Ich bin jetzt am Johannesweg. Andrea Fehringer
Wirtschaftskammerpräsident. Und eine Schauspielerin von der Volksoper, hab den Namen vergessen, Sandra, Monika, irgendwas mit F.«
»Papa, bitte!«
»Was ist denn jetzt schon wieder, Mädchen?«
»Kannst du mir einmal im Leben zuhören? Es geht jetzt einmal ganz kurz nicht um die nächste Vorstellung. Nicht um den Zirkus. Nicht um dich.«
»Pass auf dein loses Mundwerk auf.«
»Ich wollte dir zeigen, wo ich als nächstes Urlaub machen will. Es ist eine Art Wanderweg, nur bedeutungsvoller. Ein Pilgerweg oder so. Die Strecke geht durch Oberösterreich, rund um eine besonders schöne Region: die Mühlviertler Alm. Vierundachtzig Kilometer. Von oben, aus der Vogelperspektive betrachtet, ist der Weg einer Lilienblüte nachempfunden. Die haben das anscheinend als Logo oder Symbol. Eine weiße Lilie.«
»Wunderbar.«
»Ja, find ich auch. Der Johannesweg führt Menschen nicht nur durch die Natur, sondern auch zu sich selbst.«
»Aha.«
»Das Ganze basiert, wie da steht, auf zwölf Weisheiten. Es geht um Einkehr und Zufriedenheit. Zigtausende Menschen sind den Weg gegangen. So ein Doktor aus Linz hat das ins Leben gerufen, ein Hautarzt.«
»Kratzt mich überhaupt nicht.«
»Papa! Ich will den Weg gehen. Ich glaube, das tut mir gut. Ich brauche wieder diesen Kontakt zur Natur. Das Gefühl ist weg. Wir sind nur hier drinnen. Abgeschottet von … na ja, wie im Löwenkäfig. Aber selbst der Simba darf raus und ein bisschen Freiheit schnuppern. Zurzeit ist so viel … ich weiß nicht … ich hab den Eindruck, dass manche Dinge nicht so laufen, wie sie laufen sollten.«
»Da sprichst du endlich wahre Worte, Mädchen.« Wie zur Bestätigung nickt er, bis das Doppelkinn zittert. Er fasst sich am Wanst, atmet tief durch und will das Gespräch abbrechen. »Mädchen, ich muss jetzt wirklich –«
»Wir haben hier noch drei Shows. Dann nehme ich mir Urlaub, Papa. Ich brauche das. Es ist mir wichtig. Ich will diesen Weg gehen. Übrigens alleine, falls dich das kümmert oder sorgt. Nach unserem letzten Auftritt in Wien bin ich weg, eine Woche wahrscheinlich. Die Reise beginnt in Pierbach, das ist eine kleine –«
»Damit das klar ist, Mädchen: Urlaub gibt es keinen. Reise gibt es keine. Weg gibt es keinen.« Er schnappt den Folder und zerreißt ihn in der Mitte. Dann faltet er die Papierreste zusammen und zerreißt sie aufs Neue, bis nur mehr Schnipsel übrig bleiben, die zu Boden rieseln.
Electras Augen werden feucht. Sie schluckt, reibt sich die Nase, blickt zu Boden. Eine Träne löst sich und kullert ihre rechte Wange herab. Sie wirkt wie eine Frau, der man gerade die Würde genommen hat.
Auf einmal steht Beppo in der Tür. Na so was, denkt Franco Rizzoli, der muss sich angeschlichen haben oder hereingeschwebt sein. Electra schrickt auf. »Bert! Du … bist schon wieder da?« Sie lächelt zaghaft, und er deutet mit erhobenem Daumen ein Ja. Gleichzeitig merkt Beppo, dass irgendetwas nicht stimmt. »Was ist passiert? Weinst du?«
Rizzoli haut mit der Faust auf den Tisch. »Nichts ist passiert. Niemand weint. Wir hatten ein Gespräch von Vater zu Tochter, und jetzt raus mit euch, alle beide. Und mit dir, du Clown, habe ich sowieso noch ein Hühnchen zu rupfen, das kommt später, frage nicht. Wir müssen uns über die Schadensbegleichung unterhalten.«
Eine nette Begrüßung. Beppo fühlt, wie sich sein Magen verkrampft. Er merkt, wie seine Achselhöhlen schweißnass werden. Es ist ihm schleierhaft, wie ihn der alte Mann derart in Panik versetzen kann. Immer schon hat er ihn gefürchtet. Despoten lassen sich nicht umstimmen, sie ändern ihre Meinung nie. Beppo will etwas sagen, doch es kommt kein Ton aus ihm heraus. Er kriegt kaum Luft. Ein Stahlkorsett hat sich um seine Brust gelegt, und irgendeine fremde Kraft zieht es immer enger zu. Obwohl er steht, kommt er sich vor wie lebendig begraben. Der Körper ist gleichzeitig sein Sarg. Er beginnt zu zittern. Je mehr er sich sagt, dass es keinen Grund für diese unsägliche Angst gibt, desto schlimmer wird es. Er will kein Feigling sein, nein, er will dem Schwein seine Meinung ins Gesicht schreien. Keine Chance. Es geht nicht. Beppo kommt sich vor, als hätte man ihm eine Substanz injiziert, die sowohl den Willen bricht, als auch die Bewegung lähmt. Ja, so sehen Feiglinge aus. Eingefroren in ihrer eigenen Furcht.
»Gibt’s noch was?«, brummt Rizzoli. Er streckt den Arm und fährt den Finger aus wie ein Springmesser. »Dort ist die Tür.«
Electra stellt sich vor ihren Vater. »Nein.«
»Wie bitte?« Rizzoli legt den feisten Kopf schief und grinst wie ein Troll.
»Nein habe ich gesagt.« Electra drückt ihre Schultern nach hinten. Angriffspose. Sie bebt, atmet laut, faucht. »Erstens wollen wir unseren wichtigsten Mann hier begrüßen. Bert, großartig, dass du wieder da bist. So schnell bist du gesund geworden? Das war ein Herzinfarkt, keine Verkühlung. Wir dachten, du würdest länger im Spital bleiben. Und zweitens, Papa, zweitens gehe ich den Weg, von dem ich dir gerade erzählt habe, den Johannesweg, und zwar genau nach unserer letzten Vorstellung hier in Wien. Nach elf Jahren, denke ich, darf man eine Woche Urlaub machen. Ich schätze, das erlaubt sogar mein ganz eigener Künstlervertrag, den du mich als Kind hast unterschreiben lassen, lieber Vater. Ich werde Wanderschuhe einpacken und die Bürde, deine Tochter zu sein, auf mich nehmen. Ich hab vierundachtzig Kilometer Zeit, um über uns nachzudenken. Da wird sicher einiges klar werden, schätze ich.«
Rizzolis Lider zucken. Er verzerrt das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit, ballt die rechte Hand zur Faust und holt aus. Electra sieht den Schlag kommen, die weißroten Knöchel auf sich zuschnellen, immer größer, vier Fingerglieder und der abgebogene Daumen, ein kleiner Presslufthammer direkt vor ihrem Gesicht und –
Stopp. Das Bild wird angehalten. Als habe jemand die Pause-Taste gedrückt. Die Faust wartet in der Luft. Beppo hält den Arm des Zirkusdirektors wie ein Schraubstock. Rizzoli schaut ihn völlig entsetzt an.
Was? Wie? Wer … wagt es? Beppo hat den Schlag aufgehalten, drückt ihm die Hand in Zeitlupe herunter. Und sagt nur drei Worte: »Jetzt. Ist. Schluss.«
Draußen auf dem Messegelände kracht er gegen einen Mann im Anzug. Beppo hat ihn fast umgerannt, weil er mit den Gedanken woanders war, nämlich beim Packen seiner sieben Sachen, beim Gehen. Es ist klar, dass er dem Zirkus den Rücken kehrt, für immer.
»Sie kommen mir von irgendwoher bekannt vor«, sagt der Mann, der seine verrutschte Brille geraderichtet. »Ich weiß nicht genau, wo ich Sie hintun soll.«
»Das hat meine Exfrau auch immer zu mir gesagt.«
Der Anzugmann lacht. »Geht mir gerade so ähnlich.«
»Richtig verheiratet«, sagt Beppo, »ist ein Mann erst, wenn er jedes Wort versteht, das seine Frau nicht gesagt hat.«
»Ist das von Ihnen?«, fragt der Anzugmann.
»Alfred Hitchcock. Der muss es gewusst haben. Hat ja mehr mit Vögeln zu tun gehabt als ich.« Beppo hat sich nach dem Auftritt bei Rizzoli erstaunlich schnell gefangen, manchmal hilft die Bühnenroutine auch im Leben.
»Sie sind schlagfertig. Das gefällt mir. Sind Sie nicht dieser Clown, dieser, dieser …«
»Beppo, ja. Respektive, das war ich bis vor einer Stunde. Ich bin draußen. Der Direktor hat mich gefeuert.«
»Warum?«
»Ich habe seine Tochter vor ihm beschützt. Sie ist … also, wurscht, das würde jetzt zu weit führen. Er hat sie nie sehr gut behandelt. Jetzt war es einmal zu viel des Schlechten.«
Der Mann im Anzug denkt kurz nach und fischt eine Visitenkarte aus seinem Sakko. »Hier. Ich heiße Curd Jürgens. So wie der Schauspieler. Keine Witze bitte, ich kenne sie alle. Mir gehört übrigens das Radio Fun-Fun.«
»Ist das für Stotterer? Fun … Fun?«
Curd Jürgens antwortet nicht, aber hinter seiner Stirn scheint sich einiges zu tun. So schaut jemand aus, der gerade eine Königsidee hat. Und tatsächlich: »Wir suchen einen Leiter für unsere