, das ich im Laufe dieser Stunde von Ihnen vernommen habe. Ich weiß, ich weiß, es liegt nicht in Ihrer Art, sich einem beinahe fremden Menschen gegenüber aufzuschließen, aber gerade weil ichs eigentlich nicht erwarten durfte, hats mir wohlgetan. Es ist Ihnen wirklich aus dem Herzen gekommen, man hats gemerkt. Und es hätte mir leid getan um das Annerl – entschuldigen Sie, ich heiß sie halt noch immer so – wenn ich mir hätte denken müssen, Sie haben sie nicht so gern, wie sie es verdient.«

      »Ich weiß eigentlich nicht«, erwiderte Georg kühl, »was Sie veranlaßt, daran zu zweifeln, Herr Doktor.«

      »Hab’ ich etwas von Zweifeln gesagt?« erwiderte Stauber gutmütig. »Aber schließlich, es soll schon dagewesen sein, daß ein junger Mann, der allerlei erlebt hat, so ein Opfer nicht genügend würdigt. Es bleibt ja doch ein Opfer, lieber Baron. Wir können noch so erhaben sein über alle Vorurteile – eine Kleinigkeit ist es heutzutage noch immer nicht, wenn sich ein junges Mädel aus guter Familie zu so was entschließt. Und ich wills Ihnen nicht verhehlen – Annerl hab ichs natürlich nicht merken lassen – es hat mir doch einen leisen Ruck gegeben, wie sie neulich bei mir gewesen ist und mir die Sache erzählt hat.«

      »Entschuldigen Sie, Herr Doktor«, erwiderte Georg geärgert aber höflich, »wenn es Ihnen einen Ruck gegeben hat, so beweist das doch einiges gegen Ihr Erhabensein über Vorurteile…«

      »Da haben Sie recht«, sagte Stauber lächelnd. »Aber vielleicht sehen Sie mir diese Rückständigkeit nach, wenn Sie bedenken, daß ich etwas älter bin als Sie und aus einer andern Zeit herkomme. Und dem Einfluß seiner Epoche kann sich selbst ein ziemlich selbständig denkender Mensch… was zu sein ich mir schmeichle… nicht ganz entziehen. Das ist ja das Merkwürdige. Aber glauben Sie mir, es gibt auch heutzutage, selbst unter den jungen Leuten, die bei Nietzsche und Ibsen aufgewachsen sind, geradesoviel Philister als es vor dreißig Jahren gegeben hat; sie geben sich nur nicht zu erkennen, außer es geht ihnen selbst an den Kragen, zum Beispiel, wenn man ihnen die Schwester verführt oder wenn ihre Frau Gemahlin ihnen plötzlich mit der Idee kommt, sie will sich ausleben… Manche sind natürlich konsequent und spielen ihre Rolle weiter… das ist aber mehr eine Frage der Selbstbeherrschung als der Weltanschauung. Und früher wieder, wissen Sie, in der Epoche, aus der ich eben komme, wo die Begriffe so unwiderruflich festgestanden sind, wo jeder zum Beispiel genau gewußt hat: man hat seine Eltern zu verehren, sonst ist man ein Schuft… oder: eine wahre Liebe gibt es nur einmal im Leben… oder: es ist ein Vergnügen für das Vaterland zu sterben… wissen Sie, in der Epoche, wo jeder anständige Mensch irgendeine Fahne hochgehalten, oder wenigstens irgendwas auf sein Banner geschrieben hat… glauben Sie mir, schon damals haben die sogenannten modernen Ideen mehr Anhänger gehabt, als man ahnt. Nur, daß es diese Anhänger selbst manchmal nicht recht gewußt, daß sie selber ihren Ideen nicht getraut, daß sie sich gewissermaßen wie Auswürflinge oder gar wie Verbrecher vorgekommen sind. Soll ich Ihnen was sagen, Herr Baron? Es gibt überhaupt keine neuen Ideen. Neue Gedankenintensitäten – das ja. Aber meinen Sie im Ernst, daß Nietzsche den Übermenschen, Ibsen die Lebenslüge erfunden hat, und Anzengruber die Wahrheit, daß die Eltern selber »danach sein sollen«, die von ihren Kindern Verehrung und Liebe wünschen? Keine Spur. Alle ethischen Ideen sind immer dagewesen, und staunen würde man, wenn man wüßte, was für Flachköpfe die sogenannten neuen, großen Wahrheiten gedacht, vielleicht sogar manchmal ausgesprochen haben, lang vor den Genies, denen wir diese Wahrheiten verdanken, oder vielmehr den Mut, diese Wahrheiten für wahr zu halten. Aber ich bin da etwas weit abgekommen, verzeihen Sie. Eigentlich hab ich nur sagen wollen… und Sie werden mirs glauben… ich weiß so gut wie Sie, Herr Baron, daß es manches jungfräuliche Mädchen gibt, das tausendmal verdorbener ist als eine sogenannte Gefallene, und manchen, als anständig geltenden jungen Mann, der schlimmere Dinge auf dem Gewissen hat, als daß er mit einem unschuldigen Mädchen ein Verhältnis anfängt. Und doch… das ist eben der Fluch meiner Epoche…«, schaltete er lächelnd ein, »ich hab mir nicht helfen können: im ersten Moment, wie Annerl mir die Geschichte erzählt hat, da haben gewisse unangenehme Worte, die seinerzeit ihre feststehende Bedeutung gehabt haben, in meinem alten Kopf ganz mit ihrem alten Ton zu klingen angefangen, dumme, überlebte Worte wie… Wüstling… Verführung… sitzen lassen… und so weiter. Und daher, ich muß noch einmal um Entschuldigung bitten, jetzt, da ich Sie etwas näher kennen gelernt habe – daher ist dann


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