Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling
der Einsamkeit dieser Stunden musste Rosa nachdenken, und wenn man so grübelt und grübelt, werden die Gedanken wunderlich farbenvoll; sie nehmen die Körperlichkeit von Träumen, von Visionen an, dass man sich fast vor ihnen fürchten muss und mit einem Schauer über den ganzen Körper zur Wirklichkeit erwacht. Dazu kam noch eine große Ernüchterung in Rosas Anschauungen. Sie verstand es jetzt, dass im bunten Durcheinander menschlicher Schicksale für sie nur ein kleiner Winkel reserviert war. Ihr Winkel lag sehr abseits und war, fürchtete sie, nicht allzu hell. »Ich hab’s eben verdorben«, sagte sie sich und strich mit dem Nagel ihres Daumens über den Saum, an dem sie nähte. Ein friedevolles Verzichten kam über sie. Mit ihrem Kinde wollte sie hier, in einem abgelegenen Häuschen, wohnen, hierbei konnte ihre Phantasie wieder verweilen; ein kleines Haus mit einem Vorgarten, helle Zimmer – jeden Morgen ging Rosa auf den Markt, Einkäufe zu machen – und dann das Kind…
Frau Böhk hatte Rosa Bewegung in freier Luft verordnet. »Kraft kann man sich nur draußen holen«, meinte sie, »und vor allem haben wir Kraft nötig.« So wanderten Martha und Rosa jeden Nachmittag um die Stunde, da die Sonne rötlich auf den Schnee schien und die Schulkinder auf der Gasse lärmten, hinaus ins Freie. Wenn Rosa aus ihrer stillen Kammer trat, wunderte sie sich über den fröhlichen Tumult draußen, über die vielen Menschen, die vor den Türen standen und plauderten. Alle nickten ihr und Martha zu, riefen ein lautes »Guten Abend« herüber. Es war die Feierstunde von ganz Tiglau, das sich auf der einen langen Gasse des letzten Sonnenstrahls freute, um sich mit der Dunkelheit wieder in die engen Häuser einzuschließen.
Martha, ohne Hut, ein rotes Tuch über die Brust gebunden, ging sittig neben Rosa einher und versuchte es, kleine Schritte zu machen; wenn aber ein gerade unbenützter Schneeball vor ihren Füßen lag, hob sie ihn auf und warf ihn einem der Buben an den Kopf. Dort, hinter der schwarzen, zerfallenen Hütte der Frau Leb, der Kräuterfrau, hörte Tiglau auf, und wenn die Mädchen durch den Lärm der engen Gasse hindurchgegangen waren, erschien ihnen das offene Land erschütternd weit und schweigsam. Der Wind zauste an ihren Kleidern, und die Sonne blitzte so hell auf der Schneedecke, dass es den Augen wehtat. Arm in Arm gingen die Mädchen mit festen, eiligen Schritten vorwärts. »So ist’s lustig, nicht, Fräulein?« sagte Martha und schüttelte die Schultern. Ja, Rosa fand es auch lustig. »Es ist, als ob man schwimmt«, meinte sie. »Wie?« fragte Martha, doch dann nickte sie: »Ja – so kühl.« Es war nicht ganz das, was Rosa meinte. Das Sprühen und Rennen der roten und weißen Lichter auf der Fläche, der zitternde Glanz allerorten, den man nur mit zuckenden Wimpern anschauen konnte, gaben Rosa die Empfindung, als woge und fließe alles um sie her. Ein munteres Jugendgefühl beseelte sie wieder. Sie drückte ihre Schulter fester an Marthas Arm und sagte: »Wie war doch das Lied, das Sie gestern sangen, von dem Liebchen, von dem man nichts hat?«
»Ah das!« Und Martha begann zu singen, schrie die Töne so laut sie konnte in die Weite hinaus. Rosa sang mit, und beide hoben die Köpfe, blinzelten lächelnd in das letzte Aufflackern des Tages hinein.
Plötzlich war die Sonne fort. Einen Augenblick stand das Birkenwäldchen in Flammen, und der Horizont strahlte wie dunkelrotes Glas; dann fing das Erlöschen an. Das Gold der langgezogenen Wolken wurde bleicher, durchsichtiger und setzte einen grauen Rand an, wie von seiner Asche.
Bedauernd schauten die Mädchen auf dieses Erlöschen.
»Wir müssen heim«, sagte Martha endlich.
»Können wir nicht noch bis an die Birken gehen?« bat Rosa.
Aber Martha schüttelte verlegen mit dem Kopf.
»Die Tante wird böse sein, wenn wir lange fortbleiben.«
So kehrten sie denn um. Die Lichter auf dem Schnee waren fort, mattgraue Schatten krochen über die Fläche hin.
»Aber wissen Sie, Fräulein«, sagte Martha beschwichtigend, als rede sie einem Kinde zu. »Wenn es Frühling ist, dann gehen wir ins Birkenwäldchen.«
»Ja, dort muss es schön sein.«
»Freilich! Ein Bach geht an den Birken vorüber, dort fangen wir Krebse, unter den Birken ist das Moos so dicht, dass man auf den Baumwurzeln wie auf Kissen sitzt. Oh, es ist schön dort! Dabei duften die Birken so stark, dass man davon wie betrunken wird. Gewiss! Wenn wir bei Nacht dort saßen, bekamen wir Kopfweh davon.«
»Wer?«
»Ich und der Peter«, antwortete Martha ruhig.
Es dunkelte immer mehr. Durch die Luft flogen winzige harte Schneeflocken, die wie Nadeln stachen. Die Mädchen mussten die Köpfe niederbeugen, um sich zu schützen.
Martha hatte einen Augenblick geschwiegen, nun nahm sie das Gespräch mit gedämpfter Stimme wieder auf: »Ja, wissen Sie, Fräulein, ich durfte den Peter zu Hause nicht mehr sehen, die Tante hatte es verboten, drum gingen wir ins Wäldchen hinab. Ach, die Tante war dem Peter so böse – so böse.«
»Warum denn?«
Martha lachte: »Der Peter ist auch zuweilen ein zu dummer Junge! Er wollte mich erschrecken. Sie wissen doch? Vom Speicherdach kann man in unsere Fenster hineinlangen. Nun, in einer Nacht stieg der Peter da hinauf, um an unser Fenster zu klopfen. Einen Spaß wollte er machen. Wir haben gelacht und dann ein wenig geplaudert, er stand auf dem Speicherdach, ich im Zimmer. Wie er da wieder herunter will, kommt die Tante gerade von der Krämerin zurück, die damals in den Wochen lag. Es war heller Mondesschein, so erkannte die Tante den Peter. Du liebe Zeit, das gab einen Lärm! So erbost hatte ich die Tante noch nie gesehen. Der Peter durfte sich bei uns nicht mehr zeigen; in die Schmiede hinüberzugehen traute ich mir auch nicht. Was sollten wir da tun? Sehn musste ich den Peter, dachte ich. Ich geh doch mit ihm. Und ist er zu mir herauf über das Dach gekommen, so kann ich auch über das Dach zu ihm hinabkommen. So bin ich denn bei Nacht hinabgestiegen, und wir trafen uns bei den Birken. Was sollten wir anderes tun, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Rosa leise. Es war ihr selbst wunderlich, wie vernünftig und natürlich sie alles fand, und über das bleiche, dämmerige Schneefeld kam es wie der weiche Hauch der Frühlingsnächte, der berauschende Birkendüfte mitbringt. »Und jetzt?« fragte sie, um Martha zum Weitererzählen zu veranlassen. »Jetzt«, sagte Martha, »sind diese alten Geschichten vergessen. Die Tante kann den Peter zwar immer noch nicht leiden, aber – mein Gott!« Sie beendete den Satz mit einem Zucken ihrer breiten Schultern, als fühlte sie sich wohl imstande, mit einem Stoß dieser Schultern alles beiseitezuschieben, was sich zwischen sie und den Peter stellen wollte.
»Sie lieben den Peter sehr?« forschte Rosa weiter.
»Ach Gott! Fräulein! Wie kann ich sagen, dass ich den