Ausgewählte Werke von Arthur Schnitzler (76 Titel in einem Band). Ðртур Шницлер
Park oben vor Georg so recht ausgeweint. Ob sie nur um Oskar geweint hatte?
Das Grau vor dem Kupeefenster erhellte sich langsam. Georg sah, wie draußen die Telegraphendrähte in eiligen Wellen mitschwebten und wanderten, und er dachte daran, daß gestern Nachmittag auf einem dieser Drähte auch seine lügnerischen Worte zu Anna gewandert waren: Morgen früh bin ich bei dir, in Sehnsucht Dein Georg… Gleich vom Amt aus war er wieder zurückgeeilt, zu einer glühenden und verzweifelten Abschiedsstunde mit jener andern. Und er konnte es nicht fassen, daß sie auch in dieser Stunde noch, während er schon eine ganze Ewigkeit lang von ihr fort war, noch in dem gleichen Zimmer mit den fest geschlossenen Fensterläden liegen und schlafen und träumen sollte. Und heute Abend wird sie daheim sein bei Mann und Kindern, daheim – wie er. Er wußte, daß es so war, und er konnte es nicht verstehen. Das erstemal in seinem Leben war er nahe daran gewesen, irgend etwas zu begehen, was die Leute vielleicht Tollheit hätten nennen dürfen. Nur ein Wort von ihr – und er wäre mit ihr in die Welt gegangen, hätte alles zurückgelassen, Freunde, Geliebte und sein ungeborenes Kind. Und war er nicht noch immer bereit dazu? Wenn sie ihn riefe, würde er nicht kommen? Und wenn er’s täte, hätte er nicht Recht? War er nicht für Abenteuer solcher Art viel mehr geschaffen, als für das stille, pflichtenvolle Dasein, das er sich erwählt hatte? War es nicht eher seine Bestimmung, unbedenklich und kühn durch die Welt zu treiben, als irgendwo festzusitzen mit Weib und Kind, mit der Sorge ums tägliche Brot, um die Karriere und höchstens um ein bißchen Ruhm? In diesen Tagen, aus denen er jetzt kam, hatte er sich leben gefühlt, vielleicht das erste Mal. Jeder Augenblick war so reich und erfüllt gewesen, nicht die in ihren Armen allein. Er war wieder jung geworden mit einemmal. Blühender hatte die Landschaft geprangt, der Himmel hatte sich weiter gespannt, die Luft, die er trank, hatte bessere Würze und Kraft geatmet. Und Melodien hatten in ihm gerauscht, wie nie zuvor. Hatte er je ein schöneres Lied komponiert, als jenes heiter-wiegende, ohne Worte, »auf dem Wasser zu singen?« Und seltsam, aus ungeahnter eigner Tiefe war das Phantasiestück emporgestiegen, am Seeufer, eine Stunde, nachdem er die wunderbare Frau zum erstenmal erblickt hatte. Nun sollte ihn Herr Hofrat Wilt nicht lange mehr für einen Dilettanten halten. Doch warum dachte er gerade an den? Wußten die andern besser, wer er war? Schien es ihm nicht manchmal, als ob sogar Heinrich, der ihm doch einmal einen Operntext hatte schreiben wollen, ihn um nichts gerechter beurteilte? Und er hörte die Worte wieder, die der Dichter zu ihm gesprochen hatte, an jenem Morgen, da sie von Lambach durch den taufeuchten Wald nach Gmunden gefahren waren. »Sie müssen nicht schaffen, um zu sein, was Sie sind –! Sie brauchen nicht die Arbeit; – nur die Atmosphäre Ihrer Kunst…« Gleich darauf erinnerte er sich des Abends in dem Forsthaus am Almsee, wo ein Jäger von siebenunddreißig Jahren lustige Liedeln gesungen und Heinrich sich gewundert hatte, daß einer in diesem Alter noch so lustig war, da man sich dem Tod doch schon so nahe fühlen müßte. Dann hatten sie sich in einem Riesensaal zu Bett gelegt, wo die Worte widerhallten, lange noch über Leben und Tod philosophiert und waren plötzlich in Schlaf gesunken. Am Morgen darauf, unter kühler Bergessonne hatten sie voneinander Abschied genommen.
Noch immer lag Georg regungslos ausgestreckt in den Plaid gehüllt und überlegte, ob er von seiner Begegnung mit der Schauspielerin Heinrich etwas erzählen sollte. Wie blaß sie geworden war, als sie ihn plötzlich erblickt hatte! Mit herumirrenden Augen hatte sie seinem Bericht von der gemeinsamen Radpartie zugehört, dann ohne weitern Übergang von ihrer Mutter zu erzählen begonnen und von dem kleinen Bruder, der so wunderschön zeichnen könnte. Und die Kollegen hatten von der Bühnentür immer hergestarrt, besonders einer mit einem Lodenhut, auf dem ein Gemsbart steckte. Und am selben Abend hatte Georg sie in einer französischen Posse spielen gesehen und sich gefragt, ob die hübsche Person, die da unten auf der Bühne des kleinen Sommertheaters so unbändig umheragierte, in Wirklichkeit so verzweifelt sein könnte, wie Heinrich sich’s einbildete. Nicht nur ihm, auch James und Sissy hatte sie gut gefallen. Was war das für ein lustiger Abend gewesen! Und das Souper nach dem Theater mit James, Sissy, der Mama Wyner und Willy Eißler! Und am nächsten Morgen die Fahrt im Viererzug des alten Baron Löwenstein, der selbst kutschierte! In weniger als einer Stunde waren sie am See gewesen. Ein Kahn trieb am Ufer hin im Frühsonnenschein, und auf der Ruderbank saß die geliebte Frau, den grünseidenen Schal um die Schultern. Wie kam es nur, daß auch Sissy gleich die Beziehung zwischen ihm und ihr geahnt hatte? Und das heitere Diner dann, oben im Auhof bei Ehrenbergs! Georg hatte seinen Platz zwischen Else und Sissy, und Willy erzählte eine komische Geschichte nach der andern. Und dann, am Nachmittag ohne Verabredung, während die andern alle ruhten, unter der dunkelgrünen Schwüle des Parks, im warmen Duft von Moos und Tannen, hatten Georg und Sissy sich gefunden, zu einer wunderbaren Stunde, die ohne Schwüre der Treue und ohne Schauer der Erfüllung, leicht wie ein Traum durch diesen Tag geschwebt war. Wie möcht ich ihn Augenblick für Augenblick durchdenken und durchkosten, diesen goldnen Tag. Ich seh uns beide, Sissy und mich, wie wir über die Wiese hinunter spaziert sind zum Tennisplatz, Hand in Hand. Ich glaube, ich hab auch besser gespielt als je. – Und ich sehe Sissy wieder, im Strohsessel liegend, die Zigarette zwischen den Lippen und den alten Baron Löwenstein an ihrer Seite, und ihre Blicke glühen zu Willy hin. Wo war ich schon in diesem Moment wieder für sie! Und der Abend! Wie wir in der Dämmerung noch hinausgeschwommen sind in den See, James, Willy und ich, und das laue Wasser mich so köstlich umstreichelt hat! Was für eine Wonne auch das! Und dann die Nacht… die Nacht…
Wieder hielt der Zug stille. Draußen war es schon ganz licht geworden, Georg aber blieb regungslos liegen, nach wie vor. Er hörte den Namen der Station ausrufen, Stimmen von Kellnern, Kondukteuren, Reisenden, hörte Schritte auf dem Perron, Bahnsignale aller Art, und er wußte, daß er in einer Stunde in Wien sein würde. – Wenn Anna Nachrichten über ihn bekommen hätte, wie Heinrich im vergangenen Winter über seine Geliebte! Er konnte sich nicht vorstellen, daß Anna über dergleichen außer Fassung geriete, selbst wenn sie daran glaubte. Vielleicht würde sie weinen, aber gewiß nur für sich allein, ganz in der Stille. Er nahm sich fest vor, sich nichts merken zu lassen. War das nicht geradezu seine Pflicht? Worauf kam es nun an? Nur auf das eine, daß Anna die letzten Wochen ruhig und ohne Aufregung verlebte und daß ein gesundes Kind zur Welt käme. Darauf allein. Wie lange war es schon her, daß er von Doktor Stauber diese Worte gehört hatte? Das Kind…! Wie nahe war die Stunde! Das Kind… dachte er wieder; doch vermochte er nichts zu denken als eben nur das Wort. Endlich versuchte er sich ein lebendiges, kleines Wesen vorzustellen. Aber wie zum Possen erschienen ihm immer wieder Figuren von kleinen Kindern, die aussahen wie aus einem Bilderbuch; burlesk gezeichnet und in überlauten Farben. Wo wird es seine ersten Jahre verbringen? dachte er. Bei Bauern auf dem Land, in einem Haus mit einem kleinen Garten. Eines Tages aber werden wir’s holen und zu uns ins Haus nehmen. Es könnte auch anders kommen… Man erhält einen Brief: Euer Hochwohlgeboren, beehre mich mitzuteilen, daß das Kind schwer erkrankt ist… Oder gar… Wozu an solche Dinge denken? Auch wenn wir’s bei uns behielten, könnte es krank werden und sterben.
Jedenfalls muß man es zu sehr verläßlichen Menschen geben. Ich will mich selbst darum kümmern. – Es war ihm, als stände er neuen Aufgaben gegenüber, die er niemals recht überlegt hatte und denen er innerlich nicht gewachsen war. Die ganze Geschichte fing gleichsam von neuem für ihn an. Er kam aus einer Welt zurück, in der ihn alle diese Dinge nichts gekümmert, wo andre Gesetze gegolten hatten, als die, denen er sich jetzt wieder fügen mußte. Und war es nicht gewesen, als hätten auch die andern Menschen gefühlt, daß er nicht zu ihnen gehörte, als wären sie alle von einem gewissen Respekt durchdrungen gewesen, als hätte Ehrfurcht sie erfaßt, vor der Macht und Heiligkeit einer großen Leidenschaft, die sie in ihrer Nähe walten sahen? Er erinnerte sich eines Abends, an dem die Hotelgäste einer nach dem andern aus dem Klavierzimmer verschwunden waren, als wären sie sich ihrer Verpflichtung bewußt, ihn mit ihr allein zu lassen. Er hatte sich an den Flügel gesetzt und zu phantasieren begonnen. Sie war in ihrer dämmrigen Ecke geblieben, in einem großen Armstuhl. Zuerst hatte er ihr Lächeln noch gesehen, dann nur das dunkle Leuchten ihrer Augen, dann nur mehr die Umrisse ihrer Gestalt, dann überhaupt nichts mehr; doch immer gewußt: sie ist da. Drüben am andern Ufer waren Lichter aufgeblitzt. Die zwei Mädeln in den blauen Kleidern hatten durchs Fenster hereingeguckt und waren gleich wieder verschwunden. Endlich hörte er zu spielen auf und blieb stumm am Klavier sitzen. Da war sie langsam aus der Ecke hervorgekommen, einem Schatten gleich und hatte ihre Hände auf sein Haupt gelegt. Wie unsäglich schön war das gewesen! Und alles fiel ihm