Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
in einen ohnmächtigen Schlummer.
Fünftes Kapitel
Frau Böhk beabsichtigte im Wohnzimmer einen kleinen Katafalk aufzuschlagen, die Leiche des Kindes auf demselben in Blumen zu betten und mit vier Kerzen zu beleuchten. Herr Böhk hatte für die Kerzen hübsche Ringe aus Silberpapier verfertigt. »So können wir dort sitzen; für das liebe Kleine beten. Die Leb wird auch kommen. Die Nacht vor dem Leichenbegängnis wachen wir natürlich. Grog werde ich schon besorgen; das gehört sich. Später berechnen wir uns, dass ich nicht zu Schaden kommen werde, das weiß ich.«
Auf diese Vorschläge antwortete Rosa in ihrer müden, abwesenden Weise, die sie seit dem Tode ihres Sohnes angenommen hatte: »Ich danke Ihnen, Frau Böhk, Sie sind sehr freundlich. Das Kind aber dürfen Sie aus meinem Zimmer nicht fortnehmen.«
»Warum denn nicht?« sagte die Hebamme eindringlich, »hier unten wird sich alles viel besser machen. Die Blumen, das schwarz ausgeschlagene Gerüst, die Kerzen. Denken Sie sich nur, wie hübsch das sein wird!«
»Ja, sehr hübsch! Aber aus meinem Zimmer dürfen Sie das Kind nicht fortnehmen.«
Was war gegen solchen Eigensinn zu tun? Frau Böhk wollte es versuchen, auch oben alles so anständig wie möglich herzurichten, obgleich mit der engen Kammer kein großer Staat zu machen war. Die Wiege wurde mit schwarzem Tuch behangen, mit Blumen besteckt; die Kerzen mit ihren Ringen aus Silberpapier standen nebenan auf der Kommode. Was zu machen war, geschah; dennoch sah es nicht besonders aus.
Am Abend versammelten sich die Hausgenossen um die Kindesleiche. Stumm, mit gefalteten Händen, saßen sie auf ihren Stühlen und nickten mit den Köpfen. Die Leb neigte sich an Frau Böhks Ohr heran und flüsterte: »Wie ein Engel sieht es aus. Ganz unverändert.« Rosa barg ihr Gesicht in ihr Taschentuch und weinte. Wenn sie zuweilen aufblickte, bekamen die Flammen der Kerzen krause Strahlen, und die Anwesenden neigten die Köpfe auf die Seite und schauten Rosa mitleidig an, als erwarteten sie etwas von ihr. Frau Böhk und die Leb wischten sich dann die Augen, Herr Böhk war unruhig, flüsterte mit den Frauen, ging knarrend ab und zu; endlich lehnte er sich gegen die Wand, steckte die rechte Hand in den Ausschnitt seiner Weste und stimmte einen Choral an. Alle sangen mit, den Mund weit öffnend, die Hände im Schoß gefaltet; darauf las Herr Böhk ein Gebet vor. Rosa merkte nicht auf die Worte, nur der getragene, betrübte Tonfall beeindruckte sie, sie schaute auf und interessierte sich dafür, was die anderen taten: jetzt beteten sie, ein jeder still für sich; die Leb schielte dabei beständig zu Rosa herüber; jetzt flüsterten sie miteinander: »Kommen Sie, etwas zu nehmen«, sagte Frau Böhk zur Leb. Diese nickte und deutete auf Rosa. »Liebes Kind«, wandte sich die Hebamme an Rosa, »kommen Sie, trinken Sie etwas für die Herzstärkung.«
»Nein, ich danke«, hörte Rosa ihre eigene Stimme tief und klagend erwidern, »ich will es nicht allein lassen.« Die Leb blinzelte mit den Wimpern und legte den Zeigefinger auf die Stirn. Dann gingen sie alle ins Wohnzimmer hinab, um Grog zu trinken, in der Türe drängten sie sich, als hätten sie Eile hinauszukommen.
Rosa blieb allein. Das Gesicht in die Hände gestützt, saß sie ruhig da. Sie sehnte sich nach einem stürmischen Schmerzensausbruch; sie hätte weinen und schluchzen mögen; die furchtbare Öde in Kopf und Herz war unerträglich. Ein Nachlassen des Schmerzes erschien ihr wie ein Unrecht, und doch, was war der Schmerz? Wollte sie sich seiner bewusst werden, so zerfiel er in kleinliche, fernabliegende Gedanken, über denen trostlose Wehmut hing. In ihrem Jammer ward Rosa unablässig von der Unzulänglichkeit dieses Jammers gequält.
An das Kind – nur an das Kind wollte sie denken. Das liebe kleine Wesen! Wie sorgenvoll es die Stirne kraus zog, wenn sie es an die Brust legte! Wie eng und warm es sich anschmiegte und dabei beständig die winzigen Fußspitzen bewegte. Ja – ihr gehörte es, ihr ganz allein. Sie wollte es so erziehen, dass sie es nie zu strafen brauchte. Es wäre ihr unerträglich, wenn Ernst je ein ähnliches Gefühl gegen sie hegen könnte, wie sie es gegen Fräulein Schank, Agnes, sogar gegen ihren Vater gehegt hatte, wenn diese sie tadelten. Sie würde mit ihrem Sohne dort unten an der Wiese in dem weißen Häuschen leben, munter und kameradschaftlich wie Freundinnen, die die Ferien miteinander verbringen. Nie durfte Ernst sich vor ihr fürchten, nie erschrocken zu anderen Kindern sagen: »Sie kommt«, oder gar: »Die Alte kommt!« Nie! Rosa hob den Kopf auf und blickte entsetzt auf die schwarze Wiege. Sie fand sich in die fremde feierliche Gegenwart nicht mehr hinein, und noch heiß von mütterlichen Liebesgedanken, wurde sie wieder in das wirre, grausame Bangen zurückgeworfen. Das Kind war ja nicht mehr, war irgendwo an einem unbekannten, unerreichbaren Orte – ganz allein. Bleich bis in die Lippen, zwischen den Augenbrauen eine aufrechte Falte, erhob sich Rosa und trat an die Wiege heran. Von Rosen und Jasmin bedeckt, lag die kleine Leiche da, nur das Gesicht war zu sehen, ein rundes, wachsgelbes Gesichtchen – der Mund eine feine bläuliche Linie, die Nase dünn wie Papier, über den Augenlidern bläuliche Schatten. Dennoch lag in diesen nur angedeuteten Zügen eine fremde Herbheit. Auf der einen Wange bemerkte Rosa einen dunklen Fleck. Sie fuhr zurück, von Grauen und Abscheu überwältigt, und verzog ihr Gesicht, als wollte sie weinen.
Sie blickte zur Türe hinüber. Sollte sie fortgehen? Es war ja doch ihr Kind, sie durfte sich nicht fürchten. »Ich will es küssen«, sprach sie laut vor sich und beugte sich auf die Leiche herab. Die welkenden Rosen- und Jasminblüten atmeten einen starken süßen Duft aus, und – dann noch – – – Nein! Dieses starre, gelbe Gesichtchen mit seinen dunklen Flecken auf der Wange erfüllte Rosa mit unsäglichem Grauen. »Ich will es aber küssen!« wiederholte sie und fasste krampfhaft mit zitternden Händen den Rand der Wiege. »Ach du mein armer, armer Engel! Ich liebe dich doch. Vor dir sollte ich mich fürchten? Glaube das nicht! Wenn du auch tot bist, ich werde nie aufhören, dich zu lieben!« Und sie drückte ihre Lippen fest auf die kalte Stirn des Kindes, dann aber entfernte sie sich mit bebenden Knien. Sie öffnete das Fenster, der Duft der Blumen, die Schwüle des Gemaches erstickten sie. Das Fensterkreuz mit beiden Armen umschlingend, beugte sie sich hinaus.
Die Julinacht war schwarz und still, zuweilen nur regte sich ein sanftes Rauschen, das an große, kühle Fernen voll feuchten Duftes gemahnte. Diese verhüllte Welt erschien Rosa unendlich weit, hier konnte sie sich hineinverlieren und verstecken. Auf das Zimmer und seine Pein blickte sie nicht mehr zurück. Sie ließ sich vom Winde die Stirne kühlen, die Nacht tat ihr wohl mit ihrer Unergründlichkeit, durch die es wie ein Hauch – wie eine Stimme irrte, die eintönig und klagend »weit – weit« vor sich hinzusingen schien.
Unten im Wohnzimmer wurde es auch still. Grethe stieg die Treppe