MATTHEW CORBETT und die Hexe von Fount Royal (Band 2). Robert Mccammon

MATTHEW CORBETT und die Hexe von Fount Royal (Band 2) - Robert Mccammon


Скачать книгу
Paine zuckte zurück, als würde er bedroht. In diesem Moment wurde Matthew klar, dass er bisher kaum einen Wortwechsel zwischen dem Arzt und Paine gehört hatte. Matthew merkte, dass es Dr. Shields war, der Paine so gut wie möglich aus dem Weg ging – aber das geschah so versteckt, dass Paine es vielleicht nicht einmal bemerkt hatte.

      Jetzt allerdings, wenn auch nur für eine kurze Sekunde, stand die hässliche Feindseligkeit offen im Raum. Möglicherweise hatte Paine sie zum ersten Mal erkannt. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas dagegen sagen. Doch schon im nächsten Moment wirkte Paines Gesicht ebenso versteinert wie das des Arztes, und was auch immer er hatte ausrufen wollen, blieb ungesagt.

      Shields ließ die unheilvolle Verbindung zwischen ihnen nur noch ein, zwei Sekunden länger bestehen und widmete sich dann wieder in aller Ruhe seinem Patienten. Er entfernte das vierte Schröpfglas und steckte es in seine Tasche.

      Matthew sah Paine fragend an, aber der war kreidebleich geworden und wich seinem Blick aus. Matthew erkannte, dass Dr. Shields Paine mit seinem kurzen, hasserfüllten Blick etwas mitgeteilt hatte – und was auch immer es gewesen war, hatte Paine fast in die Knie gezwungen.

      »Meine Frau.« Paines Gefühle verzerrten seine Stimme. »Meine Frau.«

      »Mein Sohn … starb«, sagte Woodward, dem das ganze Drama entgangen war. »Anfälle. Durch die Pest. Entschuldigt, dass ich gefragt habe … aber ich wollte Euch sagen … dass Ihr in Eurer Trauer nicht allein seid.«

      »Trauer«, wiederholte Paine. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, und sein Gesicht schien in den letzten fünf Sekunden um fünf Jahre gealtert sein und sah verhärmt aus. »Ja«, sagte er leise. »Trauer.«

      Dr. Shields löste das fünfte Schröpfglas nicht gerade sanft von Woodwards Rücken, und der Richter verzog das Gesicht.

      »Ich sollte … Euch von meiner Frau erzählen«, sagte Paine, der sich zum Fenster gedreht hatte. »Sie ist an Anfällen gestorben. Allerdings waren die nicht von der Pest verursacht. Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Der Hunger hat sie umgebracht. Hunger … und tiefste Verzweiflung. Wir waren sehr jung. Und sehr arm. Wir hatten eine kleine Tochter, die ebenfalls krank war – auch im Kopf. Und sehr verzweifelt.«

      Niemand sagte etwas. Selbst der Richter spürte in seinem benebelten Zustand am Rande des Deliriums, dass Paine seine unverletzliche Maske der Selbstkontrolle fallengelassen hatte, und zeigte, dass er ein Herz und gebrochene Knochen hatte.

      »Ich glaube, ich verstehe«, sagte Paine. Für Matthew dagegen machte Paines seltsame Bemerkung keinen Sinn. »Ich bin eben … geradezu übermannt worden … aber ich muss Euch … Euch allen sagen … dass ich nie wollte … dass es so kam. Wie ich schon sagte, ich war jung … ich war keck, und ich hatte Angst. Meine Frau und mein Kind brauchten etwas zu Essen und Medizin. Ich hatte nichts … außer einer Fähigkeit, die ich durch die Jagd auf grausame und gewalttätige Männer gelernt hatte.« Er verstummte. Dr. Shields starrte konzentrierte auf das sechste Schröpfglas, ohne jegliche Anstände zu machen, es zu entfernen.

      »Ich habe nicht den ersten Schuss abgegeben«, fuhr Paine mit müder, schwerer Stimme fort. »Ich bin zuerst getroffen worden. Ins Bein. Aber das wisst Ihr ja sicher bereits. Mir wurde das von den älteren Männern beigebracht … als ich zur See fuhr … dass ich, sobald jemand eine Pistole oder einen Degen auf mich richtet, schieße … oder mit der Absicht, Schaden anzurichten, zusteche. Das war unsere Überzeugung und hat uns – zumindest den meisten – dabei geholfen, am Leben zu bleiben. Es war eine natürliche Reaktion, die ich gelernt habe, nachdem ich andere Männer in ihrer eigenen Blutlache habe sterben sehen. Darum konnte ich Quentin Summers in unserem Duell nicht verschonen – ich konnte es nicht. Wie kann ein Mann lernen, ein Wolf zu sein, und dann unter Schafen leben? Besonders … wenn Hunger und Krankheit ins Spiel kommen … und der Tod an die Tür klopft.«

      Matthew brannte vor Neugierde und hätte alles dafür gegeben, Paine zu fragen, was genau er da eigentlich erzählte. Aber der stolze Mann, der seinen Hochmut in dem überwältigenden Bedürfnis zu beichten ablegte und – vielleicht – dadurch Erlösung von früheren Missetaten erhoffte, wirkte in diesem Moment der Selbstoffenbarung fast heilig. Matthew kam es zu kleinlich vor, nachzufragen, und dadurch Paines Geständnis und die damit verbundene Vertrautheit zu zerstören.

      Paine ging ans Fenster und sah auf die von Laternenlicht funkelnde Stadt hinaus. In der Fleißstraße markierten zwei in einiger Entfernung voneinander brennende Feuer die Lager von Exodus Jerusalem und den Maskenspielern. Gelächter und der Klang einer Blockflöte drifteten von Van Gundys Wirtshaus durch die laue Abendluft. »Mein Kompliment«, sagte Paine, der sein Gesicht noch immer von den Männern abgewandt hatte. »Ich nehme an, dass meine Wunde eine Blutspur hinterlassen hat. Seid Ihr der gefolgt?«

      Dr. Shields befreite nun endlich die schwärzlich verfärbte Haut unter dem sechsten Schröpfglas. Er steckte es in seine Tasche, gefolgt von der Sassafraswurzel. Langsam und methodisch begann er, die Tasche mit ihren Knöpfen und Schlaufen zu schließen.

      »Wollt Ihr mir nicht antworten?«, fragte Paine. »Oder soll das eine Art der Schweigefolter sein?«

      »Ich denke«, sagte der Arzt mit grimmiger Stimme, »dass es an der Zeit für Euch ist, zu gehen.«

      »Zu gehen? Was wird hier gespielt?«

      »Nichts. Ich versichere Euch … hier wird nichts gespielt.« Shields drückte mit dem Finger auf eine der sechs schrecklichen, schwarzen Schwellungen auf Woodwards Rücken. »Ah ja. Das ist jetzt schön fest. Ihr könnt sehen, dass wir das in den Organen gesammelte Blut nach oben gesaugt haben.« Er warf einen kurzen Blick auf Matthew und schaute dann wieder weg. »Diese Prozedur hat einen reinigenden Effekt, und am Morgen sollten wir eine Verbesserung des Zustands unseres ehrenwerten Richters feststellen können.«

      »Und wenn nicht?« Matthew konnte nicht anders, als danach zu fragen.

      »Wenn nicht … dann folgt der nächste Schritt.«

      »Der da wäre?«

      »Wieder die Schröpfgläser anzusetzen«, sagte Shields, »und dann die Schwellungen aufzustechen, damit das Blut abfließen kann.«

      Matthew bereute seine Frage sofort. Der bloße Gedanke daran, wie eine Lanzette in diese Schwellungen gestoßen wurde, war fast zu viel.

      Shields zog dem Richter wieder das Nachthemd herunter. »Ihr solltet heute Nacht versuchen, auf dem Bauch zu schlafen, Isaac. Ich weiß, dass das alles sehr unangenehm ist, aber ich befürchte, es ist notwendig gewesen.«

      »Ich werde es ertragen«, krächzte Woodward, der schon fast schlief.

      »Gut. Ich werde Mrs. Nettles eine Magd mit einer kalten Kompresse gegen Euer Fieber hereinschicken lassen. Morgen früh werden wir …«

      »Shields, was wollt Ihr von mir?«, unterbrach Paine ihn. Jetzt starrte er den Arzt an. Auf Paines Stirn und Wangen glitzerte der Schweiß.

      Shields zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe es doch bereits gesagt, Sir. Ich möchte, dass Ihr geht.«

      »Werdet Ihr mir das denn für den Rest meines Lebens vorhalten?«

      Shields antwortete nicht, fixierte seinen Gegner aber durch die Brillengläser mit starrem Blick. Diese schweigende Anklage war so vernichtend, dass Paine seinen Blick schließlich senken musste. Abrupt drehte Paine sich zur Tür um und schlich hinaus wie der Wolf, der er nach eigener Angabe war – allerdings ein Wolf, dessen Schwanz ganz unerwartet einem Messer zum Opfer gefallen war.

      Nachdem Paine gegangen war, atmete Dr. Shields laut aus. Er hatte die Luft angehalten. »Nun denn«, sagte er. Seine von der Brille vergrößerten Augen sahen von der schnellen Wendung der Dinge geschockt aus. Er blinzelte mehrmals langsam, als wollte er sowohl seinen Blick als auch seinen Verstand klären. »Wo war ich gerade? Ach ja – morgen früh werden wir eine Darmspülung machen und frische Kompressen auflegen. Und dann sehen wir weiter.« Er zog ein Taschentuch aus seiner Jacke und wischte sich die Stirn ab. »Findet Ihr es hier drinnen auch so heiß?«

      »Nein, Sir«, sagte Matthew. »Die Temperatur scheint so wie üblich zu sein.« Er sah seinen


Скачать книгу