Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Bank unter der Eiche. Dort war es gewesen, wo er ihr alles erzählt hatte. Alles, wie einer Freundin. Und sie hatte ihn verstanden, wie nie eine andre ihn verstanden hatte. War sie es nicht, die er seit jeher gesucht hatte, sie, die Geliebte war und Gefährtin zugleich, mit dem ernsten Blick für alle Dinge der Welt und doch geschaffen zu jedem Wahnsinn und jeder Seligkeit. Und gestern der Abschied… Der dunkle Glanz ihrer Augen, der blauschwarze Strom ihrer gelösten Haare, der Duft ihres bleichen, nackten Leibes… War es denn möglich, daß es auf immer zu Ende war, daß all dies niemals, niemals wiederkommen sollte…?
Georg zerknüllte den Plaid zwischen den Fingern in ohnmächtiger Sehnsucht und schloß die Augen. Er sah die sanftbewegten Waldhügellinien nicht mehr, die draußen im Morgenlicht vorbeizogen, und wie zu einem letzten Glück träumte er sich in die dunkeln Wonnen jener Abschiedsstunde zurück. Doch wider Willen überkam ihn Mattigkeit nach der durchrüttelten Eisenbahnnacht, und aus selbstgerufenen Bildern jagte es ihn wieder durch regellose Träume, über die ihm keine Macht gegeben war. Er ging über den Sommerhaidenweg, in sonderbarem Dämmerlicht, das ihn mit tiefer Traurigkeit erfüllte. War es Morgen? War es Abend? Oder trüber Tag? Oder war es der rätselhafte Glanz irgendeines Gestirns über der Welt, das noch niemandem geleuchtet hatte, als ihm? Plötzlich stand er auf einer großen, freien Wiese, wo Heinrich Bermann hin und her lief und ihn fragte: Suchen Sie auch das Schloß der Dame? Ich erwarte Sie schon lang. Sie stiegen eine Wendeltreppe hinauf. Heinrich voran, so daß Georg immer nur einen Zipfel des Überziehers erblicken konnte, der nachschleppte. Oben auf einer riesigen Terrasse, von der man die Stadt und den See sah, war die ganze Gesellschaft versammelt. Leo hatte seinen Vortrag über Mollakkorde begonnen, hielt inne, als Georg erschien, stieg vom Katheder herab und führte ihn selbst zu einem freien Stuhl, der in der ersten Reihe neben Anna stand. Anna lächelte glückselig, als Georg erschien. Sie war jung und strahlend, in einer herrlichen, dekolletierten Abendtoilette. Gleich hinter ihr saß ein kleiner Bub mit blonden Locken, in Matrosenanzug mit breitem, weißem Kragen, und Anna sagte: »Das ist er.« Georg machte ihr ein Zeichen zu schweigen, denn es sollte ja ein Geheimnis sein. Indessen spielte Leo oben als Beweis seiner Theorie die cis moll Nocturne von Chopin, und hinter ihm an der Wand, lang, hager und gütig, lehnte der alte Bösendorfer, im gelben Überzieher. Alle verließen in großem Gedränge den Konzertsaal. Georg gab Anna den Theatermantel um die Schultern und sah die Leute ringsum strenge an. Dann saß er mit ihr im Wagen, küßte sie, empfand große Wonne dabei und dachte: könnt es doch immer so sein! Plötzlich hielten sie vor dem Hause in Mariahilf. Oben am Fenster warteten schon viele Schüler und winkten. Anna stieg aus, verabschiedete sich von Georg mit einem pfiffigen Gesicht und verschwand im Haustor, das lärmend hinter ihr zufiel.
»Bitte sehr, noch zehn Minuten«, sagte jemand. Georg richtete sich auf. Der Kondukteur stand in der Türe und wiederholte: »In zehn Minuten sind wir in Wien.«
»Danke«, sagte Georg und stand auf, mit ziemlich wirrem Kopf. Er öffnete das Fenster und freute sich, daß draußen in der Welt schönes Wetter war. Die frische Morgenluft ermunterte ihn völlig. Gelbe Mauern, Bahnwärterhäuschen, Gärtchen, Telegraphenstangen, Straßen flogen vorüber, und endlich stand der Zug in der Halle. Ein paar Minuten darauf fuhr Georg in einem offenen Fiaker nach seiner Wohnung, sah Arbeiter, Ladenmädchen, Bureauleute zu ihrem täglichen Berufe wandern, hörte Rolladen in die Höhe schnurren; und inmitten aller Unruhe, die seiner wartete, inmitten aller Sehnsucht, die ihn anderswo hinzog, empfand er das tiefe Wohlgefühl des Wiederdaheimseins. Als er in sein Zimmer eintrat, fühlte er sich wie geborgen. Der alte Schreibtisch mit dem grünen Tuch überzogen, der Briefbeschwerer aus Malachit, die gläserne Aschenschale mit dem eingebrannten Reiter, die schlanke Lampe mit dem breiten, grünen Milchglasschirm, die Bilder des Vaters und der Mutter in den schmalen Mahagonirahmen, in der Ecke das runde Marmortischchen mit der Silberkassette für Zigarren, dort an der Wand der Prinz von der Pfalz nach Van Dyck, der hohe Bücherschrank mit den olivenfarbigen Vorhängen; – alles grüßte ihn mit Herzlichkeit. Und gar der Blick, der gute, heimatliche über die Baumkronen des Parks zu den Türmen und Dächern, wie tat der wohl! Aus allem, was er hier wiederfand, strömte es ihm wie kaum geahntes Glück entgegen, und es fiel ihm schwer aufs Herz, daß er all das in wenigen Wochen verlassen mußte. Und bis man wieder ein Heim, ein wirkliches Heim haben würde, wie lang mochte das dauern! Gern hätte er sich ein paar Stunden lang in seinem lieben Zimmer aufgehalten: aber er hatte keine Zeit. Vor der Mittagstunde noch mußte er ja auf dem Lande sein.
Er hatte seine Kleider abgeworfen, ließ sich in seiner weißen Wanne wonniglich von warmem Wasser umspülen. Um im Bade nicht einzuschlafen, wählte er ein Mittel, das sich schon öfters bewährt hatte. Er dachte eine Fuge von Bach Note für Note durch. Das Klavierspiel fiel ihm ein, das mußte auch wieder tüchtig geübt werden. Und Partituren gelesen. Ob es nicht doch das klügste war, noch ein Jahr dem Studium zu widmen? Nicht erst unterhandeln, oder gar eine Stellung annehmen, die man am Ende nicht ausfüllen konnte? Lieber hier bleiben und arbeiten. Hier bleiben? Wo denn? Die Wohnung war ja gekündigt. Einen Augenblick fuhr ihm durch den Sinn, sich in dem alten Hause einzumieten, der grauen Kirche gegenüber, wo er so schöne Stunden mit Anna verbracht hatte; und es war ihm, als erinnerte er sich einer längst vergangenen Geschichte, eines Jugendabenteuers, heiter und ein wenig geheimnisvoll, das lange vorbei war. –
Erfrischt und in einem ganz neuen Gewand, dem ersten hellen, das er seit dem Tode des Vaters anlegte, trat er in sein Zimmer zurück. Ein Brief lag auf dem Schreibtisch, den eben die Frühpost gebracht hatte. Von Anna. Er las. Nur ein paar Worte waren es: »Du bist wieder da, mein Geliebter! Ich grüße Dich. Ich sehne mich nach Dir. Laß mich nicht zu lange warten. Deine Anna«…
Georg sah auf. Er wußte selbst nicht, was ihn an diesem kurzen Brief so sonderbar berührte. Annas Briefe hatten sonst immer, bei aller Zärtlichkeit, etwas Gemessenes, fast Konventionelles bewahrt, und manchmal hatte er sie im Scherz »Erlässe« genannt. Dieser hier war in einem Ton gehalten, der ihn an das leidenschaftliche Mädchen aus früherer Zeit erinnerte; an seine Geliebte, die er beinahe vergessen hatte; und seltsam unerwartet griff Unruhe nach seinem Herzen. Er eilte die Treppe hinab, setzte sich in den nächsten Fiaker und fuhr aufs Land. Bald fühlte er sich angenehm zerstreut durch den Anblick der Menschen auf den Straßen, die ihn nichts angingen; und später, als er den Wäldern schon nah war, beruhigte ihn die Anmut des blauen Sommertages. Mit einemmal, früher als Georg gedacht, hielt der Wagen vor dem Landhaus. Unwillkürlich sah Georg zuerst zum Balkon unter dem Giebel auf. Ein kleines Tischchen stand oben, mit weißer Decke, und ein Körbchen darauf. Ach ja, Therese hatte ein paar Tage hier gewohnt. Jetzt erst fiel es ihm wieder ein. Therese…! Wo war das! Er stieg aus, entließ den Wagen und trat ins Vorgärtchen, wo auf bescheidenem Postament unter verblühten Beeten der blaue Engel stand. Er trat ins Haus. Im großen Mittelzimmer deckte die Marie eben den Tisch.
»Im Garten oben is die gnä Frau«, sagte sie.
Die Tür zur Veranda stand offen. Die Bretter des Bodens knarrten unter Georgs Füßen. Der Garten mit seinem Duft und seiner Schwüle nahm ihn auf. Der alte Garten war es. Alle die Tage, die Georg fern gewesen, war er stille dagelegen, so wie in diesem Augenblick; im Morgenlicht, im Sonnenglanz, im Abendschatten, im Dunkel der Nacht; immer derselbe… Gerade schnitt der Kiesweg durch die Wiese nach oben. Kinderstimmen waren jenseits der Stauden, an denen rote Beeren hingen. Und dort auf der weißen Bank, den Arm auf der Lehne, sehr bleich, in wallendem blauen Morgenkleid, das war Anna. Ja wirklich sie. Nun hatte sie ihn erblickt. Sie wollte aufstehen. Er sah es und sah zugleich, daß es ihr schwer wurde. Warum nur? Bannte die Erregung sie nieder? Oder war die schwere Stunde schon so nah? Er winkte ihr mit der Hand, sie sollte sitzen bleiben. Sie setzte sich auch wirklich wieder hin und hatte nur die Arme leicht ausgebreitet, ihm entgegen. Ihre Augen leuchteten glückselig. Georg ging sehr rasch, den weichen, grauen Hut in der Hand, und nun war er bei ihr.
»Endlich«, sagte sie, und es war eine Stimme, die so weither klang wie jene Worte in ihrem Brief von heut Morgen. Er nahm ihre Hände, schüttelte sie in einer sonderbar ungeschickten Weise, fühlte irgend etwas in seiner Kehle aufsteigen, konnte aber noch immer kein Wort sprechen, nickte nur und lächelte. Und plötzlich kniete er vor ihr auf dem Kies, ihre Hände in den seinen, sein Haupt in ihrem Schoß, fühlte wie sie ihm die Hände leicht entzog, sie auf sein Haupt legte; – und dann hörte er sich ganz leise weinen. Und es war ihm, wie in süß dumpfem Traum, als läge er, ein Knabe, zu seiner Mutter