MATTHEW CORBETT und die Hexe von Fount Royal (Band 2). Robert Mccammon
mehr auf Medizin als auf den Aderlass verstand!
Die Sonne wärmte ihm das Gesicht, und die leichte Brise umfächelte seinen Rücken. Trotzdem hatte Matthew das Gefühl, einen dunkleren oder kälteren Weg beschritten zu haben. Der Saphir in der Brosche musste ein kleines Vermögen wert sein – warum verdiente Linch sich dann mit dem Erstechen von Ratten den Lebensunterhalt? Und warum gab er sich so viel Mühe, sein wahres Wesen, das anscheinend Ordnung und Kontrolle liebte, hinter einer Fassade aus Schmutz zu verstecken? Matthew schien es, als ob Linch wollte, dass selbst sein Haus von außen heruntergekommen wirkte und an diesem Eindruck gearbeitet hatte.
Die Täuschungen, die in dieser Siedlung zu finden waren, überstiegen alles, was er erwartet hatte. Aber was hatte das mit Rachel zu tun? Linch war offensichtlich ein gebildeter, intelligenter Mann, der schreiben und Bücher zu theoretischen Themen lesen konnte. Die Brosche ließ vermuten, dass er wohlhabend war. Warum, um Gottes willen, spielte er der Welt eine solch widerliche Gestalt vor?
Und dann war da noch der Gesang. War Violet ins Haus der Hamiltons gegangen oder nicht? Wenn ja – warum war ihr nicht der abstoßende Gestank des toten Hundes aufgefallen? Und wenn sie es nicht betreten hatte – was für eine seltsame Macht hatte sie dann glauben lassen, dass sie drinnen gewesen war? Nein, selbst für seinen ans Nachdenken gewöhnten Verstand war das alles zu verwirrend. Am meisten beunruhigten ihn an Violets angeblichem Besuch in dem Haus der weißhaarige Kobold und die sechs Goldknöpfe am Mantel des Teufels, an die sie sich so gut erinnern konnte. Da Buckner und Garrick sich ebenfalls an die Knöpfe erinnerten, verfestigten sich dadurch die Beweise gegen Rachel.
Aber was hatte es mit dem Gesang des Rattenfängers im Nebenzimmer auf sich, in dem Matthew die Hündin mit ihren Welpen gefunden hatte? Man könnte natürlich sagen, dass Violet sich den Gesang eingebildet hatte – aber könnte man das dann nicht von ihrem gesamten Erlebnis sagen? Sie konnte sich jedoch an Details erinnern, die weder Buckner noch Garrick vorher erwähnt hatten!
Wenn Violet das Haus also tatsächlich betreten hatte: Warum hatte der Rattenfänger hinten im Dunkeln sein Liedchen gesungen? Und falls sie das Haus nicht betreten hatte: Warum glaubte sie dann so fest daran, dass sie es getan hatte? Und woher kamen die Details mit dem weißhaarigen Kobold und den sechs Goldknöpfen?
Matthew war über diesen Fragen dermaßen in Gedanken versunken, dass er sich dem Lager von Exodus Jerusalem näherte, ohne für den nächsten Schlagabtausch gewappnet zu sein. Doch der Wanderprediger hatte aufgehört, über Körperöffnungen zu sabbern: Jerusalem, seine drei Zuhörer, sowie seine angebliche Schwester und der sogenannte Bruder waren verschwunden und nirgendwo zu sehen. Allerdings fiel Matthew kurz darauf auf, dass in der Harmoniestraße irgendetwas vor sich ging. Er sah vier Planwagen, um die sich fünfzehn bis zwanzig Menschen geschart hatten. Die Zügel der vor den ersten Planwagen gespannten Pferde wurden von einem dünnen graubärtigen Mann gehalten, der einen grünen Dreispitz trug und sich mit Bidwell unterhielt. Matthew erspähte Winston, der gleich hinter seinem Brotherrn stand und sich die Mühe gemacht hatte, sich zu rasieren und saubere Kleidung anzuziehen. Winston war in ein Gespräch mit einem jungen blonden Mann vertieft, der zu dem Besucher mit dem grünen Dreispitz zu gehören schien.
Matthew ging auf einen in der Nähe stehenden Bauern zu. »Darf ich Euch fragen, was dieser Aufruhr bedeutet?«
»Die Maskenspieler sind gekommen«, sagte der Mann, der vielleicht noch drei Zähne im Mund hatte.
»Maskenspieler? Ihr meint Schauspieler?«
»Genau. Jedes Jahr kommen sie her und tragen ein Theaterstück vor. Allerdings haben wir sie erst später im Sommer erwartet.«
Matthew fand es erstaunlich, dass eine reisende Theatergruppe über genügend Beharrlichkeit verfügte, um die knochenerschütternde Straße zwischen Fount Royal und Charles Town in Angriff zu nehmen. Dann fiel ihm das Buch in Bidwells Bibliothek über englisches Theater ein, und ihm wurde klar, dass Bidwell für seine Bürger ein alljährliches Sommerfest auf die Beine gestellt hatte.
»Jetzt gibt's eine Gaudi!«, rief der Bauer aus. Sein grinsender Mund wirkte wie eine Höhle. »Am Morgen eine Hexenverbrennung und am Abend Theater!«
Matthew antwortete ihm nicht. Er beobachtete den graubärtigen Mann, der die Schauspielgruppe anzuführen und Bidwell nach dem Weg oder Instruktionen zu fragen schien. Der Stadtherr beriet sich kurz mit Winston, aus dessen Benehmen sich keinerlei Schlüsse ziehen ließen, dass er irgendetwas anderes als ein ergebener Bediensteter war. Nachdem die beiden sich beraten hatten, wandte Bidwell sich wieder an den bärtigen Mann und winkte in Richtung Fleißstraße. Matthew nahm an, dass Bidwell dem Mann sagte, wo die Schauspieler ihr Lager aufschlagen konnten. Gern würde er Eintrittsgeld zahlen, um Exodus Jerusalems Gedanken zu hören, wenn der Wanderprediger erfuhr, dass seine Nachbarn Schauspieler waren. Andererseits konnte sich Jerusalem durchaus ein paar Münzen dazuverdienen, indem er den Maskenspielern Schauspielunterricht gab.
Matthew ging weiter und machte um Bidwell und seinen doch nicht so ergebenen Stadtverwalter einen großen Bogen. Am Quellsee machte er kurz Halt und betrachtete das auf der Wasseroberfläche zitternde goldene Sonnenlicht. Ihm kam der Gedanke, zum Gefängnis zu gehen und nach Rachel zu schauen. Er sehnte sich danach, sie zu sehen, konnte sich aber schließlich doch davon abbringen. Sie hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihn dort nicht sehen wollte – und er musste ihre Wünsche respektieren, so sehr ihn das auch schmerzte.
Er kehrte zum Herrenhaus zurück und bat Mrs. Nettles um etwas Essen. Nach einem schnellen Mittagessen aus Maissuppe und Butterbrot stieg er die Treppe zu seinem Zimmer hoch und machte es sich am offenen Fenster auf einem Stuhl bequem, um über seine neuesten Entdeckungen nachzudenken und die restlichen Protokolle des Hexenprozesses durchzulesen.
Während er sich die Antworten zu den Fragen durchlas, die er den Zeugen gestellt hatte, wurde er das Gefühl nicht los, dass eine Enthüllung des Rätsels kurz bevorstand. Er hörte das Singen der Vögel kaum und merkte fast nicht, wie warm die Sonne war, da er seine ganze Aufmerksamkeit auf die Zeugenaussagen konzentrierte. Es musste sich etwas darin finden lassen – etwas Kleines, etwas, das er bisher übersehen hatte – mit dem sich Rachels Unschuld beweisen ließ. Doch während er las, lenkten ihn zwei Dinge ab: Zuerst das Glockengeläut und die dröhnende Stimme des Ausrufers, der das Urteil des Richters selbst im Sklavenquartier verkündete; und dann der Klang einer Axt, mit der im Wald zwischen dem Herrenhaus und dem Sumpf in einen Baum gehackt wurde.
Matthew las die letzte Seite der Gerichtsdokumente. Er hatte nichts gefunden. Ihm wurde klar, dass er nach einem Phantom suchte. Um es zu finden – so es sich denn finden ließ –, musste er zwischen den Zeilen lesen. Müde strich er sich mit der Hand übers Gesicht und begann noch einmal von vorn.
Kapitel 5
Isaac Woodwards Welt war inzwischen zu einem unweit von Tartaros angesiedelten Dämmerzustand reduziert worden. Die Qualen, die ihm seine angeschwollene Kehle verursachte, hatten sich mittlerweile in jeden Nerv und jede Faser seines Körpers ausgebreitet, und schon das bloße Atemholen schien dem Willen Gottes zu trotzen. Seine Haut war schweißbedeckt und vom Fieber gereizt. Wenn er schlafen konnte, fiel die gesegnete Bewusstlosigkeit über ihn wie ein Leichentuch. Wenn er wach war, verschwamm seine Sehkraft wie eine Kerze hinter rußigem Glas. Das Schlimmste an dieser Tortur war, dass er sich seines Zustands völlig bewusst war. Noch hatte der Verfall seines Körpers sich nicht auf seinen Verstand ausgeweitet, und daher merkte er, wie gefährlich nah er am Rand seines Grabes stand.
»Könnt Ihr mir helfen, ihn umzudrehen?«, fragte Dr. Shields.
Matthew zögerte. Im Licht des Kerzenhalters, an dem reflektierende Spiegel angebracht waren, wirkte sein Gesicht blass. »Was habt Ihr vor?«
Dr. Shields schob sich die Brille die Nase hoch. »Das kranke Blut sammelt sich in seinem Körper«, sagte er. »Es muss in Bewegung gesetzt werden – sozusagen aus den stehenden Gewässern gelenkt werden.«
»Aus stehenden Gewässern gelenkt werden? Wie denn? Mit einem weiteren Aderlass?«
»Nein. Ich glaube nicht, dass das nun helfen würde.«
»Wie