Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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      Achtes Kapitel

       Inhaltsverzeichnis

      Frau Golowski kam aus dem Hause. Georg sah sie vom obern Ende des Gartens aus auf die Veranda treten. Erregt eilte er ihr entgegen, aber schon wie sie ihn von ferne gewahrte, schüttelte sie den Kopf.

      »Noch nicht?« fragte Georg.

      »Der Professor meint«, erwiderte Frau Golowski, »eh es dunkel wird.«

      »Eh es dunkel wird«, sagte Georg und sah auf die Uhr. »Und jetzt ist es erst drei.«

      Sie reichte ihm teilnahmsvoll die Hand, und Georg blickte ihr in die guten etwas übernächtigen Augen. Die durchsichtigen weißen Vorhänge vor Annas Fenster wurden eben leicht zurückgeschlagen. Der alte Doktor Stauber erschien in der Fensteröffnung, warf Georg einen freundlich-beruhigenden Blick zu, verschwand wieder und die Vorhänge fielen zu. Im großen Mittelzimmer am runden Tische saß Frau Rosner. Georg nahm von der Veranda aus nur die Umrisse ihrer Gestalt wahr; ihr Gesicht war ganz umschattet. Wieder drang ein Wimmern, dann ein lautes Stöhnen aus dem Zimmer, in dem Anna lag. Georg starrte zum Fenster hin, wartete eine Weile, dann wandte er sich ab und ging, zum hundertstenmal heute, den Weg hinauf zum obern Gartenende. Offenbar ist sie schon zu schwach, um zu schreien, dachte er; und das Herz tat ihm weh. Zwei volle Tage und zwei volle Nächte lag sie in Wehen; der dritte neigte sich zum Ende, – und nun sollte es noch dauern, bis der Abend kam! Schon am Abend des ersten Tages hatte Doktor Stauber einen Professor beigezogen, der gestern zweimal dagewesen und heute seit Mittag im Hause war. Während Anna auf ein paar Minuten eingeschlummert war und die Wärterin an ihrem Bette wachte, war er mit Georg im Garten auf und ab gegangen und hatte versucht, ihm den Fall in seiner ganzen Eigentümlichkeit zu erläutern. Zur Besorgnis sei vorläufig kein Grund vorhanden, immer noch höre man die Herztöne des Kindes vollkommen deutlich. Der Professor war ein noch ziemlich junger Mann, mit langem, blonden Bart, und seine Worte träufelten lind und gütig, wie Tropfen eines schmerzstillenden Medikaments. Der Kranken sprach er zu wie einem Kind, strich ihr über Stirn und Haare, streichelte ihre Hände und gab ihr Schmeichelnamen. Von der Wärterin hatte Georg erfahren, daß dieser junge Arzt an jedem Krankenbett von gleicher Hingebung und Geduld erfüllt wäre. Welch ein Beruf, dachte Georg, der sogar während dieser drei schlimmen Tage sich einmal für ein paar Stunden nach Wien geflüchtet, der es vermocht hatte, auch heute Nacht, während Anna sich in Schmerzen wand, oben in der Mansarde volle sechs Stunden tief und traumlos zu schlafen.

      Er ging längs der abgeblühten Fliedersträucher, riß Blätter ab, zerrieb sie in der Hand, warf sie zur Erde. Jenseits der niedern Büsche im andern Garten ging eine Dame im schwarz-weiß gestreiften Morgenkleid. Sie schaute Georg ernst und wie mitleidig an. Ach ja, dachte Georg, die hat natürlich auch das Schreien Annas gehört, vorgestern, gestern und heute. Der ganze Ort wußte ja von den Dingen, die hier vorgingen; auch die jungen Mädchen aus der geschmacklosen, gotischen Villa, für die er einmal den interessanten Verführer bedeutet hatte; und geradezu komisch war es, daß ein fremder Herr mit rötlichem Spitzbart, der zwei Häuser weit wohnte, ihn gestern im Ort plötzlich verständnis-und hochachtungsvoll gegrüßt hatte.

      Merkwürdig, dachte Georg, wodurch man sich bei den Leuten beliebt machen kann. Nur Frau Rosner ließ durchblicken, daß sie Georg, wenn sie ihm schon nicht die Hauptschuld an der Schwierigkeit des Falles beimaß, jedenfalls für ziemlich gefühllos hielte. Er nahm es der guten und gedrückten Frau nicht übel. Sie konnte natürlich nicht ahnen, wie sehr er Anna liebte. Es war noch nicht lange her, daß er selber es wußte.

      An jenem Ankunftsmorgen, da Georg nach langem, stummem Weinen sein Haupt aus ihrem Schoß erhoben, da hatte sie keine Frage an ihn gerichtet, aber in ihren schmerzlich erstaunten Augen las er, daß sie die Wahrheit ahnte. Und warum sie nicht fragte, das glaubte er zu verstehen. Sie mußte ja fühlen, wie ganz sie ihn wieder hatte, wie er gerade von jetzt an ihr besser gehörte, als jemals vorher. Und wenn er ihr in den nächsten Stunden und Tagen von der Zeit erzählte, die er fern von ihr verbracht, und unter all den Frauennamen, die er nannte, flüchtig aber unverschweigbar jener ihr neue, verhängnisvolle erklang, da lächelte sie wohl in ihrer leicht spöttischen Art; aber kaum anders, als wenn er von Else sprach oder von Sissy, oder von den kleinen blaugekleideten Mädchen, die ins Klavierzimmer hereingeguckt hatten, wenn er spielte.

      Seit zwei Wochen wohnte er in der Villa, fühlte sich wohl und war in guter und ernster Arbeitsstimmung. Auf dem Tischchen, wo vor kurzem noch Theresens Nähzeug gelegen war, breitete er jeden Morgen Partituren, musiktheoretische Werke, Notenpapiere aus und beschäftigte sich damit, Aufgaben der Harmonielehre und des Kontrapunkts zu lösen. Oft lag er am Waldessaum auf einer Wiese, las in irgend einem Lieblingsbuch, ließ Melodien in sich klingen, träumte vor sich hin, war vom Rauschen der Bäume und vom Glanz der Sonne beglückt. Nachmittags, wenn Anna ruhte, las er ihr vor oder plauderte mit ihr. Oft sprachen sie auch über das kleine Wesen, das nun bald zur Welt kommen sollte, mit Zärtlichkeit und Voraussicht; doch niemals über ihre eigene, nächste und fernere Zukunft. Aber wenn er an ihrem Bette saß, oder Arm in Arm mit ihr im Garten auf und abging, oder an ihrer Seite auf der weißen Bank unter dem Birnbaum saß, wo die leuchtende Stille der Spätsommertage über ihnen ruhte, da wußte er, daß sie nun für alle Zeit fest aneinandergeschlossen waren, und daß selbst die zeitweilige Trennung, die bevorstand, gegenüber dem sichern Gefühl dieser Zusammengehörigkeit keine Macht mehr über sie haben könnte.

      Erst seit die Schmerzen über sie gekommen waren, schien sie ihm entrückt, wohin er ihr nicht folgen konnte. Gestern noch war er stundenlang an ihrem Bett gesessen und hatte ihre Hände in den seinen gehalten. Sie war geduldig gewesen wie immer, hatte sich sorglich erkundigt, ob er nur seine Ordnung im Hause habe, hatte ihn gebeten zu arbeiten, spazieren zu gehen wie bisher, da er ihr ja doch nicht helfen könnte, und ihn versichert, daß sie ihn noch mehr liebe, seit sie leide. Und doch, Georg fühlte es, sie war in diesen Tagen nicht dieselbe, die sie gewesen. Besonders wenn sie aufschrie – so wie heute Vormittag in den schlimmsten Schmerzen –, da war ihre Seele so weit weg von ihm, daß ihn schauerte.

      Er war dem Hause wieder nah. Aus Annas Zimmer, vor dessen Fenster die Vorhänge sich leise bewegten, kam kein Laut. Der alte Doktor Stauber stand auf der Veranda. Georg eilte hin, mit trockener Kehle. »Was ist?« fragte er hastig.

      Doktor Stauber legte ihm die Hand auf die Schulter: »Es geht ganz gut.« Ein Stöhnen kam von drin, wurde lauter, wurde ein wilder, wütender Schrei. Georg strich sich über die feuchte Stirn, und mit bitterm Lächeln sagte er zum Doktor: »Das heißen Sie, es geht ganz gut?«

      Stauber zuckte die Achseln: »Es steht geschrieben, mit Schmerzen sollst du…«

      In Georg lehnte sich etwas auf. Er hatte nie an den Gott der Kindlich-Frommen geglaubt, der als Erfüller armseliger Menschenwünsche, als Rächer und Verzeiher kläglicher Menschensünden sich offenbaren sollte. Dem Unnennbaren, das er jenseits seiner Sinne und über allem Verstehen im Unendlichen ahnte, konnte Beten und Lästern nichts anderes sein, als arme Worte aus Menschenmund. Nicht als die Mutter nach unsinnig-martervollem Leid, nicht, als in einem für sein Begreifen schmerzenlosen Hingang der Vater starb, hatte er sich des Glaubens vermessen, daß sein Unglück im Weltenlauf mehr bedeutete, als das Fallen eines Blattes. Keinem unerforschlichen Ratschluß hatte er in feiger Demut sich gebeugt, nicht töricht gemurrt gegen ein ungnädiges, gerade über ihn verhängtes Walten. Heute zum erstenmal war ihm, als ginge irgendwo in den Wolken ein unbegreifliches Spiel um seine Sache. Der Schrei drinnen war verklungen, und nur Stöhnen war vernehmbar.

      »Und die Herztöne?« fragte Georg.

      Doktor Stauber sah an Georg vorbei. »Vor zehn Minuten waren sie noch deutlich zu hören.«

      Georg wehrte sich gegen einen furchtbaren Gedanken, der aus den Tiefen seiner Seele hervorgejagt kam. Er war gesund, sie war gesund, zwei junge kräftige Menschen… konnte so etwas denn möglich sein? Doktor Stauber legte ihm nochmals die Hand auf die Schulter. »Gehen Sie doch spazieren«, sagte er, »wir rufen Sie schon, wenn’s Zeit ist.« Und er wandte sich ab.

      Georg blieb noch einen Augenblick auf der Veranda stehen. In dem großen Zimmer, das in Spätnachmittagsdämmer zu


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