Die Vampirschwestern 9 - Ein Sommer zum Abhängen. Franziska Gehm
den Pinguin noch mehr anspornte. Erst hämmerte er mit vielen kleinen Schlägen wie ein Specht aufs Eis ein. Als ihm das nicht schnell genug ging, versuchte er es mit einer anderen Technik. Er warf den Kopf zurück, rammte den Schnabel mit aller Kraft ins Eis und – blieb stecken.
Der Pinguin drehte den Kopf nach links, nach rechts, er wackelte mit dem ganzen Körper. Es half nichts. Frustriert starrte er auf das dunkle Etwas, das direkt vor seinem Schnabel unter dem Eis lag. Es war groß und rund wie ein See-Elefanten-Popo, hatte eine etwas hellere, erhabene Stelle in der Mitte und zwei dunklere Vertiefungen oberhalb davon, jeweils links und rechts, beinahe wie … Augen!, durchzuckte es den kleinen Pinguin.
Im selben Moment öffneten sich die Augen. Der Pinguin erstarrte zum Eiszapfen. Das dunkle Etwas lebte! Es war nichts zum Fressen, sondern vermutlich eher etwas, das gern Pinguine fraß. Und bei seiner Größe verschlang es wahrscheinlich gleich eine ganze Kolonie mit einem Happen!
In Todesangst stemmte der Pinguin sich mit bis dahin ungeahnten Kräften gegen das Eis. Mit dem ganzen Körper zerrte, drehte und wand er sich. Schließlich riss er den Kopf mit einem schnellen, kräftigen Ruck zurück, dass das Eis nur so knackte, schoss mit dem Schnabel hinaus, stürzte auf den Rücken, schlitterte ein paar Meter über den Eisblock, machte mehrere Drehungen, brachte sich dabei in Bauchlage und sauste über den Rand des Eisblocks in den südlichen Ozean. So schnell wie noch nie in seinem Leben schwamm der Pinguin zurück zu den festen Eismassen, zurück zu seiner Kolonie. Zum Glück sah niemand im dunklen Meer, wie er sich vor Angst ins Gefieder machte.
Der Eisblock mit dem dunklen, lebendigen Geheimnis aber trieb weiter in die entgegengesetzte Richtung. Er entfernte sich vom Südpol und sollte noch Tausende von Kilometern zurücklegen, bevor er schmelzen und sein gewaltiges, finsteres Inneres seine ganze Kraft entfalten würde.
Hitzköpfe
Elvira Tepes hatte es sich in einem Liegestuhl auf der Terrasse hinter dem Haus im Schatten gemütlich gemacht. Obwohl bereits Nachmittag war und die Sonne nicht mehr am höchsten Punkt ihrer Bahn stand, flimmerte die Stadt noch immer vor Hitze. Menschen lungerten wie Walrosse an Seeufern, in Hängematten oder Planschbecken herum. Selbst die Insekten schien die Hitze einzulullen und sie flogen, krabbelten und surrten wie in Zeitlupe durch die Landschaft. Es war, als hätte sich ganz Bindburg in eine kostenlose riesengroße Sauna verwandelt.
Frau Tepes war einer der wenigen Menschen, die die Hitze genossen. Ihr konnte es gar nicht warm genug sein. Sie liebte es, wenn ihr der Schweiß über den Nacken lief und die Luft so heiß war, dass es in der Nase kitzelte. Elvira Tepes war sich sicher, dass sie früher einmal am Äquator gelebt haben musste. Doch vielleicht war sie in ihrem früheren Leben auch nur eine heiße Nudelsuppe gewesen. Wer wusste das schon.
Sie legte den Katalog der Ausstellung „Gebrauchskunst für Küche und Bad – vom Kochlöffel bis zur Klobürste“ beiseite und streckte den Arm nach einem kleinen Radio aus, das auf dem Fensterbrett stand. Langsam drehte sie an dem Rädchen zur Sendersuche, bis sie guten Empfang hatte. Eine junge Frauenstimme verkündete gerade:
„… nun schon die vierte Woche mit Temperaturen über 30 Grad. Die Meteorologen sprechen von einem Jahrhundertsommer. Selbst nachts sinken die Temperaturen kaum noch unter 20 Grad. Man könnte meinen, Bindburg läge in den Tropen. Die Bauern fürchten aufgrund der ausbleibenden Niederschläge um ihre Ernte. In vielen Regionen herrscht Waldbrandgefahr. Die Hitze sorgt für technische Probleme bei der Bahn und für immense Verluste bei den Betreibern von Solarien und Kinos. Doch nicht alle stöhnen unter der Hitze. Es gibt auch zahlreiche Gewinner. Eisverkäufer, Mineralwasserhersteller und Brauereien verzeichnen Höchstumsätze. In den Baumärkten sind Ventilatoren, Klimageräte, Planschbecken, Rasensprenger und Grills ausverkauft. Und auch die Schüler freuen sich – fast alle Bindburger Schulen haben hitzefrei. Gestern wurde mit 41 Grad die bisherige Höchsttemperatur in Bindburg überschritten. Laut dem Bindburger Wetterdienst ist auch in den nächsten Tagen nicht mit Abkühlung zu rechnen. Die Hitzewelle hält an. Wenn Sie Glück haben, verehrte Zuhörer, bekommen Sie noch irgendwo einen Ventilator. Ansonsten hilft wohl nur ein Last-Minute-Flug zum Südpol …“
Musik setzte ein. Joe Cocker krächzte Summer in the City aus dem Radio. „Einundvierzig Grad … herrlich!“, säuselte Elvira Tepes und schloss die Augen. Das Einzige, was ihr an der Hitze zu schaffen machte, war, dass sie die hohen Temperaturen nicht zusammen mit ihren Kindern und erst recht nicht mit ihrem Mann genießen konnte.
Silvania und Daka Tepes baumelten schon den ganzen Tag in ihrem Zimmer. Daka hing wie eine vergammelte Bandnudel an der Metallleine, die sie quer durch den Raum gespannt hatte. Silvania lag im Schiffsschaukelsargbett ihrer Schwester und fächerte sich mit einem dicken Liebesroman Luft zu.
„Schaukel mal ein bisschen, damit frischer Wind aufkommt“, sagte Silvania und schielte nach oben zu ihrer Zwillingsschwester.
„Schaukel doch selbst. Ich bin so schlapp und verschwitzt, dass ich gleich von der Leine rutsche.“
„Die Hitze ist nicht zu ertragen.“ Silvania legte das dicke Buch auf ihren Bauch, hob den Saum ihres langen lachsroten Sommerkleids und wedelte damit mehrmals.
„Und die Langeweile auch nicht“, sagte Daka und hielt sich einen Handventilator, der kaum größer als ein Bleistift war, vor die Stirn. Sie schielte auf den kleinen Ventilator und verzog den Mund, als sich dessen Flügel, die aussahen wie die einer Fledermaus, immer langsamer drehten und schließlich stehen blieben. „Fumpfs! Batterie alle.“ Sie warf den Handventilator über ihre Schulter und eine Sekunde später landete er mit einem Platsch! im Aquarium von Karlheinz.
Dakas liebstes Haustier, der Blutegel Karlheinz, klebte an der Scheibe und sah mindestens genauso jämmerlich und schlapp aus wie die beiden Halbvampire. Zwar sorgte Daka dafür, dass er trotz der Hitze immer genügend Wasser im Aquarium hatte, aber es erwärmte sich schneller, als Daka kaltes Wasser nachfüllen konnte.
„Wenn wenigstens Ludo und Helene vorbeikommen würden“, sagte Silvania.
„Pfff, die eingeschnappten Blutwürste.“
„Stimmt, die könnten langsam mal wieder ausschnappen. Total blöd von ihnen, gleich so beleidigt zu sein“, meinte Silvania. „Nur, weil wir bessere Megatalente wären als sie.“
„Wären wir. Aber ultimo langweilig ist es trotzdem ohne sie.“ Daka zupfte an einer Haarsträhne, die ihr schlapp ins Gesicht hing. „Vielleicht sollten wir zu ihnen gehen und uns bei ihnen entschuldigen.“
Silvania dachte kurz darüber nach. „Gumox. Entschuldigen muss man sich nur für einen Fehler, nicht dafür, dass man die Wahrheit sagt.“ Sie schielte fragend nach oben zu ihrer Schwester. „Oder?“
In dem Augenblick krachte es unten im Wohnzimmer. Es klang, als würde jemand mit den Schrankwänden Domino spielen. Daka rutschte vor Schreck von der Metallleine, landete auf Silvania, die aufkreischte und panisch strampelte, sodass der Schiffsschaukelsarg heftig wackelte und die Schwestern beide herausfielen.
Daka rieb sich den Kopf, Silvania presste die Hände auf den Popo. Um den Schmerz zu lindern, spuckten sie sich gegenseitig auf die Stellen, die ihnen wehtaten. Dann standen sie auf, rissen die Tür auf und liefen nach unten ins Wohnzimmer.
Pritschebreiter Vampir
Herr Tepes lag pritschebreit im Wohnzimmer, und zwar unter der Schrankwand. Es sah aus, als wollte er sich damit zudecken, nur sein Kopf guckte noch hervor.
„Mihai, um Himmels willen!“, rief Elvira Tepes, die von der Terrasse ins Wohnzimmer auf ihren Mann zugerannt kam.
Auch Silvania und Daka eilten zu ihrem Vater. Zu dritt packten sie die Schrankwand, und während Herr Tepes von unten gegen das Möbelstück drückte, hievten sie es langsam wieder hoch. Bücher, Untersetzer, Fotos und ein paar CDs waren aus der Schrankwand auf den Wohnzimmerteppich gefallen, doch das interessierte erst mal niemanden. Herr Tepes lag noch immer wie ein Plattfisch reglos am Boden. Seine Hose und sein Hemd waren von Staub und Spinnweben bedeckt und die Grillzange in seiner Hand war zu einer Art Minischneeschieber platt gedrückt.
„Tut