Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
sein sollte, das vermochte er gar nicht zu fassen. Jetzt, da die Nüchternheit der Frühe beinahe schmerzlich durch seine Sinne schlich, ward ihm das ganze Erlebnis fern und unwahrscheinlich wie noch nie. Immer hellerer Schein zeigte sich über Dächern und Türmen, aber die Stadt war noch lange nicht erwacht. Ganz regungslos lag die Luft. Von den Bäumen drüben aus dem Park kam kein Wehen, kein Duft von den verblühten Beeten. Und Georg stand am Fenster; glücklos und ohne Begreifen.
Siebentes Kapitel
Langsam stieg Georg aus dem untern Schiffsraum empor, auf schmaler, teppichbelegter Treppe, zwischen langgedehnten, schiefen Spiegeln; und in einen langen, dunkelgrünen Plaid gehüllt, der nachschleppte, wandelte er unter dem Sternenhimmel auf dem menschenleeren Verdeck auf und ab. Am Steuer, bewegungslos wie immer, stand Labinski, drehte das Rad und hatte den Blick zum offenen Meer gerichtet. Welche Karriere! dachte Georg. Zuerst Toter, dann Minister; dann ein kleiner Bub mit einem Muff und heute schon ein Steuermann. Wenn er wüßte, daß ich auf diesem Schiff bin, so würde er sicher appellieren. »Geben Sie acht«, sagten hinter Georg die zwei blauen Mädeln, die er vom Seeufer her kannte; aber schon stürzte er hin, verwickelte sich in den Plaid und hörte den Flügelschlag weißer Möven über seinem Haupt. Gleich darauf saß er unten im Salon an der Tafel, die so lang war, daß die Leute am Ende ganz klein aussahen. Ein Herr neben ihm, der dem alten Grillparzer ähnlich sah, bemerkte ärgerlich: »Immer hat dieses Schiff Verspätung, schon längst sollten wir in Boston sein.« Nun bekam Georg große Angst; denn wenn er beim Aussteigen die drei Partituren im grünen Einband nicht vorweisen konnte, so wurde er unbedingt wegen Hochverrats verhaftet. Darum sah ihn auch der Prinz, der den ganzen Tag auf dem Verdeck mit dem Rad hin und herraste, manchesmal so sonderbar von der Seite an. Und um den Verdacht noch zu steigern, mußte er an der Tafel in Hemdärmeln dasitzen, während sämtliche Herren, wie immer auf Schiffen, Generalsuniformen und alle Damen rote Samttoiletten trugen. »Gleich sind wir in Amerika«, sagte ein heiserer Steward, der Spargel verteilte, »nur noch eine Station.« Die andern können ruhig sitzen bleiben, dachte Georg, die haben nichts zu tun, ich aber muß gleich ins Theater schwimmen. Und in dem großen Spiegel ihm gegenüber erschien die Küste: lauter Häuser ohne Dächer, die terrassenartig immer höher hinaufstiegen; und ganz oben in einem weißen Kiosk mit durchbrochener Steinkuppel, ungeduldig, wartete die Musikkapelle. Die Glocke auf dem Verdeck ertönte, und Georg stolperte mit seinem grünen Plaid und zwei Handtaschen die Treppe hinauf zum Garten. Aber man hatte den unrichtigen hertransportiert; es war nämlich der Stadtpark; auf einer Bank saß Felician, neben ihm eine alte Dame in einer Mantille, legte die Finger an die Lippen, pfiff sehr laut, und mit außergewöhnlich tiefer Stimme sagte Felician: »Kemmelbach – Ybs.« Nein, dachte Georg, solch ein Wort nimmt Felician nicht in den Mund… rieb sich die Augen und erwachte.
Der Zug setzte sich eben wieder in Bewegung. Vor dem geschlossenen Kupeefenster leuchteten zwei rote Laternen auf. Dann rann still und schwarz die Nacht vorbei. Georg zog seinen Reiseplaid fester um sich und starrte auf die grün verhängte Lampe an der Decke. Ach wie gut, dachte er, daß ich allein im Kupee bin, so hab ich doch mindestens vier oder fünf Stunden fest geschlafen. Was war das für ein seltsam wirrer Traum? Die weißen Möven fielen ihm zuerst wieder ein. Ob die irgend etwas zu bedeuten hatten? Dann dachte er an die alte Frau mit der Mantille, die eigentlich niemand anders war, als Frau Oberberger. Sie würde sich nicht sonderlich geschmeichelt fühlen. Aber hatte sie nicht wirklich ausgesehen wie eine ganz alte Dame, als er sie vor ein paar Tagen an der Seite ihres leuchtenden Gemahls in der Loge des kleinen, weiß-roten Kurtheaters erblickt hatte? Und auch Labinski war ihm im Traum erschienen, als Steuermann, sonderbarerweise. Und auch die Mädchen in blauen Kleidern, die vom Hotelgarten aus durchs Fenster ins Klavierzimmer hineingeblickt hatten, sobald sie ihn spielen hörten. Aber was war denn nur das Gespenstische in diesem Traum gewesen?
Nicht die blauen Mädchen, auch Labinski nicht und nicht der Prinz von Guastalla, der zu Rad übers Verdeck gerast war. Nein, seine eigene Gestalt war ihm so gespenstisch erschienen, wie sie zu beiden Seiten neben ihm in den langgedehnten, schiefen Spiegeln, hundertmal vervielfacht einhergeschlichen war.
Es begann ihn zu frösteln. Durch den Luftspalt oben drang kühle Nachtluft ins Kupee herein. Die tiefschwarze Finsternis draußen wandelte sich allmählich in schweres Grau, und plötzlich klangen Georg Worte im Ohr, die er vor wenigen Stunden erst von einer dunkeln Frauenstimme gehört hatte, klangen flüsternd und weh: Wie bald wirst du mich vergessen haben… Er wollte die Worte nicht hören. Er wollte, sie wären schon wahr geworden, und wie verzweifelt stürzte er sich zurück in die Erinnerung seines Traums. Es war ihm ganz klar, daß der Dampfer, auf dem er die Konzertreise nach Amerika unternommen, eigentlich das Schiff bedeutet hatte, auf dem Ägidius seinem düstern Schicksal entgegenfuhr. Und der Kiosk mit der Musikkapelle war die Halle gewesen, wo den Ägidius der Tod erwartete. Wundervoll hatte der Sternenhimmel sich über das Meer gebreitet. Die Luft war so blau und die Sterne so silbern gewesen, wie er sie im Wachen niemals gesehen, nicht einmal in der Nacht, da er mit Grace von Palermo nach Neapel gereist war. Plötzlich wieder, flüsternd und weh, klang durch das Dunkel die Stimme der geliebten Frau: Wie bald wirst du mich vergessen haben… Und nun sah er sie selbst vor sich, wie er sie vor wenig Stunden erst gesehen, das dunkle Haar über die Polster fließend, bleich und nackt. Er wollte nicht dran denken, beschwor andre Bilder aus den Tiefen seiner Erinnerung hervor, jagte sie mit Willen an sich vorbei… Er sah sich auf einem Friedhof umhergehen in schmelzendem Februarschnee, mit Grace; er sah sich mit Marianne über eine weiße Landstraße dem winterlichen Wald entgegenfahren; er sah sich mit seinem Vater in später Abendstunde über die Ringstraße wandeln; und endlich drehte sich sausend ein Ringelspiel an ihm vorüber, Sissy mit lachenden Lippen und Augen schaukelte auf einem hölzernen, braunen Pferde, Else anmutig-damenhaft saß in einem roten Wägelchen, und Anna ritt einen Araber, lässig die Zügel in der Hand. Anna! Wie jung und holdselig sie aussah! War das wirklich dieselbe, die er in wenigen Stunden wiedersehen sollte; – und war er wirklich nur zehn Tage von ihr fern gewesen? Und sollte er nun alles wiedersehen, was er vor zehn Tagen verlassen hatte: zwischen Blumenbeeten den kleinen Engel aus blauem Ton, den Balkon mit dem hölzernen Giebel, den stillen Garten mit den Johannisbeerstauden und Fliederbüschen? Ganz unfaßbar erschien ihm das. Auf der weißen Bank unter dem Birnbaum wird sie mich erwarten, dachte er. Und ich werde ihre Hände küssen, als wäre nichts geschehen. »Wie gehts dir, Georg«, wird sie mich fragen, »bist du mir treu gewesen?« Nein… das ist nicht ihre Art zu fragen. Aber ohne daß sie fragt und ohne daß ich antworte, wird sie fühlen, daß ich nicht mehr als derselbe wiederkomme, der ich gegangen bin. Wenn sies doch fühlte! Wenn es mir erspart bliebe zu lügen! Aber hab ichs nicht schon getan? Und er dachte an die Briefe, die er ihr geschrieben hatte vom Seeufer her, Briefe voll Zärtlichkeit und Sehnsucht, die ja auch schon Lüge gewesen waren. Und er dachte daran, wie er nachts gewartet hatte mit klopfendem Herzen, das Ohr an die Tür gepreßt, bis alles im Gasthof still geworden, wie er dann über den Gang geschlichen war, zu jener andern, die bleich und nackt dagelegen war, mit offenen, dunkeln Augen, umströmt vom Duft und bläulichen Glanz ihrer Haare. Und er dachte dran, wie er und sie in einer Nacht halbtrunken vor Lust und Verwegenheit auf den Balkon hinausgetreten waren, unter dem verführerisch das Wasser rauschte. Wär einer in der tiefen Finsternis dieser Stunde draußen auf dem See gewesen, so hätte er die weißen Leiber durch die Nacht leuchten sehen. Georg bebte in der Erinnerung. Wir waren nicht bei Sinnen, dachte er. Wie leicht hätte es sein können, daß ich heute sechs Schuh unter der Erde läge, mit einer Kugel mitten durchs Herz. Es kann noch immer so kommen. Sie wissens ja alle. Else hat es zuerst gewußt, obwohl sie kaum je aus dem Auhof in den Ort heruntergekommen ist. James Wyner hats ihr wohl erzählt, der mich am Abend mit der Fremden auf der Landungsbrücke hat stehen sehen. Ob Else ihn heiraten wird? Daß er ihr so gut gefällt, kann ich verstehen. Er ist schön. Dieses gemeißelte Antlitz, diese kalten, grauen Augen, die klug und gerade in die Welt schauen. Ein junger Engländer. Wer weiß, ob in Wien nicht auch eine Art von Oskar Ehrenberg aus ihm geworden wäre? Und es fiel Georg ein, was Else ihm von ihrem Bruder erzählt hatte. Auf dem Krankenbett im Sanatorium war er Georg so gefaßt, beinahe gereift erschienen. Und jetzt in Ostende sollte er ein wüstes Leben führen, spielen und sich in der übelsten Gesellschaft herumtreiben, als