Ich bin jetzt am Johannesweg. Andrea Fehringer

Ich bin jetzt am Johannesweg - Andrea  Fehringer


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jetzt beleidigt sein sollte. Dann entschied sie sich dagegen und nickte. Irgendetwas hatte in ihr geklingelt.

      In ihrem Beruf hatte Lena Karriere gemacht. Zumindest hörte sie das immer von den anderen. Du mit deinem Erfolg, hieß es immer. Für Lena fühlte sich ihr Leben nicht unbedingt so geradlinig an, wie man das von außen wahrnahm. Allein, dass sie Architektin geworden war, hatte sich schon um drei Ecken geschlängelt. Angefangen hatte sie an der Kunstakademie, aber da konnte sie nicht mit dem Leiter ihrer Meisterklasse. Oder er nicht mit ihr, egal, es kam aufs selbe heraus, sie pfiff auf die Architektur, machte einen Abstecher in den Journalismus und versuchte es nach zwei Jahren noch einmal mit dem Bauwesen, diesmal auf der Technischen Universität. Der Versuch gelang, nach acht Semestern hatte sie ihren Abschluss und bekam umgehend ein Angebot. Es war von der Zeitung, nach deren Absage sie den Journalismus an den Nagel gehängt hatte. Seltsame Welt, dachte sie. Ein Job in ihrem Fach tat sich nicht auf. Monatelang hielt sie sich mit Architekturkritiken im Internet über Wasser, dann meldete sich ein Kollege bei ihr. Sie hatten sich in den letzten Semestern auf der Uni gut verstanden und dieselben Ansichten über die Bausünden im Land. Franz, so hieß der Kollege, hatte sich gleich nach der Uni selbstständig gemacht und so ziemlich an jedem Wettbewerb für jedes Projekt teilgenommen, der nur irgendwo ausgeschrieben war. Ohne Erfolg, soweit Lena es verfolgt hatte. Dass er sich diese Durststrecken leisten konnte, lag an seinem unglaublich haltbaren Pokerface und unverschämt vielen Royal Flushes, mit denen er sich schon das Studium finanziert hatte. Nun hatte Franz einen dieser Wettbewerbe gewonnen und durfte einen weiteren Büroturm in das Viertel jenseits der Donau bauen, das Wien die Silhouette einer Skyline gab. Innerhalb von ein paar Wochen war er mit seinem Entwurf in den Himmel gejubelt worden, an dem die Wolken hingen, an denen sein Haus kratzen würde. Lena sollte beiden beim Kratzen helfen. Es war der Beginn einer wunderbaren Kreativgemeinschaft. Nach dem zweiten Büroturm wurden sie eine Beziehungsgemeinschaft, kurz bevor sie ihr erstes Auslandsprojekt an Land zogen, eine Wohngemeinschaft. Im Flieger nach Berlin, wo sie ihr zweites Atelier einrichten wollten, fragte Franz Lena, ob sie sich nicht vorstellen könnte, dass sie sich dereinst gegenseitig den Buckel kratzen könnten. Lena verstand sein Wortspiel, aber nicht genau, was er damit meinte. Franz musste seinen Heiratsantrag wiederholen, weshalb ihm das Fasten-seatbelt-Zeichen dazwischenkam und die Angelegenheit etwas unromantisch auf den Boden gebracht wurde. Die Ehe hielt drei Wolkenkratzer lang.

      Vielleicht sah Lena deshalb ihre Laufbahn nicht als Erfolgsgeschichte. Sie konnte Gebäude für alle Bedürfnisse hinstellen, ein Heim für Franz und sich hatte sie nicht zustande gebracht. Es war ihr ein Leichtes, jeden Bauherrn zufriedenzustellen, Franz zu befriedigen, war ihr nicht gelungen. Die Ehe blieb kinderlos, dafür hatte Franz bald einen Stall voller Geliebter. Solange es viele waren, schaute Lena noch zu. Als sich Franz’ Interesse auf eine einzige konzentrierte, schaute Lena in den Spiegel. Was sie sah, war eine gigantische Entschuldigung für Franz. In ihren Augen war es nicht nur logisch, sondern geradezu notwendig, dass er sich eine andere gesucht hatte. So einen Koloss wie sie konnte man nicht lieben. Sie war mit ihren Wolkenkratzern gewachsen, die in die Höhe, sie in die Breite. Sie war auseinandergegangen, da geschah es ihr nur recht, dass auch Franz und sie jetzt auseinandergingen. Die Scheidung ging sehr amikal über die Bühne, weil Lena aus lauter Schuldgefühl auf alles verzichtete und Franz ihr aus lauter schlechtem Gewissen die Hälfte von allem überließ. Die Trennung schadete auch keinem von beiden beruflich, weil sie die Projekte aus Zeitgründen ohnehin schon aufteilen hatten müssen. Aber Lena kostete das Scheitern ihrer Ehe mehr, als mit Geld zu bezahlen war. Ihre Oma hatte recht gehabt. Aus ihr war nichts geworden. Obwohl sie so brav gegessen hatte. Oma hatte alles versucht. Nicht einmal das hatte ihr geholfen. Für Lena hieß das: Ihr war nicht zu helfen.

      »Es ist also nichts aus Ihnen geworden«, fasste Frau Doktor Gutfleisch zusammen.

      »Na ja«, gab Lena zu, »beruflich geht’s mir nicht so schlecht.«

      »Nicht so schlecht«, wiederholte Frau Doktor Gutfleisch. »Sie sind eine der wenigen Frauen, die sich als Architektin international einen Namen machen konnte. Sie sind eine der wenigen Frauen, die allein mit ihrer Arbeitskraft ein Büro mit zehn Mitarbeitern, eine Villa in der besten Gegend Wiens und einen Lebensstandard, der sie trotz der vielen Arbeit vor einem Burnout bewahren wird, erhalten kann. Sie kommen ohne einen Riesenschlitten aus, dafür haben Sie sich ein Elektrofahrrad geleistet. Sie kommen ohne Auszeiten in einem Sechssternhotel in Dubai aus, dafür haben Sie sich einen Hund angeschafft, mit dem Sie Urlaub auf der Alm machen. Und Sie kommen ohne ärztliche Kunstgriffe aus, die Ihnen das Fett absaugen. Und nur wegen einer Null zu viel auf der Waage glauben Sie, dass sie nichts und niemandem etwas wert sind. Gebe ich das korrekt wieder?«

      Lena nickte. Für sie war das komplett korrekt. Obwohl, langsam kam es ihr ein bisschen überspitzt vor. Frau Doktor Gutfleisch hatte tatsächlich eine Art, die Dinge beim Namen zu nennen. »Sie sind schon …«, Lena überlegte kurz, »… etwas polemisch, vielleicht.«

      »So«, sagte Frau Doktor Gutfleisch. »Polemisch also.«

      »Im Journalismus würden Sie …«

      »Im Journalismus würde ich Ihnen das alles auch noch schriftlich geben«, fiel ihr Frau Doktor Gutfleisch ins Wort. »Aber das brächte Sie auch nicht weiter.«

      Was bringt mich denn weiter?, wollte Lena fragen, aber irgendetwas hielt sie zurück. Frau Doktor Gutfleisch würde ihr eine Antwort geben, so viel war sicher. Aber sie wollte keine, da war sie auf einmal auch sicher. Eine Antwort bedeutete eine Lösung, und auf die war sie gar nicht aus. Sie war zur Therapie gekommen, um sich ihr Leben leichter zu machen. In ihrem Fall hieß das simpel: abnehmen. Wenn sie Gewicht verlor, war ihr Leben leichter. Das war die Antwort, das war die Lösung. Und es war genau das, was sie nicht hören wollte.

      Die Dinge passten nicht mehr zusammen. Ihre Oma hatte nicht recht gehabt, das hatte Frau Doktor Gutfleisch Lena mittlerweile klarmachen können. Es war etwas aus ihr geworden, nämlich genau das, was ihre Oma sich vorgestellt hatte. Lenas beruflicher Erfolg wäre der begnadeten Köchin vollkommen egal gewesen. Der Oma war es nicht auf Materielles angekommen, und Hochhäuser gab es kaum am Land, wo sie zeitlebens gewohnt hatte. Der Oma war es wichtig gewesen, dass Lena groß und stark wurde, damit sie sich im Leben behaupten konnte, damit sie sich wehren konnte und etwas auszuhalten imstande war. Frauen hatten eine Menge auszuhalten gehabt in Omas Welt. Dafür hatte sie Lena ausstatten wollen. Dafür hatte sie sie mit einer Schutzschicht umgeben wollen. Lena brauchte einen Panzer, der sie vor dem Leben schützte. Oma hatte ihr diesen Panzer angelegt. Aber jetzt war es einer, der sie nicht vor dem Leben schützte, es war einer, der sie vor dem Leben bewahrte, sie gar davon abhielt.

      Als Lena aus ihren Überlegungen auftauchte und wieder im Sprechzimmer der Therapeutin ankam, sah sie Frau Doktor Gutfleisch erstmals lächeln.

      »Jetzt haben Sie’s«, sagte sie.

      »Können Sie Gedanken lesen?«, fragte Lena.

      »Nein«, sagte Frau Doktor Gutfleisch, »ich kann Gedanken machen.«

      Lena überging die sprachliche Feinheit. Sie wusste, was gemeint war. Eine Therapeutin brauchte sich keine Gedanken zu machen, das war der Part ihrer Patienten. Aber sie war dafür zuständig, dass es die richtigen Gedanken waren.

      Bei Lena hatte die Therapie angeschlagen. Im Ansatz hatte sie begriffen, was bei ihr falsch lief. Sie verkroch sich hinter ihrer körpereigenen Schutzschicht. Sie verkroch sich dort vor dem Leben. Vor ihrem Leben. Und das war nicht das Leben von Lena, der Architektin. Es war das Leben von Lena, der Frau. Solange sie dieses Versteck hinter ihren Fettpölstern hatte, brauchte sie nicht da hinaus. Dort draußen war für Lena immer noch Feindesland. Voll von Männern. Als Architektin konnte sie wunderbar mit denen. Da verhandelte sie mit ihnen, fachsimpelte mit ihnen, diskutierte mit ihnen. Sie lachte mit ihnen, flirtete und ging ins Bett mit ihnen. Solange sie geistig dabei den Helm aufhatte, den sie auch auf der Baustelle trug, gelang ihr das ohne Weiteres. Sie fand Vergnügen daran. Sie konnte sich mit voller Begeisterung in solche Episoden stürzen. Solange niemand eine Affäre aus diesen Verhältnissen machte, war Lenas Welt ganz in Ordnung. Solange sie aussah wie ein Walross, war nicht zu fürchten, dass ein Mann ihrer Seele zu nahe kam. Beim ersten Anzeichen von Gefahr konnte sie ein, zwei Kilo zulegen und einmal mehr austesten: Na? Magst du mich jetzt immer noch?

      Irgendwann


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