Dr. Norden Bestseller Staffel 3 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Ihrem Tonfall war zu entnehmen, dass sie sehr viel für den Jungen übrig hatte, für seinen Vater aber gar nichts.
»Wir werden ihn jetzt mal untersuchen«, lenkte Dieter Behnisch ein.
»Vielleicht kannst du ihn ein paar Tage hierbehalten, bis sein seelisches Gleichgewicht wiederhergestellt ist«, schlug Daniel Norden vor.
»Was meinst du, was ich dann von seinem Vater zu hören kriege. Der jagt den Jungen auch noch mit Fieber in die Schule.«
»Mit diesem Herrn werde ich reden«, erklärte Daniel.
»Aber wenn du sagst, dass er dir vor das Auto gerannt ist …«
Daniel machte eine abwehrende Handbewegung und fiel ihm ins Wort.
»Ich lasse mir etwas einfallen, schreiten wir jetzt zu Taten.«
Bei allem Wohlwollen für Axel Hartwig mussten sie doch beide ihre Zeit einteilen. Auf Daniel warteten noch andere Patienten, und über Martina Rittberg wollten sie auch noch sprechen.
Axel hatte sich nur leicht verletzt.
Die Gehirnerschütterung war nicht bedenklich, aber man konnte sie als Vorwand benutzen, um ihn in der Klinik zu behalten, denn sein Seelenleben war so in Unordnung, dass man fürchten musste, dass es bei ihm tatsächlich doch noch zu einer Kurzschlusshandlung kommen könne. Als Daniel ihm sagte, dass er mit seinem Vater sprechen wolle, sah ihn der Junge ängstlich an.
»Sie haben mit mir schon genug Scherereien gehabt«, sagte er leise.
»So wollen wir es nicht bezeichnen«, sagte Daniel, »manche Patienten bereiten mir viel größere Sorgen.«
»Sie sind so menschlich«, sagte Axel leise. »Vielen Dank.«
Eigentlich schon erwachsen und doch noch ein Kind, befand er sich in einem schwierigen Stadium, in dem ihm geholfen werden musste. In seinem Elternhaus fand er diese Hilfe nicht. Daniel dachte darüber nach, wie viele junge Menschen an solchem Unverständnis scheiterten, und wie oft Eltern daran mitschuldig waren, ohne sich dessen bewusst zu werden. Axel hatte mit seinen knapp achtzehn Jahren seine Probleme, und es war nicht abzusehen, ob er sie bewältigen konnte.
Martina Rittberg mit ihren vierzehn Jahren blieb allerdings auch für Dr. Daniel Norden ein Rätsel, nachdem er sich eine Viertelstunde mit ihr unterhalten hatte. Es war eine recht einseitige Unterhaltung. Er versuchte, mit ihr in ein Gespräch zu kommen, aber ihre Antworten waren kurz und scheu. Sie war ein Mädchen voller Hemmungen, was allerdings nicht verwunderlich war. Ihr schmales Gesicht war von vielen Pickeln bedeckt, ihr aschblondes Haar strähnig, ihr schmächtiger Körper war der eines unentwickelten Kindes.
Mit ihrer aparten Schwester hatte sie nur eins gemeinsam, das waren die großen Augen von hellem durchsichtigem Grau und von langen dunklen Wimpern umrandet. Aber in diesen Augen stand aller Schmerz eines zerrissenen Kinderherzens zu lesen.
Ihre Seele konnte man nicht in einer Viertelstunde erforschen.
Dr. Behnisch sah seinen Freund forschend an, als er aus Martinas Zimmer kam.
»Nun?«, fragte er.
Daniel Norden zuckte die Schultern. »Im Augenblick kann ich nur bestätigen, dass die Mandeln herausmüssen. Sie sind ein Streuherd, aber ob sich ihr Allgemeinbefinden dadurch bessern wird, steht in den Sternen. Wann hat sie die Eltern verloren?«
»Vor zwei Jahren.«
»Wodurch?«
Nun zuckte Dr. Behnisch die Schultern. »Darüber hat auch Schwester Claudia sich nicht geäußert. Ich hoffe, dass sie uns mehr sagen wird, wenn man ihr klarmacht, wie wichtig es für eine erfolgversprechende Therapie ist. Ich habe mit der Internatsleiterin gesprochen. Eine sehr überhebliche Dame. Man könne ihren anderen Zöglingen nicht zumuten, eventuell von Martina angesteckt zu werden, hat sie gesagt.«
»Wenn ich schon ›Zögling‹ höre«, brummte Daniel. »Man wird dieses arme Kind wegen der Pickel gehänselt haben.«
»Ich fürchte, man hat sie wie eine Aussätzige behandelt«, sagte Dr. Behnisch ungehalten.
»Wahrscheinlich haben auch ihre schulischen Leistungen unter diesen Zwängen gelitten«, sagte Daniel.
»Nein, und das ist eigenartig, sie ist überaus intelligent. Man könnte sagen, einsame Klasse in dieser Altersstufe. Ein Extrem.«
*
Zur gleichen Zeit sprach Dr. Georg Leitner mit Schwester Claudia. Er hatte sich ein Herz gefasst, da Dr. Behnisch ihn so dringend gebeten hatte, sich einzuschalten.
Dr. Leitner, ein ausgezeichneter Gynäkologe, als Arzt selbstsicher und sehr beliebt, war als Mensch äußerst zurückhaltend und sogar schüchtern, zumindest wenn er privat mit weiblichen Wesen zu tun hatte.
Als Frauenarzt kam ihm das wohl zugute, denn schwärmerische Zuneigung wurde ihm von seinen Patientinnen nicht zuteil. Er war eher eine Vaterfigur ohne erotische Ausstrahlung.
Claudia hatte ihn in den wenigen Wochen, die sie nun an der Klinik tätig war, schätzen gelernt. Sie hatte zuvor in ihrem Beruf mit anderen Ärzten recht trübe Erfahrungen gemacht, denn in ihrer äußeren Erscheinung blieb sie selbst in der schlichten Krankenschwestertracht eine Dame.
Am Morgen hatte eine Geburt stattgefunden, die nicht ohne Komplikationen verlaufen war. Claudia war ihm gewissenhaft und umsichtig zur Hand gegangen. Das Personal, durch einige Krankheitsfälle sehr knapp, wurde von den Patientinnen in Atem gehalten, die bei solchem Wetter hektisch und überempfindlich waren. An solchen Tagen musste man schon sehr gute Nerven haben.
Dr. Leitner hatte nicht vorausgesetzt, dass Claudia sie besaß, da sie wahrhaftig genügend Sorgen hatte mit ihrer kleinen Schwester.
Ihr Pflichtbewusstsein lernte er heute besonders schätzen, und als am Ende doch alles gut ausging und eine glückliche Mutter ihr gesundes Baby in den Arm nehmen konnte, atmeten sie beide auf.
»Jetzt können wir uns eine kleine Verschnaufpause gönnen«, sagte Dr. Leitner. »Ich hätte auch etwas mit Ihnen zu besprechen, Schwester Claudia.«
Ganz flüchtige Röte stieg in ihre Wangen, aber sie folgte ihm in ihrer stolzen, anmutigen Haltung in sein Zimmer.
»Mögen Sie Tee?«, fragte er.
Claudia kannte Dr. Leitners Eigenheiten nun schon. Er bereitete seinen Tee immer selbst zu, und als sie zustimmend nickte, setzte er den Kocher in Betrieb.
Anfangs hatte sie gemeint, dass er schon ein richtig verknöcherter Junggeselle sei, denn ihre Meinung von den Männern war ohnehin nicht die beste, aber nun wusste sie, dass er sich nicht gern bedienen lassen wollte und er auch den Krankenschwestern gegenüber sehr rücksichtsvoll war.
Sie hatte sich so manche Gedanken über diesen seltsamen Mann gemacht, über den die Patientinnen nur mit größter Hochachtung sprachen. Nicht ein einziges Mal war eine zweideutige Bemerkung über ihn gefallen. Und auch nicht ein einziges Mal hatte sie erlebt, dass eine Patientin mit ihm flirten wollte.
Nein, dazu war er auch nicht der Mann, aber Vertrauen konnte man ihm entgegenbringen, und als sie sich nun gegenübersaßen und den köstlichen Tee tranken, der von einem Kenner zubereitet war, wich Claudia Dr. Leitners Blick nicht aus.
»Vielleicht ist es ein Thema, über das Sie nicht sprechen wollen, Schwester Claudia«, begann er stockend, »aber ohne Ihre Hilfe kommt auch Dr. Behnisch nicht weit bei Martina. Es würde gut sein, wenn Sie erzählen würden, was dieses Kind so sehr erschüttert hat. Mein Freund, Dieter Behnisch, hat mich gebeten, mit Ihnen zu sprechen, aber wenn Sie lieber mit ihm selbst sprechen wollen«, er unterbrach sich, aber als Claudia zu Boden blickte, fuhr er rasch fort: »Martina soll doch geholfen werden.«
Claudia nickte geistesabwesend. »Ja, ich möchte ihr so gern helfen, aber diese Geschehnisse habe ich auch noch nicht bewältigt. Es ist so schwer, darüber zu sprechen.«
»Ich will Sie nicht drängen«, sagte Dr. Leiter. »Ich bin auch kein mitteilsamer Mensch.«