Ich bin jetzt am Johannesweg. Andrea Fehringer
Augenlider heben sich wie ein Theatervorhang, langsam, rot und schwer. Er sieht alles verschwommen. Sein Blick ist getrübt. Er versucht, die Ränder der Wahrnehmung zu finden, etwas, woran er sich festhalten kann, aber die Dinge entgleiten ihm oder werden von unbekannter Hand fortgezogen. War das nicht ein Mädchengesicht? Könnte das nicht seine Tochter gewesen sein? War das nicht ein Eckstück Vergangenheit? Er muss sich konzentrieren, die Augen öffnen, die Kanten glätten, die Sicht klären.
Goldbraune Locken, ein Hauch von Bergamotte im Parfüm und ein Lächeln, das alles vergessen macht: Electra. Falls das unklar sein sollte: So sehen Engel aus, so und nicht anders.
»Hi«, sagt sie. »Die Clownnummer war nicht gerade ein Reißer.«
Er schmunzelt und sieht das sterile Spitalsweiß im Zimmer. »Wo bin ich?«
»Im Ritz«, sagt Electra. »Honeymoon-Suite.«
»Hol den Zimmerservice«, sagt er, »der Champagner geht auf mich.«
Ihr Blick wird ernst wie bei einem Vortrag. »Du bist hier im Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Kardiologie. Hast uns einen ordentlichen Schrecken eingejagt«, sagt sie und schaut ihm direkt in die Augen. »Ein Herzinfarkt. Keiner, von dem sie sagen, das war jetzt um ein Haar das Ende. Aber immerhin, Infarkt ist Infarkt. Mit sechsundvierzig sollte man was anderes haben.«
»Einen Blutsturz?«
»Sehr witzig. Nein, Bert, wir haben uns wirklich große Sorgen um dich gemacht.« Privat redet sie ihn immer mit Bert an. Bert Grecht heißt er, fast wie der Schriftsteller. Beppo hat sich irgendwann ergeben. Klingt nach Habakuk, hat Rizzoli gesagt, passt zu dir.
»Alle?«
»Na ja, du weißt schon.«
Wie ein alter Mann richtet er sich in dem Krankenhausbett auf, merkt aber, dass er kaum Kraft hat, und sinkt in den Polster zurück. »Dein Vater, unser lieber Herr Direktor, wird wegen der versauten Premiere auch kurz ein Zwicken in der Herzgegend verspürt haben, gell?«
Electra verdreht die Augen, und selbst das sieht aus wie ein Werbeplakat für einen neuen Lidschatten. »Geh, sei nicht so schiach. Du weißt, er ist nicht so …«
»Er ist schlimmer.«
»Bert, bitte.«
»Gut, lassen wir das.« Erst jetzt bemerkt er die Kanüle, die in seiner Armbeuge steckt. Über seinem Bett hängt ein Dreieck, an dem er sich hochzieht, um nicht den Anschein zu erwecken, er liege schon in der Pathologie. »Jetzt sag mir, was ist genau passiert?«
»Du bist mitten in deiner Flugshow umgekippt, einfach so. Ein spektakulärer Abgang, pardon, Unfall oder wie man das nennt. Weißt eh, wie ich das mein. Ein Blitz des Schicksals. Wumm, und du bist dagelegen, wie im Film. Die Kinder haben Rotz und Wasser geheult. Sie dachten, du bist … es hat auch so ausgeschaut.«
»Nur ein toter Clown ist ein guter Clown.«
»Ha … ha.« Sie streicht sich eine Goldsträhne aus dem Gesicht. Das Sommerkleid wirkt dünner als eine Idee. Sie trägt keinen BH. »Der Arzt sagt, du musst dein Leben komplett ändern.«
»Was meint er, eine Geschlechtsumwandlung?«
»Hör auf, Bert. Das Rauchen, das Trinken, du weißt schon. Er sagt, du nimmst auch irgendwelche Tabletten gegen Panikattacken oder so, stimmt das?«
»Nein, das war nur kurzfristig. Der ganze Stress, die Premiere, die neue Vorstellung, dein Vater und alle drum herum ganz narrisch.« Er schaut an ihr vorbei, damit sie die Wahrheit nicht in seinem Blick liest.
»Jedenfalls rät der Doktor dringend zu einer radikalen Wende. Du musst kein Mönch werden, aber ein bisserl ein Fisch auf dem Teller würde dir nicht schaden. Stilles Wasser, Schlaf vor Mitternacht, Sport, Mentaltraining. Positive Gedanken. Schluss mit den Tabletten.«
»Ich könnte auf Heroin umsteigen.«
Electra seufzt. Die Ende dreißig sieht man ihr bei Weitem nicht an. »Du bist unverbesserlich. Können Clowns traurig sein?«
Hast du eine Ahnung, denkt er, sagt aber: »Nur an ungeraden Tagen.«
»Jedenfalls«, ergänzt Electra und deutet in Richtung Monitor, auf dem eine grüne Linie einen Zickzackkurs beschreibt und ein Punkt neben der Zahl 126 pulsiert, »wirst du noch ein paar Tage zur Beobachtung hierbleiben müssen. Sie checken dich von oben bis unten durch.«
»Vielleicht sollten sie’s bei oben belassen. Sonst werden die Schwestern unruhig und die Ärzte neidisch.«
»Schön zu sehen, dass es dir wieder besser geht.«
Er geniert sich in seinem hellblauen Nachthemd. »Was sagst du zu meinem Outfit?«
»Ist zumindest dezenter als deine sonstige Berufskleidung. Hättest du gerne einen Tigerpyjama?« Electra zwinkert ihm zu und sagt im Gehen: »Ich soll dir von allen liebe Grüße und das ganze Zeug ausrichten. Du sollst wieder ganz schnell gesund werden und so weiter. Hast ja so ein großes Herz, zum Glück.« Sie deutet auf den Tisch, voll mit Blumen und Glückwunschkarten. »Ich muss jetzt los. Du weißt, Papa wird sonst … unruhig.«
»Na, das will ja nun wirklich niemand, dass er … unruhig wird.«
»Tschüss, Bert.«
»Schmatz. Fahr vorsichtig. Man landet so schnell im Krankenhaus. Und … danke, dass du da warst.«
Ihre langen Beine, das Wiesengrün des Kleids, die luftigen Haare und die Leichtigkeit ihres Gangs bleiben ihm in Erinnerung wie ein schöner Traum, als er die Augen wieder schließt und sich ausmalt, dass er sie fragen könnte, ob sie nicht vielleicht irgendwann einmal, falls sie kurz Zeit habe, mit ihm auf einen Kaffee gehen wolle, so einen schaumigen Cappuccino, oder ob sie sich möglicherweise ein Abendessen vorstellen könne, eines von den unverbindlichen, die nichts bedeuten oder heraufbeschwören. Einfach ein Abendessen bei Kerzenschein.
Auf dem Zirkusgelände weht der Wind der Niedertracht. Franco Rizzoli sitzt in seinem bordeauxrot eingefärbten Wohnwagen, in der Direktion, und kocht vor Wut, obwohl schon vier Tage vergangen sind seit dem Vorfall. Seit dem Reinfall. Was für eine Schmach. Noch nie in seinen sechsundsechzig Jahren, in denen er mit dem Tross trauriger Gestalten durch die Lande gezogen ist, um dem Publikum, all diesen namenlosen Dummköpfen, das Wesen des Zirkuslebens nahezubringen, niemals ist so etwas passiert. Der Idiot ist einfach eingegangen. Da hat das Schicksal der Marionette die Fäden gekappt.
Das gottverdammte Foto war in allen Zeitungen. Clown Beppo bei der Premiere zusammengebrochen! War es seine letzte Vorstellung? Der Direktor selbst hat über Jahrzehnte und in jedem Zustand seinen Mann gestanden, wie es sich gehört für einen gebürtigen Sizilianer. Mit hohem Fieber, gebrochenem Arm, Gürtelrose, kaputten Bandscheiben, egal, nichts konnte ihn jemals in die Knie zwingen, nicht einmal die Wirtschaftskrise, die dankenswerterweise die meisten Konkurrenten ausgehungert hat, ihn aber nicht. Wäre ja gelacht. Die jungen Leute von heute kennen das nicht, denkt er, sie haben kein Ehrgefühl, nichts, dass sie mit Energie speist, mit Siegeswillen. Den muss man ihnen einbläuen, notfalls mit dem Stock. Der Gürtel, ach, der ist harmlos. Er zeigt den Schwächlingen nur, wo’s langgeht. Sie müssen verstehen. Ihr Sturm und Drang ist ein Furz im Wind. Alle geben so schnell auf. Ein Schnupfen, und sie greinen. Ein Husten, und sie liegen im Bett. Ein Hexenschuss, und sie schreien Gewerkschaft. Was ist nur aus dieser Welt geworden. Alles geht den Bach runter. Er verzieht das Gesicht zur Fratze. Sein Ausdruck ist gemeißelte Verachtung.
»Hallo, Papa«, sagt Electra und reißt ihn aus seinen Gedanken. »Wie schaust du denn drein?«
»Ich schau wie immer. Was gibt’s, Mädchen?« Er nennt sie nie mein Schatz, mein Kind, meine Electra, immer nur Mädchen.
»Ich wollte dir was zeigen, da.« Sie hält ihm einen Folder hin, wartet, dass er ihn nimmt, aber er macht keine Anstalten. Electra legt ihm das Faltblatt auf den Arbeitstisch und bedeutet, er möge einen Blick darauf werfen, doch es scheint ihn in keiner Weise zu interessieren. Sie lässt sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. »Papa, schau doch kurz einmal, das ist etwas Schönes« – sie öffnet den Folder