Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
meinte Frau Böhk. »Sorgt ihr für die Krebse, wir setzen uns hierher. Bis Sonnenuntergang kann das Fräulein einige Netze herausziehen, das wird ihr nicht schaden.«
Rosa errötete vor Freude. In letzter Zeit daran gewöhnt, von jeder Fröhlichkeit der Jugend ausgeschlossen zu werden, erschien es ihr jetzt wie ein großes Glück, mittun zu dürfen. Herr Böhk leitete sie sehr liebenswürdig an. Behutsam musste sie an den Bachrand treten, die Netzstange erfassen und geschwind herausziehen, dann fielen die Krebse, die sich um den Köder versammelt hatten, zappelnd in das runde Netz. Prächtig war es, die glänzenden schwarzen Tiere vorsichtig zu fassen und in den Korb zu tun, wo sie ihre Schalen aneinander rieben und ein Geräusch machten, als flüstere jemand. Martha und Grethe hatten sich Schuhe und Strümpfe ausgezogen, stampften lustig im nassen Moose umher und kreischten auf, wenn das Wasser ihnen kalt an die Beine schlug.
Die Sonne ging unter. Ihre letzten Strahlen gaben den Birkenstämmen rosige Fleischtöne, dass es aussah, als hielten viele knorrige Arme das zarte Laub empor. Eine Schafherde, die fern auf der Wiese weidete, ward rot angeleuchtet, und über den ganzen Himmel war ein roter Farbentopf ausgegossen.
»Wie gesottene Krebse sieht alles aus«, bemerkte Herr Böhk. Niemand lachte darüber. Alle hielten sich in dem Lichtbade still, das über sie hinfloss.
»Die Sonne geht unter«, mahnte Frau Böhk. »Kommen Sie zu uns, liebes Fräulein.«
Rosa setzte sich zu den Frauen, ließ sich von der Hebamme warm zudecken, lehnte den Kopf an einen Baumstamm und schaute zu. Ihr war wohl. Alles Trübe und Schwere muss vorübergehen – und dann bleibt noch immer das schöne Ding – Leben – übrig – noch Raum für manches Glück.
Schnell zog die Dunkelheit heran. Der Himmel wurde bleich und gläsern. In den Birkenzweigen hing hie und da ein Stern. Der Bach dampfte; über die Wiese ergoß sich der Nebel weiß wie Milch. Weiter unten am Bach ward ein Feuer angesteckt, Stimmen schallten herüber. »Dort krebsen die vom ›Roten Hirsch‹«, sagte die Leb. Auf der anderen Seite ward Pferdegetrappel laut. Die Pferde des Orts wurden auf die Weide getrieben. Sie zerstreuten sich über die Wiese; man vernahm ihr Schnaufen, und zuweilen klatschte es, wenn ein Pferd auf eine sumpfige Stelle geraten war. In der Ferne spielte eine Harmonika einen Tanz; der Ton kam näher – jetzt war er ganz nah, und zwei dunkle Gestalten tauchten am Bache auf.
»Der Schmied- und der Schreinergesell«, erklärte Frau Böhk. Sie war heute milde gestimmt und ließ alles geschehen.
Am Bache wurde es jetzt lebhaft; sie lachten dort, schrien auf, die Netze plätscherten im Wasser, die Harmonika sang mit ihrer durchdringenden Stimme dazwischen, dann plötzlich wurde es still.
Die Frauen hatten sich über den Eßkorb hergemacht, aßen und sprachen halblaut miteinander. »Die Wurst ist gut. Von vorigem Herbst, nicht wahr?« fragte die Leb. »Ich nehme auf solche Partien nichts mit, des Schleppens wegen, wissen Sie. Nur meine Flasche.«
»Was haben Sie denn Gutes in der Flasche?«
»Sehen Sie hier. Kirschgeist ist das – für den Magen. So etwas muss ich immer bei mir haben, das frischt das Herz auf.«
»Ja – ja«, erwiderte Frau Böhk; dann tranken sie beide.
»Dass es mit der Bäckerin so schnell zu Ende gehen würde, habe ich nicht gedacht«, hub die Leb wieder an. »Eine hübsche, leichte Geburt, und dann kommt so ein Fieber, und aus ist’s.«
»Ja, da kann niemand helfen«, bestätigte die Hebamme. »Und in letzter Zeit hab ich Unglück mit dem Kindbettfieber. Der dritte Fall in diesem Jahr. Alles geht gut, und eh man sich’s versieht, ist die Person tot! Wahrhaftiger Gott, dieses Jahr hab ich Unglück.«
»Wann wird die Bäckerin bestattet?«
»In zwei Tagen; aber der Bäcker wird keine großen Umstände machen.«
»Hören Sie, die Beerdigung beim Krämer war nicht schlecht.«
»Es ging an.«
»Oh, nicht schlecht! Die Schweinssulz war sogar recht gut; und für’s Herrichten der Leiche hat er mir auch ziemlich nobel gezahlt.«
Rosa hörte zu. Die Bäckerin war also tot. Diese Nachricht ging anfangs an ihr vorüber, wie so viele der Krankengeschichten, die Frau Böhk zu erzählen pflegte. Plötzlich jedoch kam ihr der Gedanke: Wie? Daran stirbt man? Es ist ein unglückliches Jahr, sagt die Frau Böhk. Und ich? Ein wunderliches, nie empfundenes Gefühl der Todesfurcht ergriff Rosa. Das Wort »Tod«, dieses alte Wort, das sie unzählige Mal ausgesprochen hatte, klang heute bedeutungsvoll und fremd, nun, da es zu ihr gehörte.
Die Dunkelheit, die feuchte Kälte, die von den Zweigen niederfiel, bedrückten Rosa. Der starke Duft der Birken erinnerte sie an die Kirche, die man für einen Toten mit Maien schmückt. Und doch – sie musste hier bleiben. Eine unverstandene Schamhaftigkeit ließ sie fürchten, die anderen könnten ihre Angst bemerken.
Schräg durch die Birkenzweige drang ein Licht wie der Schein einer Lampe, der durch Vorhänge auf die Straße fällt. Das Licht stieg und wuchs. Der Mond war hinter den Wolken des Horizonts hervorgekommen, und als er hoch am Himmel stand, verbreitete er eine große, milde Klarheit. Die Pappeln standen ganz in silber. Auf der Landstraße unterschied man deutlich einen Wagen, mit zwei Pferden bespannt. Er rollte dahin wie ein zierliches schwarzes Spielzeug, an dem eine Glocke unablässig läutete.
»Der Mond ist schon da«, meinte Frau Böhk, »da muss es spät sein. Gott, mein Fräulein hat ganz kalte Hände! Geschwind nach Hause! Wo sind nur die andern?«
Frau Leb hielt nachdenklich ein Stück Wurst in der Hand, sagte: »Der Mond ist schön rund«, und blickte empor, den Kopf leicht zur Seite neigend, wie ein Hund, der ins Kaminfeuer schaut.
»Hu – hu – nach Hause!« rief Frau Böhk in die Nacht hinaus.
»Wir kommen«, antwortete es hinter den Erlen.
»Gut, gut!« sagte Frau Böhk, »sie mögen die Netze nehmen. Wir gehen voraus.«
Auf dem Heimweg waren die Frauen sehr angeregt und sprachen eifrig miteinander. Rosa ging still neben ihnen her. Die schwarzen Gedanken waren fort, und große Müdigkeit lastete auf ihr.
Die anderen kamen nach. Man hörte sie singen. Als Rosa sich umschaute, sah sie im hellen Mondschein ein jedes der Mädchen eng an einen Burschen geschmiegt einhergehen. Herr Böhk spielte die Harmonika; Hans trottelte nach.
In der Nacht hatte Rosa einen peinvollen Traum. Sie lag in ihrer Kammer, träumte ihr, die Leb stand vor ihr und sagte: »Die vierte, die uns stirbt.« Und mit der Unfehlbarkeit, mit der im Traum das Erwartete eintrifft, begann das Sterben schon: Eine kalte Schwere