Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
sie Toddels geheiratet hat.« Das ließ sich doch alles wenigstens denken, so unmöglich und schrecklich es auch war. Aber »ich werde nicht mehr sein«, wie ist das? –
Oft, wenn die Todesahnungen zu einem empfindsamen Mitleid um das eigene Ich wurden, konnte Rosa wohl in ihrer alten, kindischen Weise sich alles ausmalen, an sich wie an die Heldin eines Buches denken: der letzte Brief an den Vater, die Abschiedsworte an Frau Böhk, an die Mädchen: »Martha, werden Sie glücklich!« –, der Sarg ganz von weißen Rosen überdeckt – und dann? Dann erhob sich wieder die schwarze Mauer, an der sich alle Phantasien die Flügel knickten; dann – nichts mehr.
Diese dumpfe Todesangst verließ Rosa nicht mehr; wenn sie dieselbe auch auf Augenblicke vergaß, sie spürte sie dennoch, wie einen Schmerz, der sich unverstanden durch unsere Träume zieht und sie verbittert.
Ihre Jugend sträubte sich gegen diesen Gedanken: »Es kann nicht sein! Wer stirbt denn mit achtzehn Jahren?« Dieser Kampf, den Rosa sorgfältig in sich verschloss, gab ihrem Wesen etwas rührend Mildes. Einen jeden, der mit ihr sprach, sahen ihre Augen hilfesuchend an. Nach Menschen sehnte sie sich. Gleichviel wer, wenn es nur ein Mensch war, wenn sie sich, nur fest an das Menschliche, an die Erde anklammern durfte. Brachte Herr Böhk ihr eine Decke, um ihr auf der Schaukelbank damit die Füße zu bedecken, tätschelte Frau Böhk ihr den Arm und nannte sie »liebes Kind«, so war Rosa tief bewegt. Dieses junge Wesen, das sich gegen seine Vernichtung auflehnte, griff nach allem, was es mit den Menschen und dem Leben verbinden konnte.
Zuweilen dachte Rosa an die Religion. Wenn man stirbt, kommt man entweder in den Himmel oder in die Hölle; das war eine alte Geschichte, die jedes Kind kannte, schon bevor es in die Schule ging. Später, im Konfirmationsunterricht, lernte man mehr darüber: Um in den Himmel zu kommen, muss man berufen – erleuchtet – geheiligt werden. Auch die Stufen der Buße konnte Rosa noch an den Fingern herzählen. Sie wiederholte sich das alles jetzt. Es sagte ihr jedoch nichts. Ihre sinnliche, auf das Unmittelbare gerichtete Natur vermochte nicht, sich vor der Hölle zu fürchten oder sich nach dem Himmel zu sehnen. Das Aufhören des Irdischen war die Tatsache, bei der ihr Herz aufschrie. Trotz aller Bitternisse, die sie erfahren hatte, war der Tod doch für Rosa das Verlassen eines Festes, während die anderen weitertanzen durften. Nicht mehr zu sein, das ging ihr gegen die Natur.
Während Rosa mit ihren neuen düsteren Empfindungen rang, sah es im Böhkschen Familienkreise auch nicht lustig aus. Martha und Frau Böhk hatten einen sehr heftigen Auftritt miteinander gehabt. Das Mädchen erklärte der Tante eines Morgens: »Der Peter geht nach Amerika zu seinem Onkel. Ich gehe mit – und bitte die Tante, mir das Geld von meinem Vater, das sie mir aufhebt, zu geben.«
Frau Böhk war anfangs sprachlos vor Entrüstung, dann fuhr sie auf das Mädchen los: »Nicht einen Schritt gehst du diesem Menschen nach – solch einem Lumpen, solch einem Habenichts. Gut, dass er nach Amerika geht, das tun alle Lumpen. Aber du ihm nachlaufen!«
Martha ward sehr bleich, rang krampfhaft ihre Schürze und sagte: »Ja, Tante, ich werde den Peter doch nicht allein fortgehen lassen, und – da wollte ich mein Geld.«
»Ihr Geld!« Frau Böhk lachte: »Frag in zwei Jahren nach. Solange der Onkel dein Vormund ist, bekommst du keinen Heller. Ja, das Geld will der Lump haben, nach dir fragt er verteufelt wenig. Geh du mit ihm zum Kuckuck, das Geld bekommst du nicht. Hast du gehört? Nach Amerika will das liederliche Ding mit dem ersten besten – mir nichts, dir nichts durchgehen!«
Von der Sache war nicht mehr die Rede. Martha ging ernst im Hause umher und sprach kein Wort mit der Tante. Am Abend, an dem Peter den Ort verlassen sollte, sah Rosa vom Fenster aus Martha über die Wiese heimkommen. Die Arme ließ sie müde am Körper niederhängen und hielt den Kopf gesenkt. Sie hatte Peter das Geleite gegeben. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, schirmte mit der Hand die Augen und blickte zu den Pappeln der Landstraße hinüber. Heimgekommen, stieg sie still zu ihrer Kammer hinauf.
Rosa ward von Mitleid tief ergriffen. Jetzt, da sie selbst litt, konnte sie keinen leiden sehen. Sie verstand fremdes Leid zu gut, und es quälte sie wie eigenes. Sie wollte Martha trösten, wollte ihr sagen, dass es vielleicht so besser sei, wie es gekommen. Sie war ja weise geworden und konnte andere warnen.
Am folgenden Morgen saßen Rosa und Martha im Garten auf der Schaukelbank. Der Tag war schwül. Die Sonne brannte auf die wenigen Beete des Gartens nieder, und die Luft war voll warmer Narzissen- und Holunderdüfte. Martha, bleich, dunkle Ringe unter den Augen, biss an einem Grashalm und hörte zu, während Rosa sehr eindringlich sprach: »Sehen Sie, Martha, wir glauben zuweilen: Jetzt ist die Liebe da, weil wir so ungeduldig auf sie warten, immer von ihr sprechen. Nachher ist es dann doch keine Liebe gewesen, und wir sind unglücklich und können es nicht mehr ändern.« Rosa hielt inne. Sie staunte über ihre eigenen Worte. Erst im Sprechen war ihr das, was sie sagte, klargeworden. Martha aber schüttelte sachte den Kopf: »Manchen mag es so gehen«, meinte sie, »aber bei mir, Fräulein, glaube ich nicht, dass es besser kommen wird. Wie es ist, so wird es bleiben. Für mich ist das gut genug. Ich habe mich an den Peter gewöhnt, bin drei Jahre mit ihm gegangen; nun wäre es für mich zu hart, ohne ihn auszukommen, drum geh ich ihm nach. Nach zwei Jahren kann die Tante uns das Geld schicken, bis dahin werden wir zusehen, wie wir auskommen.«
Rosa errötete. Es war ihr, als hätte sie vorhin dem Mädchen ihre eigene elende Liebesgeschichte verraten, und Martha antwortete ihr mit dem festen, überlegenen Ausdruck ihrer einfachen Liebe: »Es wäre zu hart für mich, ohne ihn auszukommen. Drum geh ich ihm nach.« – Oh, sie hatte tausendfach recht! Rosa beugte demütig das Haupt vor dieser ruhigen Liebe – die sich ihrer selbst bewusst war.
»Anfangs wollte er nichts davon hören«, fuhr Martha fort. »Nun ja, die Männer, wissen Sie, Fräulein, die gewöhnen sich leichter an eine andere. ›Was wirst so weit fortgehen?‹ sagte er. Er glaubt vielleicht, ich werde ihm dort zur Last sein. Aber als er ging, hat er doch geweint: ›Es tut mir leid, von dir zu gehen‹, sagte er. Gott! Der wird Augen machen, wenn ich übermorgen früh bei ihm bin! Morgen abend geh ich aus, übermorgen früh geht das Schiff ab, so bin ich noch zur rechten Zeit in der Stadt. – Ja, was soll man machen«, schloss Martha, seufzte und ging ins Haus.
Am Abend der Trennung gaben Rosa, Grethe und Georg, der Schreinergesell, Martha das Geleite. Martha trug ihr gewöhnliches blaues Kleid; um den Kopf hatte sie ein weißes Tuch geschlungen; ihre geringe Habe war in ein Bündel geschnürt. Grethe weinte und fragte ihre Schwester immer wieder, ob sie auch genug zum essen mit auf den Weg genommen habe. »Ach, da war auch der Käse, den der Georg mir gestern brachte, dass ich dir den nicht mitgegeben habe! Georg, lauf nach Hause…«
»Nein, lass es nur!« sagte Martha. »Ich habe selbst einen Käse mitgenommen.«