Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
in behagliche Stimmung. Georg erzählte wieder von der Reise: von den sonnenschweren Tagen in Lugano, von der Fahrt über den beschneiten Brenner, von der Wanderung durch die dächerlose Stadt, die nach zweitausendjähriger Nacht dem Licht entgegendrängte; er beschwor den Augenblick wieder herauf, in dem sie dabei gewesen waren, er und Anna, als Arbeiter vorsichtig und mühevoll eine Säule aus der Asche herausschaufelten. Heinrich hatte Italien noch nicht gesehen. Im nächsten Frühjahr wollte er hin. Er erklärte, daß er sich manchmal in Sehnsucht verzehre, wenn auch nicht gerade nach Italien, doch nach Fremde, Ferne, Welt. Manchmal, wenn er vom Reisen sprechen hörte, bekäme er Herzklopfen wie ein Kind am Vorabend des Geburtstages. Er zweifelte, daß es ihm bestimmt war, sein Leben in der Heimat zu vollenden. Vielleicht auch, daß er nach jahrelangen Wanderungen zurückkehrte, in einem kleinen Haus auf dem Land den Frieden seiner spätern Mannesjahre fände. Wer weiß, es gäbe ja so seltsame Zufälle, ob ihm nicht bestimmt war, gerade in diesem Haus sein Dasein zu beschließen, in dem er nun eben zu Gaste sei und sich so wohl fühle, wie schon lange nicht. Anna bedankte sich, als wäre sie nicht nur hier in der Villa Hausfrau, sondern innerhalb dieser ganzen, abendlich-stillen Welt. Aus dem Dunkel des Gartens begann es milde zu leuchten. Von den Gräsern und Blumen kam feuchtwarmer Duft. Die längliche Wiese, die zum Gitter hinlief, schwebte im Mondenschein empor, und die weiße Bank unter dem Birnbaum schimmerte her, wie von sehr ferne. Anna sagte zu Heinrich Freundliches über die Verse aus dem Operntext, die Georg ihr neulich vorgelesen hatte.
»Ja richtig«, bemerkte Georg, die Beine behaglich gekreuzt und eine Zigarre rauchend, »haben Sie uns etwas Neues mitgebracht?«
Heinrich schüttelte den Kopf. »Nein, nichts.«
»Wie schade«, sagte Anna und machte den Vorschlag, Heinrich sollte doch den Gang der Handlung geordnet und ausführlich erzählen. Schon lange wünschte sie sich das. Aus Georgs Berichten ließe sich kein klares Bild gewinnen.
Sie sahen einander an. Die dunkle, süße Stunde stieg vor ihnen auf, da sie Brust an Brust geruht in einem dunkeln Zimmer, vor dessen Fenstern hinter wallendem Schneevorhang eine graue Kirche verdämmert und in das Orgeltöne dumpf geklungen waren. Ja, nun wußten sie, wo das Haus stand, in dem das Kind zur Welt kommen sollte. Auch ein anderes, dachte Georg, steht vielleicht schon irgendwo, in dem das Kind, das heute noch nicht geboren ist, sein Leben enden wird – als Mann – oder als Greis – oder – … ach, was für Gedanken… fort, fort.
Heinrich erklärte sich bereit, den Wunsch Annas zu erfüllen, und stand auf. »Es wird mir vielleicht selber nützlich sein«, sagte er wie zur Entschuldigung. »Ich könnte über allerhand ins Reine kommen.«
»Aber geben Sie acht, daß Sie nicht plötzlich in Ihre politische Tragikomödie geraten«, bemerkte Georg. Und zu Anna gewandt: »Er schreibt nämlich ein Stück mit einem deutschnationalen Couleurstudenten als Helden, der sich aus Verzweiflung über die Emanzipation der Juden mit Schwämmen vergiftet.«
Heinrich winkte ab. »Ein Glas Bier weniger und Sie hätten nicht einmal diesen Witz gemacht.«
»Neid«, erwiderte Georg. Er fühlte sich außerordentlich gut aufgelegt, insbesondere, weil er nun fest entschlossen war, übermorgen abzureisen. Er saß ganz nahe bei Anna, hielt ihre Hand in der seinen und hörte es wie von Melodien späterer Tage im tiefsten Grunde seiner Seele rauschen.
Heinrich stand plötzlich im Garten draußen vor der Veranda, griff über die Brüstung, nahm seinen Mantel vom Sessel und schlug ihn romantisch um sich. »Ich beginne«, sagte er. »Erster Akt.«
»Vorher Ouverture in D-moll«, unterbrach ihn Georg. Er pfiff eine getragene Melodie, nur ein paar Töne, und schloß mit einem »und so weiter«.
»Der Vorhang hebt sich«, sagte Heinrich. »Fest im königlichen Garten. Nacht. Am nächsten Tag soll die Prinzessin mit dem Herzog Heliodor vermählt werden. Vorläufig nenn ich ihn Heliodor, er wird wahrscheinlich anders heißen. Der König betet seine Tochter an und kann Heliodor, der eine Art von zäsarenwahnsinnigem Gecken vorstellt, nicht ausstehen. Zu diesem Fest, das der König hauptsächlich gibt, um Heliodor zu ärgern, sind nicht nur die Edeln des Landes geladen, sondern die Jugend aller Stände, soweit sie sich durch Schönheit ein Recht dazu erworben hat. Und die Prinzessin soll an diesem Abend mit jedem tanzen dürfen, der ihr gefällt. Da ist besonders einer, Ägidius mit Namen, von dem sie ganz hingerissen scheint. Und niemand freut sich mehr darüber als der König. Eifersucht Heliodors. Steigendes Vergnügen auf Seite des Königs. Auseinandersetzung zwischen Heliodor und dem König. Hohn, Verfeindung. Nun geschieht etwas höchst Unerwartetes. Ägidius zückt den Dolch gegen den König, er will ihn ermorden. Dieser Mordversuch müßte natürlich sehr sorgfältig motiviert werden, wenn Sie nicht die Güte hätten, lieber Georg, die Sache in Musik zu setzen. So wird es genügen, anzudeuten, daß der Jüngling ein Tyrannenhasser, Mitglied einer geheimen Verbindung, vielleicht ein Narr oder Held auf eigne Faust ist. Das weiß ich nämlich noch nicht. Der Mordversuch mißlingt. Ägidius wird festgenommen. Der König wünscht mit ihm allein zu bleiben. Duett. Der Jüngling ist stolz, gefaßt, groß, der König überlegen, grausam, unergründlich. So ungefähr stell ich mir ihn vor: Er hat schon viele in den Tod geschickt, schon viele sterben sehen, aber ihm, in seiner ungeheuern innern Wachheit, scheinen alle übrigen Menschen in einem Zustand halber Bewußtheit dahinzuleben, so daß ihr Dahingehen gewissermaßen nichts anderes zu bedeuten hat als einen Schritt aus Dämmerung in Finsternis. Ein solcher Untergang scheint ihm hier zu mild oder zu banal. Diesen Jüngling will er aus einem Tag, wie ihn noch kein Sterblicher genossen, ins furchtbarste Dunkel stürzen. Ja, das geht in ihm vor. Wieviel er davon ausspricht oder singt, das weiß ich natürlich noch nicht. Ägidius, als ein nach aller Meinung zu sofortigem Tod Bestimmter, wird abgeführt, und zwar auf dasselbe Schiff, auf dem am Abend darauf Heliodor mit der Prinzessin ihre Reise hätten antreten sollen. Der Vorhang fällt. Der zweite Akt spielt auf dem Verdeck. Das Schiff in voller Fahrt. Chor. Einzelne Gestalten heben sich heraus. Ihre Bedeutung tritt erst später zutage. Morgendämmerung. Ägidius wird aus dem untern Schiffsraum heraufgeleitet. Wie er natürlich glauben muß, zum Tode. Aber es kommt anders. Seine Fesseln werden gelöst, alle neigen sich vor ihm. Er wird begrüßt wie ein Fürst. Die Sonne geht auf. Ägidius hat Gelegenheit zu bemerken, daß er sich in der besten Gesellschaft befindet. Schöne Frauen, Edelleute. Ein Weiser, ein Sänger, ein Narr sind zu größern Rollen bestimmt. Aus dem Chor der Frauen löst sich aber keine andre als die Prinzessin selbst, die Ägidius zu eigen gehört, wie alles auf dem Schiff.«
»Ein splendider Vater und König«, sagte Georg.
»Für einen geistreichen Einfall ist ihm nichts zu teuer«, erläuterte Heinrich, »das ist seine Natur. Es folgt ein herrliches Duett zwischen Ägidius und der Prinzessin, dann setzt man sich zum Mahl. Nach dem Mahle Tanz. Hohe Stimmung. Ägidius muß sich natürlich für gerettet halten. Er wundert sich nicht übermäßig, denn sein Haß gegen den König war immer sehr von Bewunderung unterzündet. Der Abend bricht an. Plötzlich ist ein Fremder an der Seite des Ägidius. Vielleicht ist er auch längst dagewesen. Einer unter den vielen, unbemerkt, stumm. Er hat ein Wort mit Ägidius zu sprechen. Fest und Tanz gehen unterdessen weiter. Ägidius und der Fremde. All dies ist Euer, sagt der Fremde. Ihr könnt damit nach Belieben walten, könnt Besitz ergreifen und töten, ganz wie Ihr wollt. Aber morgen… oder in zwei, oder in sieben Tagen, oder in einem Jahr, oder in zehn oder noch später, wird dieses Schiff sich einer Insel nähern, an deren Ufer auf einem Felsen eine marmorne Halle ragt. Und dort wartet Euer der Tod. Der Tod. Euer Mörder ist mit Euch auf dem Schiff. Aber nur der eine, der dazu bestimmt ist, Euer Mörder zu sein, weiß es selbst. Kein anderer kennt ihn. Ja überhaupt kein anderer auf diesem Schiff ahnt, daß Ihr ein Todgeweihter seid. Das bewahrt wohl in Euch! Denn wenn Ihr Euch irgendwie merken laßt, daß Euer Los Euch selbst bekannt ist, so seid Ihr noch in derselben Stunde dem Tode verfallen.«
Heinrich sprach diese Worte mit affektiertem Pathos, wie um seine Befangenheit zu verbergen. Einfacher fuhr er fort. »Der Fremde verschwindet. Vielleicht laß ich ihn auch ans Land setzen von zwei Schweigenden, die ihn begleitet haben. Ägidius bleibt zurück, unter Hunderten, Männern und Frauen, von denen einer oder eine sein Mörder ist. Wer? Der Weise? Der Narr? Der Sterngucker dort? Irgendeiner von denen, die im Dunkeln kauern? Die dort am Geländer schleichen? Eine von den Tänzerinnen? Die Prinzessin selbst? Sie tritt wieder zu ihm, ist sehr