Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
mit den grauen Siegeln und der albernen Aufschrift. »Sie habens eigentlich nicht nötig. Es ist ja doch nur ein Zufall, daß sie nicht auch anonyme Briefe bekommen hat, geradeso wie Sie, Heinrich. Und wer weiß, wenn Sie sie nicht allein gelassen hätten, aus weiß Gott was für Gründen…«
Heinrich schüttelte den Kopf und sah Georg beinahe mitleidig an. »Meinen Sie vielleicht, ich habe die Absicht zu strafen oder zu rächen? Oder glauben Sie, ich gehöre zu den Tröpfen, die an der Welt irrewerden, weil ihnen etwas passiert ist, wovon sie doch wissen, daß es schon Tausenden passiert ist vor ihnen und Tausenden nach ihnen passieren wird? Meinen Sie, ich verachte die »Ungetreue«, oder ich hasse sie? Fällt mir gar nicht ein. Womit ich nicht sagen will, daß ich nicht zuweilen die Gebärde des Hasses und der Verachtung habe, natürlich nur, um bessere Wirkungen zu erzielen ihr gegenüber. Aber in Wahrheit versteh ich ja alles, was geschehen ist, viel zu gut, als daß ich…« Er zuckte die Achseln.
»Nun, wenn Sie es verstehen
»Aber lieber Freund, das Verstehen hilft ja gar nichts. Das Verstehen ist ein Sport wie ein anderer. Ein sehr vornehmer Sport und ein sehr kostspieliger. Man kann seine ganze Seele darauf verschwenden und als ein armer Teufel dastehen. Aber mit unsern Gefühlen hat das Verstehen nicht das allergeringste zu tun – beinahe so wenig wie mit unsern Handlungen. Es schützt uns nicht vor Leid, nicht vor Ekel, nicht vor Vernichtung. Es führt gar nirgends hin. Es ist eine Sackgasse gewissermaßen. Das Verstehen bedeutet immer ein Ende.«
Auf einem Seitenpfad in mäßiger Steigung, schweigend und langsam, jeder mit seinen eigenen Gedanken, so kamen sie aus der Waldung auf offenes Wiesenland, das den Blick talwärts freigab. Sie blickten über die Stadt hin, und weiter gegen die dunstatmende Ebene, durch die schimmernd der Fluß rann; zu fernen Berglinien, vor denen dünner Rauch sich hinbreitete. Dann, im Frieden der Abendsonne spazierten sie weiter zu Georgs Lieblingsbank am Waldesrande. Die Sonne war fort. Georg sah jenseits des Tales, längs des waldigen Hügels den Sommerhaidenweg ziehen, blaß und wie ausgekühlt. Dann schaute er hinab, wußte, daß in dem Garten zu seinen Füßen ein Birnbaum stand, unter dem er vor wenig Stunden mit einer sehr Geliebten gesessen war, die sein Kind unter dem Herzen trug, und war bewegt. Für die Frauen, die vielleicht anderswo seiner warteten, spürte er eine leise Verachtung, doch war seine Sehnsucht nach ihnen darum nicht ausgelöscht. Unten auf dem Pfad zwischen Gärten und Wiesen wandelten Sommergäste. Ein junges Mädchen blickte herauf, flüsterte einer andern etwas zu. »Sie sind wohl eine populäre Persönlichkeit hier in dem Ort«, bemerkte Heinrich mit spöttisch verzogenen Mundwinkeln.
»Nicht daß ich wüßte.«
»Die hübschen Mädchen haben Sie sehr interessiert angeguckt. Das Nichtverheiratetsein der andern bleibt für die Leute doch eine unerschöpfliche Quelle von Anregungen. Diesem Sommervolk da unten bedeuten Sie jedenfalls so eine Art von Don Juan und… und Ihre Freundin ein ent-und verführtes Mädchen. Glauben Sie nicht?«
»Ich weiß nicht«, sagte Georg, das Gespräch ablehnend.
»Und was mag ich«, fuhr Heinrich unbekümmert fort, »für das Theatervolk in der kleinen Stadt vorgestellt haben? Offenbar den betrogenen Liebhaber, also eine ausschließlich lächerliche Figur. Und sie? Na, man kann sichs ja denken. Riesig einfach liegen die Dinge für die Unbeteiligten. In der Nähe schaut dann jede Geschichte doch ganz anders aus. Aber ob sie aus der Ferne nicht das richtigere Gesicht hat? Ob man sich nicht allerlei einredet, wenn man selber eine Rolle in der Komödie zu spielen hat?«
Er hätte auch daheim bleiben können, dachte Georg. Da er ihn aber nicht nach Hause schicken konnte, und um wenigstens zu einem andern Gespräch mit ihm zu gelangen, fragte er rasch: »Hören Sie nichts von Ehrenbergs?«
»Vor ein paar Tagen«, erwiderte Heinrich, »hatte ich von Fräulein Else einen etwas melancholischen Brief.«
»Sie stehen in Korrespondenz mit ihr?«
»Nein, ich stehe nicht in Korrespondenz mit ihr, wenigstens habe ich ihr noch nicht geantwortet.«
»Sie hat sich die Sache mit Oskar doch mehr zu Herzen genommen«, sagte Georg, »als sie eingestehen will. Ich habe sie einmal gesprochen, im Sanatorium. Wir sind eine ganze Weile draußen auf dem Gang gestanden vor der weiß lackierten Türe, hinter der der arme Oskar lag. Damals fürchtete man auch noch für das andere Auge. Es ist wahrhaftig eine tragische Geschichte.«
»Eine tragikomische«, verbesserte Heinrich hart.
»Sie sehen überall was Tragikomisches. Ich will Ihnen auch sagen warum. Weil Sie ziemlich herzlos sind. Das Komische tritt in diesem Falle doch ganz zurück.«
»Sie irren«, erwiderte Heinrich. »Die Ohrfeige des alten Ehrenberg war eine Brutalität, der Selbstmord Oskars eine Albernheit; daß er sich so schlecht getroffen hat, eine Ungeschicklichkeit. Aus diesen Motiven kann doch nichts Tragisches resultieren. Eine etwas widerliche Affäre ist es, das ist alles.«
Georg schüttelte ärgerlich den Kopf. Er hatte für Oskar, seit das Unglück geschehen, wirkliche Sympathie gefaßt. Und auch der alte Ehrenberg, der seither immer draußen in Neuhaus lebte, nur mehr für seine Arbeit, und keinen Menschen sehen wollte, tat ihm leid. Sie hatten beide gebüßt, schwerer als sie es verdient hatten. Vermochte Heinrich das nicht geradesogut einzusehen und zu fühlen wie er? Sie machten einen wirklich manchmal nervös, diese jüdisch-überklugen schonungslos-menschenkennerischen Leute, diese Bermann und Nürnberger. Daß man sich nur ja von nichts überraschen ließ, das blieb ihnen die Hauptsache. Güte, die war es, die ihnen fehlte. Erst wenn sie älter wurden, kam eine gewisse Milde über sie. Georg dachte an den alten Doktor Stauber, Frau Golowski, an den alten Eißler. Aber so lang sie jung waren… immer hielten sie sich auf dem qui vive. Nur ja nicht die Dümmern sein! Eine unbequeme Gesellschaft. Sehnsucht nach Felician, nach Skelton regte sich in ihm, die doch wahrhaftig auch gerade gescheit genug waren; – sogar nach Guido Schönstein.
»Bei aller Melancholie aber«, sagte Heinrich nach einiger Zeit, »scheint sich Fräulein Else ganz leidlich zu amüsieren. Es gibt auch schon wieder Besuch auf dem Auhof. Neulich waren die Wyners dort, Sissy und James. James ist in Cambridge Doktor geworden. Nobel, was?«
Der Name Sissy zuckte an Georgs Herzen vorbei, wie ein glitzernder Dolch. Er wußte es plötzlich, in wenig Tagen würde er bei ihr sein. Seine Sehnsucht schwoll so mächtig auf, daß er es selbst kaum begriff.
Die Dämmerung sank. Georg und Heinrich erhoben sich, gingen die Wiese hinab und traten in den Garten. Da sahen sie Anna in Begleitung eines Herren den mittleren Weg heraufkommen.
»Der alte Doktor Stauber«, sagte Georg, »Sie kennen ihn wohl?« Man begrüßte einander. »Ich freue mich sehr«, sagte Anna zu Heinrich, »daß ich Sie endlich einmal bei uns sehe.«
Bei uns, wiederholte Georg innerlich mit einem Befremden, das er gleich wieder zurücknahm. Er ging mit Doktor Stauber voraus. Heinrich und Anna folgten langsam.
»Wie sind Sie mit Anna zufrieden?« fragte Georg den Doktor.
»Es kann nicht besser gehen«, erwiderte Stauber. »Sie soll nur weiter regelmäßig und fleißig Bewegung machen.«
Georg fiel es ein, daß er dem Doktor, den er seit seiner Rückkehr zum erstenmal sah, die entliehenen Bücher noch nicht zurückgegeben hatte, und er brachte seine Entschuldigung vor.
»Aber das hat ja Zeit«, erwiderte Stauber. »Wenn sie Ihnen nur zustatten gekommen sind.« Und er fragte ihn nach den Eindrücken, die er aus Rom mit nach Hause genommen hätte.
Georg erzählte von Wanderungen durch die alten Kaiserpaläste, von Fahrten durch die Campagna im Abendglanz, von einer gewitterschwülen Stunde im Garten des Hadrian. Doktor Stauber bat ihn aufzuhören, sonst könnte es geschehen, daß er alle seine Patienten hier im Stich ließe, um geradewegs nach der vielgeliebten Stadt zu entfliehen. Dann erkundigte sich Georg höflich nach Doktor Berthold. Ob es auf Wahrheit beruhe, daß ihn schon der nächste Winter wieder politisch tätig finden werde.
Doktor Stauber zuckte die Achseln. »Er kommt im September zurück. Das ist vorläufig das einzig Sichere. Bei Pasteur ist er sehr fleißig gewesen, und hier im pathologischen Institut will