Ich bin jetzt am Johannesweg. Andrea Fehringer

Ich bin jetzt am Johannesweg - Andrea  Fehringer


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zu?«

      Beppo weiß nicht, wie ihm geschieht. Ist das ein Angebot? Ein Vorstellungsgespräch, das schon wieder vorüber ist? »Wie meinen Sie das?«

      »Ich meine, Sie sind doch bisher auch beruflich … äh … lustig gewesen. Ein Clown ist ja kein Bestatter, nicht?« Curd Jürgens hebt die Augenbrauen über die Brille. »Am besten, wir gehen morgen Mittag essen, dann einen Sprung in den Sender, und wir schauen uns an, ob das was für Sie ist. Ich könnte mir auch gut vorstellen, dass Sie eine Sendung bekommen, wenn Sie sich einmal eingearbeitet haben. Beppo ungeschminkt.«

      »Ist das jetzt ein Scherz, oder wie?«

      »Wenn es ums Business geht, pflege ich nie zu scherzen, mein Lieber. Rufen Sie mich morgen an, und wir machen uns was aus. Schönen Tag, oder was sagt man einem Clown zum Abschied? Lachen Sie sich wen an?«

      Beppo schaut ihm verdutzt nach. Das Schicksal ist manchmal komischer als jeder Witz.

      Electra küsst ihn zum Abschied. »Vielleicht sehen wir uns wieder«, sagt sie und drückt ihm einen Zettel in die Hand. Darauf steht nur ein Wort, mit Lippenstift geschrieben. Johannesweg. »Dort findest du mich.«

      Beppo packt seine Sachen und will gehen.

      Als er seinen Wohnwagen verlässt, stehen alle Kollegen vom Zirkus Spalier. Die ganze Truppe, an die hundert Menschen. Marc und sein Vater, der Magier. Juanita mit einem Pferd. Sza-Sza mit dem weißen Tiger. Hanni, die Schlangenfrau. Robert, der Artist. Die Helfer, die Kinder, alle sind sie gekommen, um ihm die Ehre zu erweisen.

      Einer klatscht, langsam, dann noch einer, die anderen stimmen ein, klatschen Beifall, danken ihm für die gemeinsame Zeit. Zwei Minuten lang stehen sie da, nicken ihm zu und applaudieren. Beppos Sicht verschwimmt, er ist so gerührt, dass ihm die Tränen kommen. Einen Satz denkt er, während er im Gehen Electras Blick auffängt: Ich habe keine Probleme, nur Geheimnisse.

      Eines davon ist, dass ich dich liebe.

      Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber diese Erzählung, die mir ein Freund (so ähnlich) nahegebracht hat, hat etwas. Sie erinnert mich gleich an zwei Weisheiten des Johanneswegs, nämlich Station eins und drei.

      Die erste: Humor soll dein Leben begleiten, denn er beflügelt deinen Geist und erfreut die Gesellschaft.

      Und die dritte: Bleibe mutig, es befreit dich von lähmender Angst, der Basis vieler Krankheiten.

      Mir zeigt Beppos Geschichte, wie wichtig es ist, seinen Weg zu finden. Lebe das Leben. Finde deinen Weg. Das klingt alles sehr einfach, aber wenn man im Hamsterrad des Alltags vor sich hintrippelt, kommt man nicht so schnell auf Ideen, die etwas abseits vom Notwendigen liegen. Man sagt nicht, puh, jetzt ist es aber höchste Zeit für ein bisserl Entschleunigung, wenn man im Laufschritt lebt. Man nimmt sich nicht Zeit, um das Leben, das man führt, zu überdenken, wenn man im Alltag hintennach ist. Dabei kommt es genau darauf an, wie ich meine. Immer wieder zu schauen, wo man steht. Welcher Weg einen dorthin geführt hat, welche Pfade einen weiterbringen. Und welche Masken man trägt.

      Es sind ja nicht nur die Clowns, die etwas verstecken wollen. Haben wir nicht alle mehrere Gesichter? Machen wir nicht vieles, das uns widerstrebt? Verbergen wir nicht manches vor uns selber? Weil wir meinen, gefangen zu sein in unserem Tun, ohnmächtig gegenüber einem namenlosen Etwas, gelähmt von einer Angst ohne triftigen Grund. Hat nicht jeder irgendwo einen Zirkusdirektor, der einen piesackt? Triezt, wie man so sagt.

      Oft scheint es, dass man – obwohl man’s besser wüsste – wider seine Natur lebt. Es ist, als würde man in einem Film mitspielen, bei dem das Genre noch nicht stimmt. Du hast dich auf die Hauptrolle in einer Komödie eingestellt, dich aber in einem Horrorfilm verfangen. Du hättest gerne die Liebesszene gemacht, bist aber gerade mit einer Kettensäge gevierteilt worden. Und weit und breit ist kein Regisseur.

      Keine Details, welches Stück?, hat einmal ein Schauspieler die Souffleuse im Burgtheater gefragt. Das würde man auf der Bühne des Lebens auch oft gern wissen. Manchmal braucht es eine Initialzündung, etwas von außen, das dem Leben wieder eine andere Richtung gibt, den richtigen Effet. Eine Souffleuse wie die an der Burg. Oder einen Souffleur.

      Ich denke mir, dass jeder Mensch seine Bestimmung hat, und die führt ihn voran wie ein Leitstrahl. Mitunter liegt man ein wenig neben der Spur, und das Schicksal muss nachhelfen, einen Schubser geben, damit man wieder auf der Geraden ist. Und die führt uns direkt zur nächsten Geschichte.

       2. Hunger

      Es war die Null, die sie in ihrem Leben nie sehen wollte. Dick und fett machte sie sich auf dem Display breit. Dick und fett, dachte sie, genau wie ich. Lena konnte ihren Blick nicht losreißen von der bauchigen Hiobsbotschaft. Sie rührte sich nicht, starrte auf die Waage, bis die hässliche Zahl verschwunden war, verschwunden, aber nicht aus der Welt.

      Jetzt war sie erreicht, die Grenze, über die sie nie hatte hinauswollen. Hinter dieser Stelle werden Drachen wohnen, hatte sie sich immer gesagt. Drachen, na und? War ja völlig wurscht, was dort wohnte, so weit würde es ohnehin nie kommen, hatte sie sich damals gedacht, haha. Irgendwo hatte sie den Spruch gelesen. Wenn sie sich recht erinnerte, hatten früher die Kartenzeichner die Drachen als Warnung vor einem Gebiet eingetragen, auf das sich noch niemand vorgewagt hatte. So weit stimmte der Vergleich. Sie hatte auch ein neues Gebiet betreten, diese Null hatte mehr Gewicht als alle Zahlen auf der Waage davor. Diese Null lag eindeutig jenseits jeder Schicklichkeitsgrenze. Und man hatte auch sie gewarnt. Nicht, dass jemand etwas gesagt hätte, aber die Blicke waren nicht zu übersehen gewesen. Notwendig waren sie nicht. Jede Nacht waren ihr die Drachen von allein erschienen, dicke, fette Viecher mit dicken, fetten Stampfern und dicken, fetten Bäuchen, die sie am staubigen Urzeitboden dahinschleiften. Manche hatten Flügel, die sie traurig hinter sich herzogen, nutzlose Segel, viel zu zierlich, um die massigen Körper zu tragen. Wenn du diese Null siehst, bist du über die Grenze gegangen, dann bist du eine von uns, raunten sie. Jede Nacht. Heute Nacht werden sie sie willkommen heißen. Seit heute war sie eine von ihnen.

      Lena riss sich von der Waage los und ging in das Zimmer nebenan. Ihr Ankleidezimmer. Ihre Einbaukästen. Ihre Garderobe. Voll von Fetzen, die ihr nicht passten. Motivationskleider, die sie einmal getragen und hängen gelassen hatte, damit sie endlich damit anfing, wieder so auszusehen wie früher. Aber-dann-T-Shirts, die sie nicht zur Caritas trug, damit sie sich daran erinnerte, dass sie einen Busen hatte, den man nicht mit einem Fettröllchen verwechseln musste. Hoffnungshosen, die sie wieder anziehen würde, wenn sie demnächst wieder hineinpasste. Motivation. Aber dann. Hoffnung. Alles Anreize, keine Reaktion. Ihr Hirn war nicht für Anreize gemacht, zumindest nicht für solche.

      Andere Anreize umarmte es dafür mit Begeisterung. Irgendwas aus der böhmischen Küche zum Beispiel, irgendwas im Sinne von wurscht, was. Sämtliches könnte man sagen, und man würde nicht übertreiben. Was immer eine sämige Sauce, eine üppige Beilage, eine geile Creme hatte, verklebte augenblicklich ihre Disziplin. In Wahrheit musste sie es nicht einmal essen, es legte sich schon an, wenn sie bloß daran dachte, was dann allerdings auch nur das halbe Vergnügen war. Ihre Oma war Köchin gewesen, in einer Irrenanstalt, aber das nur nebenbei, es war nicht das eigentliche Übel.

      Das eigentliche Übel, wenn auch alles andere als geschmacklos, war Omas hedonistische Lust am Kochen. Und am Essen. Wenn sie vom Dienst heimgekommen war, hatte sie für die Verwandtschaft aufgekocht, die geschlossen zum Abendessen gekommen war. Wer nicht verwandt war, kam auch. Kein Wunder, die Verwandtschaft war lustig, das Essen hervorragend. Man tat sich schwer, zu sagen, was besser war, die lustige Gesellschaft oder das sensationelle Gulasch, die Witze oder der sündhafte Rostbraten. Die Einzige, die nichts aß, war Lena.

      Die damalige Lena war nicht interessiert am Essen. Sie hockte bei den Onkeln am Schoß, stach mit dem Zeigefinger Löcher in den Rauch ihrer filterlosen Zigaretten und drehte den Finger in einer Spirale nach unten, bis sich silbergraue Nebel kringelten. Sie brüllte mit dem Haufen Angeheiterter Trinksprüche und bekam von allen den letzten


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