Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
die Gedanken ihm durch den Kopf stürmten… Auch das konnte man auf einen Augenblick vergessen?
Heinrich sprach noch immer; es war ganz offenbar, daß er sich übertäuben wollte. Er fuhr fort, die Philosophen zu vernichten. Eben war er daran, sie von Dichtern zu Spielenden zu degradieren. Jedes System – jedes philosophische und jedes moralische sei Wortspielerei. Eine Flucht aus der bewegten Fülle der Erscheinungen in die Marionettenstarre der Kategorien. Aber das war es eben, wonach es die Menschen verlangte. Daher alle Philosophie, alle Religion, alle Sittengesetze! Auf dieser Flucht waren sie immerfort begriffen. Wenigen, gar wenigen war die ungeheure, innere Bereitschaft gegeben, jede Erfahrung als neu und einzig zu empfinden – die Kraft es zu ertragen, daß sie in jedem Augenblick gleichsam in einer neuen Welt stünden. Und doch: nur dem, der den feigen Drang überwinde, alle Erlebnisse in Worte einzuengen, dem zeige das Leben – das vielfältig-eine, das wunderbare, sich in seiner wahren Gestalt.
Georg hatte die Empfindung, als strebte Heinrich mit all seinen Reden nur dies an: vor sich selbst jede Verantwortung gegenüber einem höhern Gesetz abzuschütteln, indem er keines anerkannte. Und wie in einem wachsenden Widerstand gegen Heinrichs faselhaft wunderliches Gebaren fühlte er, wie sich in seiner eigenen Seele das Bild der Welt, das ihm vor Stunden erst wie in Stücke zu zerfallen gedroht hatte, allmählich wieder zusammenzuschließen begann. Eben noch hatte er sich gegen die Sinnlosigkeit des Schicksals aufgelehnt, das ihn heute betroffen, und schon begann er dumpf zu ahnen, daß auch das, was ihm ein trauriger Zufall geschienen, nicht aus dem Leeren auf sein Haupt heruntergestürzt war, sondern daß es ebenso auf einem vorbestimmten, nur dunklern Weg zu ihm herangezogen war, wie das, was auf weithin sichtbarer Straße sich ihm nahte und das er gewohnt war, Notwendigkeit zu nennen.
Sie waren vor dem Hause, in dem Heinrich wohnte. Der Hausmeister stand am Tor und teilte mit, daß er vor kurzem eine Depesche in Heinrichs Zimmer gelegt hätte.
»So?« sagte Heinrich wie gleichgültig und ging langsam die Treppen hinauf. Georg folgte. Im Vorzimmer zündete Heinrich eine Kerze an. Auf einem kleinen Tischchen lag die Depesche. Heinrich öffnete sie, hielt sie nah zum flackernden Licht hin, las für sich und wandte sich dann zu Georg. »Sie wurde heute morgens auf der Probe erwartet und ist nicht erschienen.« Er nahm den Leuchter in die Hand und trat, von Georg gefolgt, in den nächsten Raum, stellte das Licht auf den Schreibtisch und ging im Zimmer auf und ab. Georg hörte durchs offene Fenster über den dunkeln Hof Klaviergeklimper. »Sonst enthält die Depesche nichts?« fragte er.
»Nein. Aber offenbar ist sie nicht nur nicht auf der Probe gewesen, sondern war auch in ihrer Wohnung nicht zu finden. Sonst hätte man wohl telegraphiert, daß sie krank sei, oder sonst ein Wort der Erklärung. Ja, lieber Georg« – er atmete tief auf – »diesmal ist es geschehen.«
»Warum? Dafür ist doch kein Beweis vorhanden, kaum ein Anhaltspunkt.«
Heinrich schnitt mit einer seiner kurzen Handbewegungen die Rede des andern ab. Dann sah er auf die Uhr und sagte: »Heut hab ich keinen Zug mehr… Ja… was soll man nur – was soll man nur beginnen?« Er hielt inne, blieb stehen und sagte plötzlich: »Ich werde zu ihrer Mutter fahren. Ja. Das ist das beste… Vielleicht, vielleicht…«
Sie verließen die Wohnung. An der nächsten Ecke nahmen sie einen Wagen.
»Hat die Mutter etwas gewußt?« fragte Georg.
»Ach Gott«, sagte Heinrich. »Was Mütter eben zu wissen pflegen. Es ist ja unglaublich, wie wenig die Menschen über das nachdenken, was in ihrer nächsten Nähe vorgeht, wenn sie nicht durch einen äußern Anlaß dazu genötigt werden. Und die meisten Menschen ahnen nicht einmal, was sie alles wissen, in der Tiefe ihrer Seele wissen, ohne sich’s einzugestehen. Die gute Frau wird wohl etwas erstaunt sein, wenn ich so plötzlich vor ihr auftauche… ich habe sie schon lange nicht gesehen.«
»Was werden Sie ihr sagen?«
»Ja, was werde ich ihr sagen?« wiederholte Heinrich und biß an seiner Zigarre herum. »Hören Sie, ich habe eine großartige Idee. Sie werden mit mir kommen, Georg, ich stelle Sie als Direktor vor, ja? Sie sind auf der Durchreise hier, müssen noch heute mit einem Separatzug um elf Uhr fort, nach Petersburg, haben irgendwie gehört, daß sich das Fräulein in Wien aufhält, und ich, als alter Bekannter des Hauses bin so liebenswürdig Sie vorzustellen.«
»Sind Sie zu dergleichen Komödien aufgelegt?« fragte Georg.
»Ach verzeihen Sie, Georg! Es ist ja alles gar nicht notwendig. Ich frage die Alte einfach, ob sie Nachricht hat… Was sagen Sie… wie schwül diese Nacht ist?«
Sie fuhren über den Ring, durch den hallenden Burghof, durch die Straßen der Stadt. Georg war eigentümlich gespannt. Wenn die Schauspielerin nun wirklich ruhig bei ihrer Mutter zu Hause säße, dachte er. Er fühlte, daß es eine Art Enttäuschung für ihn bedeuten würde. Dann schämte er sich dieser Regung. Ist denn die ganze Geschichte eine Zerstreuung für mich, dachte er. Was den andern Leuten passiert… ist uns wohl selten mehr, würde Nürnberger finden… Eine seltsame Art sich zu zerstreuen, um den Tod seines Kindes zu vergessen… Aber was soll man tun?… Ändern kann ich nichts mehr. In ein paar Tagen reis’ ich fort. Gott sei Dank.
Der Wagen hielt vor einem Hause in der Nähe des Pratersterns. Über den Viadukt gegenüber dröhnte eben ein Zug, darunter weg liefen die Alleen des Praters ins Dunkle. Heinrich schickte den Wagen fort. »Ich danke Ihnen sehr«, sagte er zu Georg. »Leben Sie wohl.«
»Ich warte hier auf Sie.«
»Wollen Sie wirklich? Nun, ich bin Ihnen sehr dankbar.«
Er verschwand im Haustor. Georg ging auf und ab. Rings herum auf den Straßen war es trotz der späten Stunde noch ziemlich belebt. Aus dem Prater drangen die Klänge eines Militärorchesters zu ihm her. Ein Mann und eine Frau kamen an ihm vorbei. Der Mann trug ein schlafendes Kind auf dem Arm, das die Hände um den Hals des Vaters geschlungen hatte. Georg dachte an den Grinzinger Garten, an das kleine, ungewaschene Ding, das ihm von den Armen der Mutter aus die Händchen entgegengestreckt hatte. War er damals wirklich gerührt gewesen, wie Nürnberger behauptet hatte? Nein, Rührung war es wohl nicht. Etwas anderes vielleicht. Das dumpfe Bewußtsein, dazustehen in der geschlossenen Kette, die von Urahnen zu Urenkeln ging, an beiden Händen gefaßt, mit teilzuhaben am allgemeinen Menschenlos. Nun stand er mit einemmal wieder losgelöst, allein… wie verschmäht von einem Wunder, dessen Ruf er ohne Andacht gehört hatte. Von einem nahen Kirchturm schlug es zehn Uhr. Fünf Stunden erst, dachte Georg. Und wie ferne war schon alles. Nun durfte er wieder frei durch die Welt treiben, wie früher einmal… Durfte er wirklich?
Heinrich kam aus dem Haustor. Hinter ihm fiel das Tor zu. »Nichts«, sagte er. »Ganz ahnungslos ist die Mutter. Ich habe nach der Adresse gefragt, als wenn ich ihr was Wichtiges mitzuteilen hätte. Ich wäre gerade aus dem Prater gekommen, und da fiel mir ein… na und so weiter. Eine gute, alte Frau. Der Bruder sitzt am Tisch und zeichnet auf einem Reißbrett eine Ritterburg mit unzähligen Türmen aus einer illustrierten Zeitung ab.«
»Jetzt seien Sie einmal aufrichtig«, sagte Georg. »Wenn Sie sie auf diese Weise retten könnten, würden Sie ihr auch jetzt nicht verzeihen?«
»Ja Georg, merken Sie denn noch immer nicht, daß es sich gar nicht darum handelt, ob ich verzeihen will oder nicht? Denken Sie doch, ich hätte einfach aufgehört sie zu lieben, was doch gelegentlich passieren kann, auch ohne daß man ›verraten‹ worden ist. Denken Sie, eine Frau, die Sie liebt, würde Sie verfolgen, eine Frau, vor deren Berührung Ihnen aus irgendeinem Grunde graut, würde Ihnen schwören, sie bringt sich um, wenn Sie sie verschmähen. Wären Sie verpflichtet ihr nachzugehen? Könnten Sie sich den leisesten Vorwurf machen, wenn sie wirklich aus sogenannter verschmähter Liebe in den Tod ginge? Würden Sie sich als ihr Mörder fühlen? Das ist doch lauter Unsinn, nicht wahr? Also wenn Sie glauben, daß es das sogenannte Gewissen ist, das mich jetzt peinigt, so irren Sie sich. Es ist einfach die Sorge um das Schicksal eines Wesens, das mir einmal nahestand und gewissermaßen heute noch nahesteht. Die Ungewißheit…« Plötzlich blickte er starr nach einer Richtung.
»Was ist Ihnen?« fragte Georg.
»Sehen Sie nicht? Ein Telegraphenbote. Er kommt auf das Haustor zu.«