Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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warf sich aufs Bett, schloß die Augen; nach ein paar Minuten stand er auf, ging im Zimmer hin und her, gab es aber wieder auf, da der Boden krachte. Er trat auf den Balkon. Auf dem Tisch lag die Partitur des »Tristan« aufgeschlagen. Georg blickte in die Noten. Es war das Vorspiel zum dritten Akt. Die Klänge tönten ihm im Ohr. Meereswellen schlugen dumpf an ein Felsenufer, und aus trauriger Ferne klang die wehe Melodie des englischen Horns. Er sah über die Blätter weg in den silberweißen Glanz des Tages. Sonne lag überall, über Dächern, Wegen, Gärten, Hügeln und Wäldern. Dunkelblau breitete der Himmel sich hin, und Ernteduft stieg aus den Tiefen. Wie stand es heute vor einem Jahr mit mir? dachte Georg. Ich war in Wien, ganz allein. Ich ahnte noch nichts. Ich hatte ihr ein Lied geschickt… »Deinem Blick mich zu bequemen…« Aber ich dachte kaum an sie… Und jetzt liegt sie da unten und stirbt… Er erschrak heftig. Er hatte denken wollen… sie liegt in Wehen, und auf die Lippen gleichsam hatte es sich ihm gestohlen: sie stirbt. Aber warum war er denn erschrocken? Wie kindisch. Als gäb es Ahnungen solcher Art! Und wenn wirklich Gefahr da wäre und die Ärzte sich entscheiden müßten, so hatten sie natürlich vor allem die Mutter zu retten. Darüber hatte ihn ja Doktor Stauber vor wenigen Tagen erst aufgeklärt. Was ist denn ein Kind, das noch nicht gelebt hat? Nichts. In irgend einem Augenblicke hatte er es gezeugt, ohne es gewünscht, ohne nur an die Möglichkeit gedacht zu haben, daß er Vater geworden sein könnte. Wußte er denn, ob er es nicht vielleicht auch vor wenigen Wochen geworden war, in jener dunkeln Wonnestunde, hinter geschlossenen Läden… auch damals Vater, ohne es gewollt, ohne nur an die Möglichkeit gedacht zu haben; und vielleicht, wenn es geschehen war, ohne es jemals zu erfahren?

      Er hörte Stimmen, sah hinunter; der Kutscher des Professors hatte ein Dienstmädchen am Arm gefaßt, das sich nur wenig sträubte. Auch hier wird vielleicht zu einem neuen Menschenleben der Grund gelegt, dachte Georg und wandte sich angewidert fort. Dann trat er ins Zimmer zurück, füllte sich seine Zigarettentasche sorgfältig aus der Schachtel, die auf dem Tisch stand, und plötzlich kam ihm seine Aufregung unbegründet, ja kindisch vor. Und es fiel ihm ein: Wie Anna jetzt, so lag auch meine Mutter einmal da, eh ich zur Welt kam. Ob mein Vater auch in solcher Angst herumgegangen ist? Ob er heute hier wäre, wenn er noch lebte? Ob ich’s ihm überhaupt gesagt hätte? Ob all das geschehen wäre, wenn er lebte? Er dachte an schöne, sorgenlose Sommertage am Veldeser See. Sein behagliches Zimmer in des Vaters Villa schwebte in seiner Erinnerung auf, und in dumpfer, beinahe traumhafter Weise wurde ihm die kahle Mansarde mit dem krachenden Fußboden, in der er sich eben befand, zum Bilde seiner ganzen jetzigen Existenz, gegenüber dem sorgen-und verantwortungslosen Dasein von einst. Er erinnerte sich eines ernsten Zukunftsgesprächs, das er vor ein paar Tagen mit Felician geführt hatte. Gleich darauf kam ihm die Unterredung mit einer Frau vom Land in den Sinn, die sich mit dem Anerbieten gemeldet hatte, das Kind in Pflege zu nehmen. Mit ihrem Mann besaß sie ein kleines Gütchen nahe der Bahn, nur eine Stunde weit von Wien, und im vorigen Jahr war ihr das eigene Töchterl gestorben. Das Kleine sollte es gut bei ihr haben, hatte sie versprochen, so gut, als wenn es gar nicht bei fremden Leuten wäre. Und wie Georg daran dachte, war ihm plötzlich, als stände ihm das Herz still. Eh es dunkel ist, wird es da sein… das Kind. Sein Kind, auf das schon irgend eine Fremde wartete, um es mit sich zu nehmen. Er war so müde von den Aufregungen der letzten Tage, daß ihn die Knie schmerzten. Er erinnerte sich ähnlicher körperlicher Empfindungen aus früherer Zeit, vom Abend nach der Maturitätsprüfung und von der Stunde in der er Labinskis Selbstmord erfahren hatte. Vor drei Tagen, als die Wehen anfingen, wie anders, wie freudig und erwartungsvoll war ihm da zumut gewesen! Jetzt spürte er nichts, als ein Abgeschlagensein ohnegleichen, und immer unangenehmer empfand er den muffigen Geruch der Mansarde. Er zündete sich eine Zigarette an und trat wieder auf den Balkon hinaus. Die warme, stille Luft tat ihm wohl. Auf dem Sommerhaidenweg lag noch die Sonne, und vom Friedhof her, über die Mauer, schimmerte ein vergoldetes Kreuz.

      Er hörte unter sich ein Geräusch. Schritte? Ja, Schritte und auch Stimmen. Er verließ den Balkon, das Zimmer, lief über die knarrende Holztreppe hinab. Eine Tür ging, eilige Schritte waren im Flur. Im nächsten Moment stand er auf der untersten Stufe, Frau Golowski gegenüber. Sein Herz stand ihm stille. Er öffnete den Mund ohne zu fragen. »Ja«, nickte sie, »ein Bub«.

      Er faßte ihre beiden Hände, spürte, wie er über das ganze Gesicht lachte, ein Strom von Glück, wie er so mächtig und heiß ihn niemals erwartet, rann durch seine Seele. Plötzlich merkte er, daß die Augen der Frau Golowski nicht so hell leuchteten, wie sie wohl hätten tun müssen. Der Strom des Glücks in ihm staute zurück. Irgendetwas schnürte ihm die Kehle zusammen. »Nun?« fragte er. Und drohend beinah: »Lebt’s?« »Es hat einen Atemzug getan… der Professor hofft…« Georg schob die Frau beiseite, war mit drei Schritten im großen Mittelzimmer, und wie gebannt blieb er stehen. Der Professor, im langen, weißen Leinenkittel, hielt ein kleines Wesen in den Armen und wiegte es hastig hin und her. Georg blieb starr. Der Professor nickte ihm zu und ließ sich nicht stören. Mit durchdringenden Augen betrachtete er das kleine Wesen auf seinen Armen. Er legte es auf den Tisch hin, über den ein weißes Linnen gebreitet war, nahm mit den Gliedmaßen des Kindes heftige Bewegungen vor, rieb ihm die Brust und Antlitz, dann hob er es in die Höhe, einigemale hintereinander, und immer wieder sah Georg, wie der Kopf des Kindes schwer auf die Brust niedersank. Dann legte der Arzt das Kind auf das Linnen hin, horchte an der Brust, erhob sich, ließ die eine Hand auf dem kleinen Körper liegen und winkte mit der andern Georg sanft zu sich heran.

      Georg, unwillkürlich den Atem anhaltend, trat ganz nahe hin. Er sah zuerst den Doktor an und dann das kleine Wesen, das auf dem weißen Linnen lag. Das hatte die Augen ganz offen, sonderbar große, blaue Augen, wie die von Anna waren. Das Gesicht sah anders aus, als Georg erwartet hatte, nicht verrunzelt und häßlich wie das eines alten Zwerges, nein; es war wirklich ein Menschenantlitz, ein schönes, stilles Kindergesicht; und Georg wußte, daß diese Züge das Ebenbild seiner eigenen waren.

      Der Professor sagte leise: »Schon seit einer Stunde hab ich die Herztöne nicht mehr gehört.«

      Georg nickte. Dann fragte er heiser: »Wie geht’s ihr?«

      »Ganz gut. Aber Sie dürfen jetzt nicht hinein, Herr Baron.«

      »Nein«, erwiderte Georg und schüttelte den Kopf. Er starrte den bläulich schimmernden, regungslosen, kleinen Körper an und wußte, daß er vor der Leiche seines Kindes stand. Trotzdem sah er wieder den Arzt an und fragte: »Nichts mehr zu machen?«

      Der zuckte die Achseln.

      Georg atmete tief auf und wies nach der geschlossenen Schlafzimmertür. »Weiß sie schon –?« fragte er den Arzt.

      »Noch nicht. Seien wir vorläufig zufrieden, daß es vorbei ist. Sie hat viel zu leiden gehabt, die Arme. Ich bedaure nur, daß es schließlich für nichts gewesen ist.«

      »Sie haben es erwartet, Herr Professor?«

      »Ich hab es gefürchtet seit heute Morgen.«

      »Und wieso… wieso?«

      Leise und mild erwiderte der Arzt: »Ein sehr seltener Fall, wie ich Ihnen vorher schon sagte.«

      »Sie sagten mir…?«

      »Ja. Ich versuchte Ihnen zu erklären, daß diese Möglichkeit – Es ist nämlich vom Nabelstrang erwürgt worden. Kaum ein bis zwei Prozent aller Geburten haben diesen Ausgang.« Er schwieg. Georg starrte das Kind an. Ganz recht, der Professor hatte ihn schon vorbereitet; er hatte es nur nicht ernst genommen. Frau Rosner stand neben ihm mit hilflosen Augen. Georg reichte ihr die Hand, und sie sahen einander an, wie Schwergeprüfte, die das Unglück zu Gefährten macht. Dann ließ sich Frau Rosner auf einen Sessel an der Wand nieder.

      Der Professor sagte zu Georg: »Ich will jetzt noch einmal nach der Mutter sehen.«

      »Mutter«, wiederholte Georg und sah ihn an.

      Der Arzt schaute weg.

      »Sie wollen’s ihr sagen?« fragte Georg.

      »Nein, nicht gleich. Sie wird übrigens darauf gefaßt sein. Sie hat im Lauf des Tages einigemal gefragt, ob es noch lebt. Es wird auch nicht so furchtbar auf sie wirken, wie Sie fürchten, Herr Baron… gerade in den ersten Stunden und Tagen nicht. Sie dürfen nicht vergessen, was sie durchgemacht hat.«

      Er


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