Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
sie sich noch einmal um, lächelte und sagte: »Grüßt mir den Onkel, und den Hans auch. Behüte euch Gott.« Die anderen schauten ihr eine Weile nach, dann gingen auch sie heim. Grethe drückte ihr Gesicht fest an den grauen Rockärmel ihres Schreinergesellen und schluchzte. Sterne standen schon am Himmel, ganz blass und silbern in der Dämmerung der Frühlingsnacht. Drüben in den Birken schlugen zwei Nachtigallen, und in der Ferne hörte man abgerissene Töne eines Liedes. Rosa blieb stehen und horchte. War es nicht Martha, die sang? Dort ging sie ja. Hinter den Pappeln stand am Himmel noch ein Streifen milden Goldes; von diesem lichten Streifen hob sich Marthas Gestalt scharf ab; ihr Bündel in der Hand, das flatternde weiße Tuch auf dem Kopf, schwankte sie ein wenig beim Gehen – und von dort kamen die Töne. Rosa musste ihr nachschauen, bis sie in der Dämmerung verschwand. »Martha«, sagte sich Rosa, »geht mutig ihrer Liebe nach. Mir ist nie der Gedanke gekommen, meiner Liebe nachzugehen; ich habe ja auch nur jenes dumme Ding gekannt, das wir in der Schule ›verliebt sein‹ nannten. Nur, dass ich diese alberne Schulliebe ernster nahm als die anderen. Aber bei Martha – da ist’s schön!«
Frau Böhk erfuhr erst am nächsten Morgen Marthas Flucht. Anfangs sagte sie nur: »Hol sie der Kuckuck!« Plötzlich aber stieg ihr die Aufregung zu Kopf. Sie tobte gegen jeden, von dem sie annahm, er habe um Marthas Geheimnis gewusst; sie wollte sich sogar an die Gerichte wenden. Aber auch dieser Zorn verrauchte bald, und Marthas Name wurde von Frau Böhk nie mehr genannt.
Erstes Kapitel
Für Rosa begann jetzt ein wunderliches Pflanzenleben. Einem Gedanken zu folgen, sich einer Träumerei hinzugeben, wie sie es sonst wohl liebte, vermochte sie nicht mehr. Sie konnte nur still daliegen und in sich hineinhorchen. In ihrem Kasten hatte sie eine Flasche Rosenessenz entdeckt, die Ambrosius ihr einst verehrt hatte. Er liebte diesen Duft. Alles an ihm, sein Haar, sein Schnurrbart, seine Kleider dufteten nach Rosenessenz. Jetzt, als Rosa die Flasche fand, brachte dieser Duft ihr die alten Erinnerungen mit erschreckender Deutlichkeit wieder. Angewidert von den aufsteigenden Bildern, warf sie die Flasche beiseite und ging in den Garten hinab. Dort lag sie im Sonnenschein auf der Schaukelbank und starrte mit halbgeschlossenen Augen zum Himmel auf. Nach kurzer Zeit jedoch erfasste sie ein quälendes Verlangen nach dem schwülen Duft der Rosenessenz; er war ihr zuwider, und dennoch!… Sie musste wieder zu ihrer Kammer hinaufsteigen, die Türe schließen, als hätte sie etwas Unerlaubtes vor, und sich an dem süßen Duft berauschen, bis der Ekel ihr die Kehle zuschnürte und sie die Flasche übersatt fortwarf.
Dieses rein leibliche Leben, in das Rosa versank, bedrückte sie zuweilen; die Zeit wurde ihr lang. Sie musste beständig auf die Mahlzeiten warten, ins Haus hinüberhorchen, ob Grethe nicht schon mit den Tellern klapperte, musste nach der Uhr sehen, ob es nicht Schlafenszeit sei, und misslang eine Speise, auf die sie sich gefreut hatte, oder störte jemand ihre Bequemlichkeit, dann konnte sie vor Zorn weinen, als sei ihr schweres Unrecht zugefügt worden. Außer ihrem körperlichen Zustande verlor alles für Rosa an Interesse. Die Natur zwang sie, nur ihrer Frauenpflicht zu leben, nur des zukünftigen Kindes wegen da zu sein. In manchen Augenblicken ahnte Rosa das Geheimnis, das einen so großen Wandel über Geist und Körper brachte. Sie staunte darüber, und ihr ward ein wenig bang. Es war zu fremd und unbehaglich, sich selbst nicht mehr ganz anzugehören.
In einer Nacht – Ende Juni – fühlte Rosa heftige Schmerzen und rief nach Hilfe. Frau Böhk ward geholt, und diese sagte munter, als sie Rosa sah: »An die Arbeit – an die Arbeit.«
Viele Stunden hindurch quälte sich Rosa. Bewusstlos vor Schmerz, hatte sie stets das Gefühl, als müsste sie eine schwere Last mit aller Anstrengung weiterschieben; dann plötzlich verließen sie die Kräfte, eine große Ruhe kam über sie, und regungslos lag sie da. Sie hörte, wie man um sie flüsterte, leise ab und zu ging. Wenn sie die schweren Augenlider halb emporhob, sah sie die Dämmerung des Krankenzimmers von grellen Lichtstreifen durchzogen. Im fieberhaften Halbschlummer suchte sie diese Erscheinung zu ergründen, mühte ihren armen, schmerzenden Kopf mit der Frage ab: Wo kommen die Lichtstreifen her? Endlich fand sie die Energie, die Augen vollends aufzuschlagen, Nun erkannte sie, dass das Fenster mit Tüchern verhangen war und das Tageslicht sich zwischen denselben hindurchstahl. Ja – auch die Gegenstände im Zimmer unterschied sie jetzt deutlich. Dort – in der Ecke – saß jemand, eine kleine schwarze Gestalt. Ah, das war die Leb. Sie schlummerte, den Kopf zurückgebogen; ein Sonnenstrahl traf ihre flachen, rotbraunen Haarbänder an den Schläfen und die rotgeränderten, faltigen Augenlider. Ja – das war die Leb, denn Frau Böhk war so beschäftigt, dass sie ihre Kranken oft verlassen musste; dieser Satz klang Rosa noch von der Krebspartie her in den Ohren.
Neben Rosas Bett standen zwei Stühle dicht beieinander; ein Polster lag auf ihnen, Leinzeug und ein dichter weißer Schleier, der etwas bedeckte. Rosa blickte scharf hin. Was war das? Am Ende…! Freilich, irgendwo musste ja doch ein Kind sein, das war klar. Gern hätte sie den Schleier fortgezogen; sie wagte es jedoch nicht. Sie wartete; wird es sich regen?
Sehr still war es im Krankenzimmer, nur Frau Leb stieß zuweilen einen leisen Kehllaut aus.
Den Kopf gehoben, die Augen sehr groß in dem bleichen Gesicht, beobachtete Rosa das weiße Paket nebenan. Jetzt hatte sie einen Ton vernommen. Sie beugte sich vor. Eine zarte Röte überflog ihr Gesicht, und wie erschrocken öffnete sie die Lippen. Da war er wieder, dieser Ton! Ganz fein, ein wenig knarrend; wie der Laut, den manche Puppen von sich geben, wenn man sie drückt. Was sollte Rosa beginnen? Die Leb schlief. Etwas musste aber doch geschehen! Wenn man wimmert, so bedarf man der Hilfe, nicht wahr? Rosa streckte die Hand aus und blickte scheu zur Leb hinüber. Die Hand, während sie den Schleier fasste, zitterte. doch zog sie ihn entschlossen herab.
Auf dem Polster lag ein winziges rotes, faltiges Gesicht, aber unzweifelhaft ein Gesicht: Da war eine Nase, ein Mund, eine Stirn, über die sorgenvolle Furchen hinliefen, Augenlider, so durchsichtig und geädert wie bei jungen Vögeln, die Augenlider zuckten, hoben sich – und ließen zwei blanke, runde Punkte sehen. Der Mund, der wie ein winziges Tröpfchen roter Farbe unter der Nase saß, verzog sich, öffnete sich und stieß wieder den knarrenden Puppenlaut aus. Rosa erschrak: Warum weinte es? Was sollte sie tun? Ach Gott, erwachte doch die Leb! »Frau Leb, Frau Leb!« Vergebens! Rosa sank in ihre Kissen zurück und weinte auch; sie wusste sich nicht anders zu helfen.
Das Wimmern des Kindes musste doch bis zur Frau Leb gedrungen sein, denn diese erwachte plötzlich, eilte zum Kinde, sprach leise mit ihm, rückte es zurecht und gab ihm etwas zu trinken. Als sie sich aufrichtete, bemerkte sie, dass Rosa wach dalag. Sie lächelte ihr zu: »Guten Tag, Fräulein! Aber