Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


Скачать книгу
ein Gebilde von ungeahnter Schönheit. Er berührte Wangen, Schultern, Arme, Hände, Finger. Wie rätselhaft vollendet dies alles war. Und da lag es nun, gestorben, ohne gelebt zu haben, bestimmt, von einer Dunkelheit durch ein sinnloses Nichts hindurch in eine andre einzugehen. Da lag dieser süße, kleine Leib, der fürs Dasein fertig war und sich doch nicht regen konnte. Da schimmerten große, blaue Augen, wie in Sehnsucht das Licht des Himmels in sich einzutrinken und todesblind, eh sie einen Strahl gesehen. Da öffnete sich wie durstig ein kleiner, runder Mund, der doch nie an den Brüsten einer Mutter trinken durfte. Da starrte dieses bleiche Kindergesicht, mit den fertigen Menschenzügen, das nie den Kuß einer Mutter, eines Vaters empfangen und spüren sollte. Wie liebte er dieses Kind! Wie liebte er es jetzt, da es zu spät war. Eine schnürende Verzweiflung stieg in seine Kehle. Er konnte nicht weinen. Er sah um sich. Niemand war im Zimmer, und daneben war es ganz still. Er hatte keine Sehnsucht in jenes andre Zimmer zu gehen und keine Angst davor; er fühlte nur, daß es etwas Unsinniges gewesen wäre. Sein Auge kehrte auf das tote Kind zurück, und plötzlich durchzuckte ihn die bebende Frage, ob es denn auch wahr sein müßte? Ob nicht alle sich irren konnten? Der Arzt so gut, wie der Unerfahrene. Er hielt seine flache Hand vor die geöffneten Lippen des Kindes und ihm war, als hauchte etwas Kühles ihm entgegen. Dann hielt er beide Hände über die Brust des Kindes, hin und wieder war ihm, als spielte leicht bewegte Luft um den kleinen Leib. Aber er fühlte da wie dort: Nicht Hauch des Lebens hatte ihn angeweht. Nun beugte er sich nieder, und seine Lippen berührten die kühle Stirn des Kindes. Etwas Seltsames, nie Gefühltes rieselte ihm durch den Körper bis in die Zehenspitzen. Er wußte es nun: Das Spiel dort oben war für ihn verloren, sein Kind war tot. Da erhob er langsam das Haupt und wandte sich fort. Die Gartenhelle lockte ihn ins Freie. Er trat auf die Veranda, sah auf der Bank an die Wand gelehnt Doktor Stauber und Frau Rosner sitzen. Beide stumm. Sie sahen ihn an. Er wandte sich weg, als kennte er sie nicht, und trat in den Garten. Der Schatten des Hauses fiel schräg über den Rasen hin; weiter oben lag noch Sonne, doch stumpf und wie ohne Kraft die Luft zu durchleuchten. Woran wollte ihn dies Licht nur erinnern, das Sonne war und doch nicht glänzte, dieses Blau in der Höhe, das Himmel war und ihn doch nicht segnete? Woran die Stummheit dieses Gartens, die ihm vertraut und tröstlich sein sollte und die ihn heute wie etwas Fremdes und Ungastliches empfing? Allmählich fiel ihm ein, daß ihn vor kurzem in einem Traum solch ein schwerer, früher nie geahnter Dämmerschein umgeben und seine Seele mit unverständlicher Traurigkeit erfüllt hatte. Was nun? sagte er vor sich hin, suchte nach keiner Antwort und wußte nur, daß irgend etwas Unvorhergesehenes und Unabänderliches geschehen war, das ihm für alle Zeiten das Bild der Welt verändern mußte. Er dachte des Tages, an dem sein Vater gestorben war. Ein wilder Schmerz hatte ihn damals überfallen; doch er hatte weinen können, und die Erde war nicht mit einemmal dunkel und leer geworden. Sein Vater hatte doch gelebt, war einmal jung gewesen, hatte gearbeitet, geliebt, Kinder gehabt, Freuden und Schmerzen erfahren. Und die Mutter, die ihn geboren, hatte nicht umsonst gelitten. Und wenn er selbst heute hätte sterben müssen, so früh es gewesen wäre, er hatte doch ein Dasein hinter sich, erfüllt von Licht und Tönen, Glück und Leiden, Hoffnung und Angst, durchflutet von allem Inhalt der Welt. Und wenn Anna heute dahingegangen wäre, in der Stunde, da sie einem neuen Wesen das Leben gab, sie hätte gleichsam ihr Los erfüllt und ihr Ende hätte seinen grauenvollen, aber tiefen Sinn gehabt. Doch das, was seinem Kind geschehen war, war sinnlos, widerwärtig, ein Hohn von irgendwoher, wohin man keine Frage und keine Antwort senden konnte. Wozu, wozu das alles? Was hatten nun diese vorhergegangenen Monate zu bedeuten gehabt, mit all ihren Träumen, Sorgen und Hoffnungen? Denn er wußte mit einem Male, daß die Erwartung der wunderbaren Stunde, in der sein Kind geboren werden sollte, immer, Tag für Tag, auch am nüchternsten, leersten und leichtfertigsten, in der Tiefe seiner Seele gewesen war; und er fühlte sich beschämt, verarmt, elend.

      Er stand oben am Gartengitter und sah zum Waldesrande auf, zu seiner Bank, auf der er oft geruht hatte, und ihm war, als wäre auch Wald und Wiese und Bank früher sein Besitz gewesen und er müsse nun auch das hergeben, wie so vieles andere. Im Winkel des Gartens stand ein dunkelgraues, vernachlässigtes Lusthäuschen mit drei kleinen Fensterhöhlen und einer schmalen Türöffnung. Er hatte es nie leiden mögen und nur einmal auf ein paar Augenblicke betreten. Heute zog es ihn hinein. Er setzte sich auf die rissige Bank hin und kam sich plötzlich geborgen und beruhigt vor, als wäre nun alles, was geschehen, weniger wahr oder in irgendeiner unbegreiflichen Weise rückgängig zu machen. Doch schwand dieser Wahn bald wieder dahin, er verließ den unwirtlichen Raum und trat ins Freie. Ich muß jetzt wohl ins Haus zurück, dachte er müde und faßte es doch nicht ganz, daß in dem dunkeln Zimmer, das er von hier aus hinter der Veranda, wie eine unergründliche Finsternis liegen sah, der Leichnam seines Kindes ruhen sollte. Langsam ging er hinab. Auf der Veranda stand Annas Mutter mit einem Herrn. Georg erkannte den alten Rosner. Im Überzieher stand er da, den Hut hatte er auf den Tisch vor sich hingelegt, fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn, und es zuckte um seine rotgeränderten Augen. Er ging Georg entgegen und drückte ihm die Hand.»Das ist ja leider anders gekommen«, sagte er, »als wir alle erwartet und gehofft hatten.«

      Georg nickte. Dann erinnerte er sich, daß der alte Herr in den letzten Wochen mit dem Herzen nicht ganz in Ordnung gewesen war, und erkundigte sich nach seinem Befinden.

      »Ich danke der Nachfrage, Herr Baron, es geht mir etwas besser, nur das Stiegensteigen macht einige Beschwerden.«

      Georg merkte, daß die Glastüre zum Mittelzimmer geschlossen war. »Entschuldigen Sie«, sagte er zu dem alten Rosner, schritt geradenwegs auf die Türe los, öffnete sie und schloß sie rasch wieder hinter sich zu. Frau Golowski und Doktor Stauber standen in der Nähe des Tisches und sprachen miteinander. Er trat zu ihnen, sie schwiegen plötzlich.

      »Nun?« fragte er dann.

      Doktor Stauber sagte: »Wir haben über… die Formalitäten gesprochen. Frau Golowski wird so gut sein und all das zu besorgen.«

      »Ich danke«, erwiderte Georg und reichte Frau Golowski die Hand. »All das«, dachte er. Ein Sarg, ein Begräbnis, Meldung beim Gemeindeamt: geboren ein Sohn der ledigen Anna Rosner, gestorben am gleichen Tage. Nichts vom Vater natürlich. Ja, seine Rolle war erledigt. Heut erst? War sie’s nicht von der Sekunde an gewesen, da er zufällig Vater geworden war?

      Er sah auf den Tisch hin. Das Linnen lag über die kleine Leiche hingebreitet. O wie rasch, dachte er bitter. Soll ich’s niemals wiedersehen dürfen? Einmal wird’s wohl noch erlaubt sein. Er zog das Tuch von der Leiche ein wenig fort und hielt es in die Höhe gefaßt. Er sah ein blasses Kindergesicht, das ihm längst bekannt war, nur daß die Augen seither von irgendwem zugedrückt worden waren. Die alte Standuhr in der Ecke tickte. Sechs Uhr. Es war noch keine Stunde vergangen, seit sein Kind geboren und gestorben war; und schon stand diese Tatsache so unwidersprechlich fest, als hätte es gar nicht anders sein können.

      Er fühlte sich leicht an der Schulter berührt.

      »Sie hat es mit Ruhe aufgenommen«, sagte Doktor Stauber, der hinter ihm stand.

      Georg ließ das Linnen über das Antlitz des Kindes sinken und wandte den Kopf nach der Seite. »Sie weiß also schon…?«

      Doktor Stauber nickte. Frau Golowski hatte sich abgewandt.

      »Wer hat’s ihr gesagt?« fragte Georg.

      »Man hat es ihr gar nicht zu sagen brauchen«, erwiderte Doktor Stauber. »Nicht wahr?« wandte er sich an Frau Golowski.

      Diese berichtete: »Wie ich zu ihr hineingegangen bin, hat sie mich nur angeschaut, und da hab ich gleich gesehen, daß sie es schon weiß.«

      »Und was hat sie gesagt?«

      »Nichts. Gar nichts. Sie hat ihre Augen zum Fenster hin gewandt und ist ganz still gewesen. Wo Sie hingegangen sind, Herr Baron, hat sie mich gefragt, und was Sie machen.«

      Georg atmete tief auf. Die Türe von Annas Zimmer öffnete sich. Der Professor, im schwarzen Rock, trat heraus. »Sie ist ganz ruhig«, sagte er zu Georg. »Sie können zu ihr hinein.«

      »Hat sie mit Ihnen darüber gesprochen?« fragte Georg.

      Der Professor schüttelte den Kopf. Dann sagte er: »Ich muß jetzt leider in die Stadt. Sie entschuldigen, nicht wahr? Ich hoffe, es wird weiter gut gehen.


Скачать книгу