Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Артур Шницлер

Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band) - Артур Шницлер


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Bitte machen Sie kein so erschrockenes Gesicht. Sie wissen, es war schon in manchen ihrer Briefe zu lesen, daß sie es tun will.«

      »Nun also«, sagte Georg.

      Heinrich hob abwehrend die Hand. »Ich habe es ja auch niemals ernst genommen. Heute Morgen aber kam ein Brief, der, wie soll ich nur sagen, einen unheimlichen Klang von Wahrheit hatte. Es steht eigentlich auch nichts anderes drin, als was sie mir schon zehn-oder zwanzigmal geschrieben hat, aber der Ton… der Ton… kurz und gut, ich bin so gut wie überzeugt, daß es diesmal geschehen ist. Daß es vielleicht in diesem Augenblick schon…«, er hielt inne und starrte vor sich hin.

      »Nein Heinrich.« Georg trat zu ihm hin und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Nein«, fügte er kräftiger hinzu, »ich glaube es absolut nicht. Ich habe sie ja gesprochen, vor ein paar Wochen erst. Sie wissen ja. Und da hatte ich durchaus nicht den Eindruck… Ich habe sie auch Komödie spielen gesehen… wenn Sie sie spielen gesehen hätten, in dieser frechen Posse, so würden Sie auch nicht daran glauben, Heinrich! Sie will sich nur an Ihnen rächen, für Ihre Grausamkeit. Unbewußt vielleicht. Sie ist ja wahrscheinlich selbst manchmal davon überzeugt, daß sie nicht weiter leben kann, aber da sie es bis heute ausgehalten… Ja wenn sie es gleich getan hätte…«

      Heinrich schüttelte ungeduldig den Kopf. »Hören Sie, Georg, ich habe an das Sommertheater telegraphiert. Ich habe angefragt, ob sie noch dort ist, etwa so, als wenn es sich um eine Rolle für sie handelte, Probeaufführung eines neuen Stücks von mir, oder dergleichen. Ich habe zu Hause gewartet – bis jetzt… aber es ist noch keine Antwort da. Kommt keine, oder keine genügende, so werde ich auf alle Fälle hinfahren.«

      »Ja warum haben Sie nicht einfach angefragt, ob sie…«

      »Ob sie sich umgebracht hat? Man will sich doch nicht blamieren, Georg! Da hätt ich mich ja ungefähr jeden dritten Tag erkundigen können… Das hätte allerdings eines gewissen grotesken Humors nicht entbehrt.«

      »Nun sehen Sie, Sie glauben ja selbst nicht dran.«

      »Ich will jetzt nach Hause, schauen, ob ein Telegramm da ist. Adieu Georg. Verzeihen Sie mir. Ich hab es nämlich daheim nicht mehr ausgehalten… Es tut mir wirklich sehr leid, daß ich Sie in einer solchen Stunde mit meinen Angelegenheiten belästigt habe. Nochmals, verzeihen Sie…«

      »Sie wußten ja nicht… Und auch wenn Sie gewußt hätten… Bei mir ist es ja doch… sozusagen eine abgeschlossene Geschichte. In meiner Angelegenheit ist leider absolut nichts mehr zu tun.« Er blickte angestrengt zum Fenster hinaus, über die Wipfel der Bäume, zu den dunkeln Türmen und Dächern, die aus dem matt rötlichen Glanz der abendlichen Stadt emporstiegen. Dann sagte er: »Ich begleite Sie, Heinrich. Ich kann ja zu Hause doch nichts anfangen. Das heißt – wenn Ihnen meine Gesellschaft nicht unangenehm ist.«

      »Unangenehm?… Georg!…« Er drückte ihm die Hand.

      Sie gingen. Anfangs spazierten sie längs des Parks und schwiegen. Georg erinnerte sich seines Spazierganges mit Heinrich durch die Praterallee, im vorigen Herbst, und gleich darauf kam ihm der Maienabend ins Gedächtnis, an dem Anna Rosner im Waldsteingarten erschienen war, später als die andern, und Frau Ehrenberg ihm zugeflüstert hatte: »Die hab ich für Sie eingeladen.« Ja für ihn! Wäre jener Abend nicht gewesen, so wäre Anna nicht seine Geliebte geworden und nichts von allem, woran er heute trug, wäre geschehen. Oder war auch hier irgendein Gesetz am Werke? Gewiß! Es müssen wohl jedes Jahr so und so viel Kinder zur Welt kommen, und eine Anzahl darunter außer der Ehe. Und die gute Frau Ehrenberg hatte sich eingebildet, daß es in ihrem Belieben gestanden, Fräulein Anna Rosner einzuladen für den Freiherrn von Wergenthin!

      »Anna befindet sich doch außer Gefahr?« fragte Heinrich.

      »Ich hoffe«, erwiderte Georg. Dann sprach er von den Schmerzen, die sie gelitten, von ihrer Geduld und ihrer Güte. Er hatte das Bedürfnis, sie als vollkommenen Engel darzustellen; als könnte er damit etwas sühnen, was er gegen sie verschuldet hätte.

      Heinrich nickte. »Sie scheint wirklich eine von den wenigen Frauen, die zur Mutterschaft bestimmt sind. Es ist nämlich nicht wahr, daß es viele von der Art gibt. Kinder zu kriegen – dazu sind sie ja alle da, – aber Mütter zu sein! Und gerade sie mußte das erleiden! Es ist mir eigentlich nie in den Sinn gekommen, daß so etwas eintreten könnte.«

      Georg zuckte die Achseln. Dann sagte er: »Ich hatte erwartet, Sie noch einmal draußen zu sehen. Ich glaube, Sie versprachen mir sogar etwas dergleichen, als Sie vor acht Tagen mit Therese zusammen bei uns nachtmahlten.«

      »Ach ja, wie wir uns so furchtbar gezankt haben, Therese und ich. Auf dem Heimweg ist es noch ärger geworden. Zum lachen. Wir gingen nämlich zu Fuß bis in die Stadt. Die Leute, die uns begegneten, müssen uns unbedingt für ein Liebespaar gehalten haben, so fürchterlich haben wir uns gestritten.«

      »Und wer hat am Ende recht behalten?«

      »Recht? Kommt das jemals vor, daß einer recht behält? Man diskutiert doch nur, um sich selbst, und nie um den andern zu überzeugen. Denken Sie nur, wenn Therese am Ende eingesehen hätte, daß ein vernünftiger Mensch sich nie und nimmer einer Partei anschließen kann! Oder wenn ich ihr hätte zugestehen müssen, daß meine Parteilosigkeit einen Mangel an Weltanschauung bedeute, wie sie behauptete! Wir hätten uns beide sofort totschießen können. Was sagen Sie übrigens zu diesem Gerede von Weltanschauung? Wie wenn Weltanschauung etwas anderes wäre, als der Wille und die Fähigkeit die Welt wirklich zu sehn, das heißt, anzuschauen, ohne durch eine vorgefaßte Meinung verwirrt zu sein, ohne den Drang, aus einer Erfahrung gleich ein neues Gesetz abzuleiten, oder sie in ein bestehendes einzufügen. Aber den Leuten ist Weltanschauung nichts, als eine höhere Art von Gesinnungstüchtigkeit – Gesinnungstüchtigkeit innerhalb des Unendlichen sozusagen. Oder sie sprechen von düsterer und heiterer Weltanschauung, je nach der Färbung, in der ihnen die Welt kraft ihres Temperaments und zufälliger persönlicher Erlebnisse erscheint. Menschen mit offenen Sinnen haben Weltanschauung und beschränkte nicht. So steht die Sache. Man muß wahrhaftig kein Philosoph sein, um Weltanschauung zu haben… vielleicht darf man’s nicht einmal sein. Jedenfalls hat Philosophie mit Weltanschauung nicht das geringste zu tun. Von den Philosophen hat gewiß jeder bei sich gewußt, daß er nichts anderes vorstellt, als eine Art von Dichter. Kant hat an das Ding an sich geglaubt und Schopenhauer an die Welt als Wille und Vorstellung, wie Shakespeare an Hamlet und Beethoven an die Neunte. Sie haben gewußt, daß nun ein Kunstwerk mehr auf der Welt ist, aber sie haben sich gewiß nicht eingebildet, daß sie eine endgültige »Wahrheit« entdeckt hätten. Jedes philosophische System, wenn es Rhythmus und Tiefe hat, bedeutet einen Besitz mehr auf Erden. Aber was soll es denn an dem Verhältnis eines Menschen zur Welt ändern, der selbst mit offenen Sinnen begnadet ist?« Er sprach weiter, immer erregter, geriet, wie es Georg erschien, ins Fieberhaftverworrene. Georg erinnerte sich daran, daß Heinrich einmal ein Ringelspiel erfunden hatte, das sich über den Erdboden höher und immer höher in Spiralen drehen sollte, um endlich in einer Turmspitze zu enden.

      Sie nahmen den Weg durch wenig belebte und mäßig beleuchtete Vorstadtstraßen. Georg war es, als spazierte er in einer fremden Stadt umher. Plötzlich erschien ein Haus ihm sonderbar bekannt, und er merkte jetzt erst, daß sie an dem Haus der Familie Rosner vorbeigingen. Das Speisezimmer war erleuchtet. Wahrscheinlich saß dort oben der Alte allein, oder in Gesellschaft seines Sohnes. Ist es denn möglich, dachte Georg, daß in wenigen Wochen auch Anna wieder dort sitzen wird, am selben Tisch mit Vater, Mutter und Bruder, als wäre nichts geschehen? Daß sie wieder hinter jenem Fenster mit den jetzt geschlossenen Jalousien Nacht für Nacht schlafen, Tag für Tag aus diesem Hause sich zu ihren armseligen Lektionen begeben – daß sie dieses ganze, klägliche Leben wieder aufnehmen wird, als hätte nichts, gar nichts sich verändert? Nein! Sie durfte nicht mehr zu den Ihren zurückkehren, das wäre ja unsinnig gewesen. Zu ihm mußte sie kommen, mit ihm zusammen leben, zu dem sie gehörte. Das Telegramm aus Detmold! Beinahe hätte er dran vergessen. Er mußte mit ihr darüber reden. Hier war Hoffnung und Aussicht! In solch einer kleinen Stadt war das Leben wohlfeil. Auch war Georgs eigenes Vermögen noch lange nicht aufgezehrt. Man konnte es schon wagen. Überdies bedeutete die Stellung dort nur den Anfang. Vielleicht bald kam eine bessere, in einer andern, größern Stadt; über Nacht, unverhofft, wie


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