Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
sagte Doktor Stauber. »Ich will nur Anna noch Adieu sagen.« Er ging.
Georg wandte sich an den Professor. »Darf ich Sie etwas fragen?«
»Bitte.«
»Ich möchte nämlich gern wissen, Herr Professor, ob das vielleicht nur eine Einbildung ist. Mir kommt nämlich vor« – und er hob das Tuch wieder von der kleinen Leiche auf – »als wenn dieses Kind gar nicht so aussähe wie ein Neugeborenes. Schöner gewissermaßen. Mir ist, als wenn die Gesichter von Neugeborenen eigentlich faltiger, greisenhafter sein müßten. Ich weiß nicht mehr, hab ich einmal selbst eins gesehen oder hab ich nur davon gelesen.«
»Sie haben nicht unrecht«, erwiderte der Professor, »gerade in Fällen dieser Art, auch bei glücklicherem Ausgang, sind die Züge der Kinder nicht entstellt, ja manchmal geradezu schön.« Er betrachtete das kleine Antlitz mit fachlicher Teilnahme, nickte ein paarmal »schade, schade…« ließ das Tuch wieder fallen, und Georg wußte, daß er das Antlitz seines Kindes zum letztenmal gesehen hatte. Wie hätte es nur heißen sollen? Felician… Leb wohl, kleiner Felician.
Doktor Stauber trat aus dem Nebenzimmer und schloß leise die Türe. »Anna erwartet Sie«, sagte er zu Georg. Dieser gab ihm die Hand, reichte sie auch dem Professor noch einmal, nickte Frau Golowski zu und trat ins Nebenzimmer.
Die Wärterin erhob sich von Annas Seite und verschwand aus dem Zimmer. Der Tür gegenüber hing ein Spiegel in dem Georg einen jungen, eleganten Herrn erblickte, der blaß war und lächelte. Anna lag in ihrem Bett, das frei in der Mitte stand, mit großen, klaren Augen, die Georg entgegensahen. Wie steh ich vor ihr da, dachte er. Er rückte mit einiger Umständlichkeit den Sessel nah an ihr Bett, setzte sich, ergriff ihre Hand, führte sie an seine Stirn und küßte dann lang, beinahe inbrünstig ihre Finger.
Anna sprach zuerst. »Du warst im Garten?« fragte sie.
»Ja, ich war im Garten.«
»Ich habe dich von oben herunterkommen gesehen vor einiger Zeit.«
»Du sollst lieber gar nichts reden, Anna. Strengt es dich nicht an?«
»Die paar Worte, o nein. Aber du kannst mir ja was erzählen…«
Er hielt ihre Hand immer in der seinen und betrachtete ihre Finger. Dann sagte er: »Weißt du eigentlich, daß da oben am Ende des Gartens ein kleines Lusthäuschen steht? Ja, natürlich weißt du… ich meine nur, wir haben es nie so recht bemerkt.«
»In den ersten Tagen war ich einigemale drin«, sagte Anna. »Schön ist es nicht.«
»Nein, wahrhaftig.«
»Hast du heut vormittag was gearbeitet?« fragte sie dann.
»Was fällt dir ein, Anna.«
Sie schüttelte ganz leicht den Kopf. »Und gerade in der letzten Zeit ist es dir so gut damit gegangen.«
»Ja, wirklich wahr, Anna, du hast dich sehr rücksichtslos benommen.« Er lächelte, sie blieb ernst.
»Du warst gestern in der Stadt?« fragte sie.
»Du weißt ja.«
»Hast du Briefe vorgefunden? Ich meine, wichtige?«
»Du sollst gewiß nicht so viel reden, Anna, ich erzähl dir schon alles. Also: Ich hab keine Briefe von Bedeutung vorgefunden. Auch aus Detmold ist keiner gekommen. Dieser Tage geh ich übrigens wieder zu Professor Viebiger. Aber wir können wirklich ein andermal über diese Dinge reden, glaubst du nicht? Und was das Arbeiten anbelangt… in den Tristan hab ich heute morgens noch ein wenig hineingesehen. Den kenn ich aber wirklich bis ins kleinste. Ich würde mich getrauen, ihn heut zu dirigieren, wenn’s drauf ankäme.«
Sie schwieg und sah ihn an.
Er erinnerte sich des Abends, an dem er mit ihr in der Münchener Oper gesessen hatte, wie eingehüllt in einen durchsichtigen Schleier von geliebten Klängen. Aber er sprach nichts davon.
Es dämmerte. Die Züge Annas begannen ihm zu verschwimmen.
»Fährst du heute noch in die Stadt?« fragte sie.
Er hatte gar nicht daran gedacht. Jetzt aber war ihm, als winkte damit eine Art von Erlösung. Ja, er wollte hinein. Was konnte er auch hier heraußen noch tun? Aber er antwortete nicht gleich.
Anna begann wieder: »Ich denke, du wirst vielleicht deinen Bruder sprechen wollen.«
»Ja, das möcht ich recht gern. Und du wirst wohl bald schlafen?«
»Ich hoffe.«
»Wie müd mußt du sein«, sagte er, indem er ihre Hand streichelte.
»Nein, es ist etwas anderes. Ich bin so wach… ich kann dir gar nicht sagen, wie wach ich bin. Mir ist, als wär ich in meinem ganzen Leben nicht so wach gewesen. Und weiß zugleich, daß ich so tief schlafen werde, wie noch nie… wenn ich nur erst die Augen geschlossen habe.«
»Ja gewiß wirst du das. Aber nun darf ich doch wohl noch eine Weile bei dir bleiben? Am liebsten möcht ich so lange hier sitzen, bis du eingeschlafen bist.«
»Nein, Georg, wenn du da bist, kann ich ja doch nicht einschlafen. Aber bleib nur noch ein bißchen. Das ist schon gut.«
Er hielt immer ihre Hand und blickte zum Garten hinaus, der nun ganz im Abendschatten lag.
»Du warst nicht sehr viel im Auhof oben dieses Jahr?« fragte Anna gleichgültig, als gälte es nur irgend etwas zu reden.
»O ja, täglich beinahe. Hab ich dir’s denn nicht gesagt? – Ich denke, Else wird James Wyner heiraten und mit ihm nach England gehen.«
Er wußte, daß sie nicht an Else dachte, sondern an eine ganz andere. Und er fragte sich: meint sie etwa, – das sei schuld?
Ein lauer Hauch kam von draußen geweht. Kinderstimmen klangen herein. Georg blickte hinaus. Er sah die weiße Bank unter dem Birnbaum schimmern und dachte daran, wie Anna ihn dort oben erwartet hatte, im wallenden Kleid, die fruchtschweren Äste über sich, umflossen vom sanften Wunder ihrer Mütterlichkeit. Und er fragte sich: war es schon damals bestimmt, daß es so enden müßte? Oder war es am Ende schon in dem Augenblick bestimmt, da wir einander zum erstenmal umarmt haben? Die Bemerkung des Professors fuhr ihm durch den Sinn, daß ein bis zwei Prozent aller Geburten so enden. Also seit Menschen geboren wurden, war es so, daß unter hundert einer oder zwei in so sinnloser Weise dahin müssen im selben Augenblick, da sie zum Licht emporgebracht werden! Und so und so viele müssen im ersten Jahre sterben, und so viel in der Blüte ihrer Jugend, und so viel als Männer, und wieder eine bestimmte Anzahl macht ihrem Leben selbst ein Ende, wie Labinski, und bei so und so vielen muß es mißlingen, wie bei Oskar Ehrenberg. Wozu nach Gründen suchen? Irgendein Gesetz ist wirksam, unbegreiflich und unerbittlich, an dem wir Menschen nicht rütteln können. Wer darf klagen, warum gerade mir das? Widerfährt es nicht ihm, so widerfährt es eben einem andern… unschuldig oder schuldig wie er. Ein bis zwei Prozent trifft es eben, das ist die himmlische Gerechtigkeit. Die Kinder, die da drüben im Garten lachten, die durften leben. Durften? Nein, sie mußten leben, so wie das seine hatte sterben müssen nach dem ersten Atemzug, bestimmt von einer Dunkelheit durch ein sinnloses Nichts hindurch einzugehen in eine andere.
Draußen war die Dämmerung, und im Zimmer war es beinahe schon Nacht. Anna lag still und regungslos. Ihre Hand in der Georgs rührte sich nicht. Aber als Georg sich erhob, sah er, daß ihre Augen offen waren. Er beugte sich nieder, zögerte einen Augenblick, dann legte er den Arm um ihren Hals und küßte sie auf die Lippen, die heiß und trocken waren und seine Berührung nicht erwiderten. Dann ging er. Im Nebenzimmer brannte die Hängelampe über dem Tisch, auf dem früher das tote Kind gelegen hatte. Nun war die grüne Tischdecke ausgebreitet, als wäre nichts geschehen. Die Türe zu dem Zimmer, in dem Frau Golowski wohnte, war geöffnet. Das Licht einer Kerze schimmerte herein, und Georg wußte, daß da sein Kind den ersten und letzten Schlummer schlief.
Frau Golowski und Frau Rosner saßen nebeneinander auf dem Sofa an der Wand, stumm, wie zusammengekauert. Georg trat zu ihnen. »Der Herr Gemahl ist schon fort?« wandte er sich