Sophienlust Staffel 8 – Familienroman. Diverse Autoren
wenn sie gesehen haben, daß andere Kinder ohne weiteres in den Käfig gehen, werden sie ihre Angst überwinden.«
Dankbar blickten die Geschwister ihn an und bewunderten dann den halbblinden Esel Benjamin, der ein freudiges Iah hören ließ, als Pünktchen ihn streichelte. Diesmal überwandten Kuni und Mathias ihre Angst und betasteten zaudernd das struppige Fell des Esels.
Später dann saßen die Kinder im Wohnzimmer am Tisch. Sie tranken süßen Kakao und aßen dazu Apfelkuchen mit Schlagsahne.
*
Am Abend lagen Kuni und Mathias glücklich in ihren weichen Betten. Sie waren rechtschaffen müde von den vielen neuen Erlebnissen, doch sie waren viel zu aufgeregt, um sofort einschlafen zu können.
Ingrid, die ihre Kinder zu Bett gebracht hatte, sagte ihnen liebevoll gute Nacht. Kuni schlang ihre Arme um ihren Hals. »Mutti, mir gefällt es hier sehr gut. Am liebsten möchte ich länger hierbleiben«, gestand sie.
»Ich auch«, echote ihr Bruder gähnend.
»Wirklich?« Ingrid fiel ein Stein vom Herzen.
»Ja, Mutti. Aber du sollst auch hierbleiben.«
Ingrid hielt es für klüger, darauf im Augenblick nicht zu antworten. Sie gab den beiden noch einen Kuß und verließ dann das Zimmer.
Kuni und Mathias schliefen auf der Stelle ein. Ingrid aber fand noch lange keinen Schlaf. Zuviel ging ihr im Kopf herum. Auch sehnte sie sich mit der ganzen Kraft ihres Herzens nach ihrem Mann. Wie schön wäre es, wenn er hier wäre, dachte sie. Ihm würde es in Sophienlust bestimmt auch gefallen.
Ingrid zog sich aus und nahm noch eine lauwarme Dusche in dem an-schließenden Badezimmer. Der Komfort in diesem wunderschönen Herrenhaus tat ihr unendlich wohl. Und der Gedanke, daß sie jederzeit nach Sophienlust kommen durfte, hatte etwas unendlich Beruhigendes für sie.
Am nächsten Vormittag sprach Ingrid mit ihren Kindern, die sofort damit einverstanden waren, in Sophienlust zu bleiben. Selbst als sich Ingrid gegen Abend von ihnen verabschiedete, vergossen sie keine Träne.
Nick schmunzelte in sich hinein. Da sieht man wieder einmal, was für eine Zaubermacht Sophienlust hat, dachte er glücklich. Trotz seiner fünfzehn Jahre hatte er noch die romantische Vorstellung, daß das Herrenhaus von einer guten Fee erbaut worden sei und allen Menschen, die hier lebten, nur Glück bringe.
Schwester Regine kümmerte sich um die Geschwister. Als die beiden dann im Bett lagen, bekamen sie noch Besuch von Pünktchen, Angelika, Vicky, Henrik und Peter. Letzterer zeigte deutlich, wie sehr er sich freute, daß die beiden für unbestimmte Zeit in Sophienlust bleiben würden. Er fühlte sich stark zu ihnen hingezogen.
*
Ingrid schlief die erste Nacht ohne ihre Kinder in der kleinen Wohnung sehr unruhig. Immer wieder schreckte sie hoch und war froh, als endlich der Morgen dämmerte. Auch das Frühstück schmeckte ihr nicht ohne ihre Lieblinge, obwohl sie sich sagte, daß die Kinder in Sophienlust am besten aufgehoben seien.
Ingrid fürchtete sich auch in den nächsten Tagen vor dem Alleinsein. Darum blieb sie so lange wie möglich im Krankenhaus. Auf diese Weise verging die Woche schneller, als sie geglaubt hatte.
Wie sie sich vorgenommen hatte, fuhr sie am Freitagabend dann mit dem Nachtzug von Frankfurt nach München. Sie war fest entschlossen, durchzusetzen, daß sie im Laufe des Monats mit ihren Kindern nach München übersiedeln konnte. Sollte Guido nicht ganz damit einverstanden sein, würde sie zwar die Kinder noch einen Monat in Sophienlust lassen, aber selbst bei ihrem Mann bleiben.
Im letzten Augenblick hatte Ingrid noch ein Bett im Liegewagen bekommen. So verschlief sie die halbe Fahrt. Trotzdem erwachte sie unausgeschlafen und wie gerädert. Dementsprechend war auch ihre Stimmung. Zweifel begannen sie nun zu quälen. Sie dachte daran, daß sie Guido ihre Ankunft vielleicht hätte mitteilen sollen. Dann hätte er sie bestimmt vom Bahnhof abgeholt.
Aber nun war es dazu zu spät. Ingrid kam sich, als der Zug in München ankam wie eine Nichtschwimmerin vor, die brutal ins tiefe Wasser geworfen worden war. Eine graue Nebeldecke lag über der Stadt, als sie mit den anderen übernächtigten Reisenden dem Ausgang zustrebte.
Ingrid entschloß sich, erst einmal zu frühstücken. Ein heißer Kaffee würde ihre Lebensgeister sicher wieder wekken. Also setzte sie sich in den Wartesaal Erster Klasse und bestellte eine Portion Kaffee, ein Ei, Semmeln und Butter.
Nach dem kräftigen Frühstück fühlte sie sich tatsächlich etwas besser. Nun gab es keinen Grund für sie mehr, nicht zu dem Haus in Bogenhausen zu fahren. Mit bangem Herzen stieg sie in ein Taxi und nannte dem Fahrer die Adresse.
Auf der Fahrt erinnerte sich Ingrid daran, daß Guido kein Frauenverächter war. Wie peinlich, wenn… Nein nein, so weit durfte sie mit ihrem Mißtrauen auch nicht gehen. Guido war ein verheirateter Mann und Vater von zwei Kindern. Er wußte bestimmt, wo seine Grenzen lagen.
Ingrid fuhr aus ihren Gedanken hoch, als das Taxi vor einer niedrigen Gartentür stehenblieb.
Ingrid bezahlte. Dabei ärgerte sie sich, daß sie nicht mit der Straßenbahn oder dem Bus hergefahren war. Das wäre billiger gewesen.
Mit klopfendem Herzen stand sie dann vor der Tür. Noch fehlte ihr der Mut, auf den Klingelknopf zu drücken. Dann aber überwand sie ihre kindische Angst und läutete.
Laut hämmerte das Blut in ihren Schläfen, als sie Schritte hörte und kurz darauf ihrem Mann gegenüberstand. Er trug die Hausjacke, die sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Als sie dem Blick seiner dunklen
Augen begegnete, las sie darin alles
andere als Freude. Auch sah er sehr mitgenommen aus. So, als ob er die ganze Nacht kein Auge geschlossen hätte.
»Du?« fragte er in einem Ton, der ihr deutlich sagte, wie ungelegen sie kam. Jede Freude erlosch in ihr.
»Du scheinst nicht sehr erfreut über meinen Besuch zu sein, Guido? Findest du es denn so unnatürlich, daß eine Ehefrau ihren Ehemann unangemeldet besucht?« fragte sie spitz.
»Aber nein, Ingrid.« Guido zwang sich, etwas entgegenkommender zu sein. »Ich stecke mitten in der Arbeit. Fast die ganze Nacht habe ich an einem besonders schwierigen Fall gearbeitet.«
»Ach so.« Ingrid atmete wie befreit auf. »Es tut mir leid, daß ich verärgert war«, entschuldigte sie ihren spitzen Ton. »Ich mache uns am besten erst einmal ein kräftiges Frühstück. Soll ich Semmeln holen?«
»Das ist ein guter Einfall, Ingrid. Nach einer Tasse Kaffee werde ich munterer sein. Gleich um die Ecke ist eine Bäckerei.«
Ingrid drückte ihrem Mann das Köfferchen in die Hand und eilte davon, glücklich, etwas für Guido tun zu dürfen. Als sie in das Haus zurückkehrte, hatte sich seine Laune zwar gebessert, aber sie wartete vergeblich auf seinen Willkommenskuß.
Ingrid bereitete nun das Frühstück zu. Dabei stellte sie fest, daß unbedingt eine Frau in dieses Haus gehörte. In Gedanken sah sie sich hier schon schalten und walten. Die Vorhänge müßten gewaschen und die Möbel aufpoliert werden, dachte sie. Und die Küche sieht entsetzlich aus. Das Geschirr von mindestens einer Woche steht im Abwasch.
»Am besten ist es, ich bleibe gleich hier«, erklärte sie lächelnd. »Mir stehen sowieso noch drei Wochen Urlaub zu. Auch würde man mir keine Schwierigkeiten machen, wenn ich um meine sofortige Kündigung bäte.«
»Das ist unmöglich, Ingrid. Du kannst nicht hierbleiben!«
Guidos Antwort war für sie wie eine eiskalte Dusche. »Und warum nicht, Guido?«
»Denke doch an die Kinder.«
»Kuni und Mathias sind gut aufgehoben. Sie können so lange, wie wir wollen, im Kinderheim bleiben.«
»Ingrid, du glaubst wohl, ich sei ein Millionär? Der Aufenthalt dort würde ein Vermögen verschlingen«, hielt er ihr ungehalten vor.
»Nein, Guido, da täuschst du dich. Ich brauche keinen Pfennig zu bezahlen.«