Ich bin jetzt am Johannesweg. Andrea Fehringer
noch ein Rest in den Gläsern gewesen wäre. Trotzdem taten alle so, insbesondere Lena. Sie kippte sich den nicht vorhandenen Selbstgebrannten mit einem Ruck hinter die Binde, knallte das Stamperl auf den Tisch wie eine Große und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab.
»Unten isser«, sagte sie mit astreinem Zungenschlag, »einer geht noch.« Sie war mit der verschmierten Aussprache der Trinker groß geworden und hatte sie gelernt wie eine zweite Muttersprache. In kindlicher Schauspielkunst legte sie noch drauf, was sie seit Babytagen an entglittener Mimik und begleitenden Gesten beobachten konnte, und lieferte eine solide Vorstellung ab. Sie lallte die losen Reden ihrer lebenslustigen Verwandtschaft nach und holte sich Applaus für ihre Parodien. Den lautesten von der Oma, was die alte Dame aber nicht hinderte, ihr gleich danach wieder einen Löffel Irgendwas in den Mund schieben zu wollen und sich in penetranter Regelmäßigkeit mit ihrer ewig gleichen Mahnung einzumischen: »Dirndl, du musst was essen, wennst nix isst, wird nix aus dir.«
Lena verstand das nicht. Wieso musste sie etwas essen, wenn hier eine Mahlzeit höchstens fünf Witze lang, das Trinken aber bis in die Nacht hinein dauerte? Trinken war demzufolge das weitaus Wichtigere im Leben. Und wieso sollte nichts aus ihr werden? Wenn alle klatschten, war ja schon was aus ihr geworden. Auch wenn sie nicht so aussah wie die Oma, die eine Erscheinung von achtbarem Ausmaß war. Wenn sie lachte, lachten hundert Kilo mit. Wenn nicht mehr. Für Lena war die rundum weiche Oma, an der alles wackelte, wenn sie mit ihrem unwiderstehlichen Gekuder alle um sich herum in den Lachkrampf mitriss, der Inbegriff der Fröhlichkeit. Bis Lena irgendwann einmal einen Schrei aus dem Badezimmer hörte, irgendwas über Nullen, die die Oma in ihrem Leben nie hatte sehen wollen.
»Was für Nullen?«, hatte Lena wissen wollen.
»Die, die aus neunundneunzig einen Hunderter machen, oder aus hundertneun hundertzehn oder …« Der Opa murmelte in seinen Bart hinein.
»Was?«, fragte die Kleine.
»Ach, Lena«, sagte der Opa, was die Sache nicht klarer machte.
Von der Oma war schon gar keine Erklärung zu erhoffen gewesen, so weit kannte Lena sie. Nach einer Endlosigkeit kam sie aus dem Bad, als wäre nichts gewesen. »Und jetzt, Mausi«, sagte sie, »jetzt mach ich uns einen Marillenkuchen. Mit viel Schlagobers.«
Was Lena daraus lernte, war simpel. Schlagobers ist gut gegen die Wut. Sie hatte es x-mal bei der Oma gesehen und es seither tausendfach selber probiert. Schlagobers war gut gegen Wut. Und nicht nur Schlagobers. Den Launen der Oma nach zu schließen, war auch der Marillenkuchen gut gegen Wut, genauso wie Himbeerpudding oder Palatschinken, überhaupt alles, was süß ist. Wenn man dem Körper Zucker gab, verzog sich die Wut. Und nicht nur die Wut, auch der Ärger. Und die Gekränktheit. Die nahm übrigens auch vor Schmalzbroten Reißaus, genauso wie vor Streichwurst und Speckjausen. Überhaupt vor allem, was fett ist. Wenn man dem Körper Fett gab, flüchteten die Traurigkeit und der Weltschmerz samt dem Liebeskummer, überhaupt alles, was das Leben so anstrengend macht. Die Oma hatte es vorgemacht, Lena hatte es sich einreden lassen. Und jetzt stand sie da mitten in ihrer Garderobe, aus der sie nun endgültig herausgewachsen war, und bekam diese Nullen weder aus dem Kopf noch aus dem Leib.
Es waren demütigende Wochen. Nicht dass Lena zum ersten Mal in ihrem Leben abnehmen wollte, aber so entscheidend war es noch nie gewesen. Wenn sie diese Null nicht wegbekam, war sie selbst eine. Ihrem Körper war die Dringlichkeit offenbar nicht bewusst. Obwohl er sich mit ihr abschleppte, auf der bequemsten Geraden ins Schwitzen kam, eine kleine Steigung nicht schaffte, ohne sich die Lunge herauszukeuchen, und neuerdings sogar im Esszimmersessel stecken blieb, boykottierte er die Diätpläne seiner Besitzerin nach Kräften. Er kam damit auch immer und überall durch. Kaum begann Lenas Gehirn zu denken, nein, meine Liebe, es ist zwei Uhr nachts, du hast jetzt ganz sicher keinen Hunger, bei dem, was du den ganzen Tag in dich hineinschaufelst, hast du frühestens in vier Monaten wieder Hunger, sofern du dich bis dahin ausschließlich von Wasser ernährst. Das, was du da in dir spürst, ist höchstens ein Gusto, ein sinnloses Verlangen ohne jede Notwendigkeit auf Erfüllung, dreh dich also auf die andere Seite und schlaf weiter, essen kannst du morgen wieder. Kaum also begann Lenas Gehirn das alles zu denken, machte sich der Körper auch schon daran, sich nicht umzudrehen. Im Gegenteil, er stand aus dem Bett auf, strebte mit einer Dynamik, die er den ganzen Tag über vermissen hatte lassen, der Küche zu, riss den Eiskasten auf und schob sich etwas Verbotenes in den Mund. Lass es gut sein, schaltete sich das Gehirn wieder ein, hatte aber noch weniger Durchsetzungskraft als vorher im Bett. Dir werd ich’s zeigen, beschloss der Körper umgehend, du sagst mir nicht, was ich darf und was nicht, und schon verschwand noch ein größeres Stück Haussalami im Schlund. Die nächsten Stunden wälzte sich der Körper im Bett von einer Seite auf die andere, stöhnte zum Herzerweichen und fragte sich, wie das gerade hatte passieren können. Wie blöd musste man sein, so gegen sich selber zu arbeiten? Hab ich’s dir nicht gesagt?, meldete sich das Hirn, aber der Satz war nicht sehr hilfreich, und der Körper hörte nicht darauf. Er brachte sogar erneut seine Che-Guevara-Einstellung auf Vordermann. Rebellion ist alles, nur ja nichts gefallen lassen, recht geschieht dir, wenn ich jetzt nicht schlafen kann, wenn du mich in den Eiskasten steigen lässt. An dieser Stelle gab das Hirn auf, und Lena fragte sich, wann sie eigentlich die Vizemeisterin im Deppertsein geworden war. So ging das Tag für Tag, Woche für Woche. Zwei Monate später suchte sie sich eine Therapeutin.
»Erzählen Sie mir von Ihrer Oma«, ermunterte Frau Doktor Gutfleisch.
Der Name war Lena sofort ins Auge gesprungen. Sie hatte sich eine Liste von Psychotherapeuten in ihrer Nähe besorgt, gleich auf der ersten Seite diesen Namen entdeckt und die restlichen Seiten, die sie sich ausgedruckt hatte, zerknüllt. Gutfleisch. So heißt man höchstens, wenn man Fischhändler ist, dachte Lena, die tatsächlich einen Fischhändler namens Gutfleisch kannte. Womöglich waren die beiden verwandt. Noch besser, dachte Lena. Der Gutfleisch hatte den besten Fisch, vielleicht hatte dann die Gutfleisch die beste Therapie. Vom Thema her durfte man jedenfalls auf Verständnis hoffen. Die Hoffnung trübte sich ein bisschen, als Frau Doktor Gutfleisch Lena die Tür öffnete. Die Therapeutin hatte eine Figur wie von Gottes Reißbrett. Himmel, dachte Lena, ob die die Richtige für mich ist? Aber da war sie auch schon im Sprechzimmer und im gutfleischlichen Fauteuil versunken.
»Von meiner Oma?«, fragte Lena und ließ das Warum, das sie eigentlich meinte, in der Luft hängen. Frau Doktor Gutfleisch griff es trotzdem auf. »Weil Ihr Problem offenbar mit ihr beginnt.«
Die ist aber fix, stellte Lena fest.
»Bin ich Ihnen zu schnell?«, fragte Frau Doktor Gutfleisch.
Die ist mir ein bissel unheimlich, dachte Lena.
»Manchen Klienten bin ich unheimlich, weil ich die Dinge rasch beim Namen nenne. Ich gehe biografisch und tiefenpsychologisch vor, deshalb habe ich Sie nach Ihren Eltern und Großeltern gefragt. Von Ihrer Mutter und Ihrem Vater weiß ich bisher kaum mehr als den Beruf, Sie haben fast ausschließlich von Ihrer Oma gesprochen. Das interessiert mich natürlich.«
»Meine Oma war …« Lena schaute nach rechts oben und damit durch das Fenster, durch das man in die Vergangenheit sieht. Das sagt zumindest die Körpersprache. Erinnerte Visionen nennt man das, was man sich von dort holt, und es könnte durchaus was dran sein. Lena sah ihre Oma deutlich vor sich. Ihre Raum einnehmende Gestalt, ihr tänzelnder Gang. Ihre Schlagfertigkeit. Den ewigen Schöpflöffel in ihrer Hand. Die Schürze mit den aufschlussreichen Flecken, die sich wie eine Landkarte des Genusses um ihre Leibesfülle spannte. Und ihr Lachen, das aus ihr herausperlte, als risse alle paar Augenblicke eine Kette in ihr. An der schweren Oma zeigte sich das Leben von der leichtesten Seite. Dicksein und Lachen gehörten für Lena seitdem zusammen. Die dünnen Omis, die sie von ihren Freundinnen kannte, lachten nicht. Und wenn, dann klang es nicht lustig. Es war kein befreiendes Hahaha, wie Lena es von daheim gewöhnt war, es war ein herausgepresstes Hähähä, das an den Rippen entlangrasselte, weil es seinen Weg so schwer aus dem Brustkorb fand. Diese Omis hatten ihre tiefsten Falten über den verkniffenen Mundwinkeln, bei ihrer Oma hatte sich das Lachen an den Augenwinkeln festgehalten. Lena fasste das Bild für Frau Doktor Gutfleisch zusammen. »… sie war lustig«, sagte sie.
Da hab ich ja direkt ins Schwarze getroffen, dachte Frau Doktor Gutfleisch. Laut sagte sie: Ȇberlegen Sie sich doch bis zur