Der Herr der Welt. Robert Hugh Benson
Gesichter. Mrs. Brand fühlte durch deren unverkennbares Interesse einen leisen Vorwurf für ihre Zerstreutheit, und schnell entschlossen wandte sie ihre Blicke wieder dem Festplatze zu.
Ah, mit voller Begeisterung entwickelte er seine Lobrede! Seine kleine, dunkle Gestalt stand im Hintergrund, etwa einen Meter von der Statue entfernt, und eben, als sie hinblickte, erhob er seine Hand, wandte sich mit einer jähen Bewegung um, und brausender Beifall übertönte einen Augenblick die klare, klangvolle Stimme. Dann schritt er wieder nach vorne, halb kriechend — denn er war ein geborner Schauspieler —, und schallendes Gelächter ertönte unter der Menge. Sie vernahm hinter ihrem Stuhl ein verhaltenes Zischen und unmittelbar darauf einen Schrei ihrer Schwiegertochter … Was bedeutete dies? …
Ein Krach, und die kleine, gestikulierende Gestalt taumelte zurück. Der Greis am Präsidiumstisch sprang sofort auf, und im selben Augenblick gärte und wogte es unter der Menschenmenge unmittelbar außerhalb des abgegrenzten Raumes, wo die Musikchöre standen, und genau der Tribüne gegenüber, gleich der Brandung, die gegen den Felsen anstürmt.
Mrs. Brand, ganz außer sich und verwirrt, war aufgesprungen und klammerte sich an das Fenstergitter, während ihre Schwiegertochter sie krampfhaft am Arm packte und unverständliche Worte von sich stieß. Der ganze Platz war in Aufruhr, die Köpfe bewegten sich bald nach dieser, bald nach jener Richtung, wie ein vom Sturm gepeitschtes Ährenfeld. Oliver erschien wieder im Vordergrund, seine Hand deutete auf einen Punkt, und er rief erregte Worte aus; sie konnte genau seinen Bewegungen folgen, dann sank sie in ihren Lehnstuhl zurück, das Blut schoss durch ihre Adern, und es schien ihr, als müsste sie ersticken.
»Liebes, liebes Kind, was ist geschehen?«, schluchzte sie.
Aber auch Mabel war aufgesprungen und starrte ängstlich nach ihrem Gemahl hin; hinter ihr ließ sich trotz des wogenden Tumultes auf dem Platze ein lautes Durcheinander von Worten und Ausrufen vernehmen.
1 Die Entente cordiale (französisch für »herzliches Einverständnis«) ist ein am 8. April 1904 zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich geschlossenes Abkommen. Ziel des Abkommens war eine Lösung des Interessenkonflikts beider Länder in den Kolonien Afrikas (»Wettlauf um Afrika«). <<<
2.
Oliver erklärte ihnen abends zu Hause, in seinen Armstuhl zurückgelehnt, die ganze Geschichte; einer seiner Arme war verbunden und in einer Schlinge.
Es war ihnen nicht möglich gewesen, nach dem Vorfall in seine Nähe zu kommen, die Aufregung auf dem Platze war zu groß gewesen, aber man hatte seiner Frau einen Boten gesandt, durch den ihr mitgeteilt wurde, dass ihr Mann nur leicht verletzt sei und sich in ärztlicher Pflege befinde.
»Ein Katholik war es«, berichtete Oliver mit abgespannter Miene. »Er muss übrigens schon mit der Absicht gekommen sein, denn sein Revolver wurde noch geladen vorgefunden. Nun, diesmal hat sich wenigstens kein Priester hineinmischen können.« —
Mabel nickte zustimmend; sie hatte durch die Plakate das weitere Schicksal des Mannes erfahren.
»Er wurde getötet, — in einem Augenblick war er niedergestampft und erwürgt«, sagte Oliver. »Ich tat, was ich konnte, ihr habt mich gesehen. Aber, — nun, vielleicht war es so besser für ihn.«
»Aber hast du auch alles getan, was in deinen Kräften stand, mein Lieber?«, fragte die Greisin mit Besorgnis aus ihrem Winkel her.
»Ich rief ihnen zu, Mutter, aber sie achteten nicht darauf.«
Mabel beugte sich vorwärts. —
»Oliver, ich weiß wohl, es klingt töricht, aber — aber lieber wäre es mir, sie hätten ihn am Leben gelassen.«
Oliver musste lächeln. Diese zarte Gemütsstimmung war ihm bei ihr nicht unbekannt.
»Vollkommener wäre es sicher gewesen, wenn sie ihn nicht getötet hätten«, sagte sie. Dann brach sie ab und lehnte sich zurück.
»Warum hat er denn gerade in dem Augenblick gefeuert?«, fragte sie.
Oliver sah einen Augenblick nach seiner Mutter hinüber, die aber in aller Ruhe mit ihrer Strickarbeit beschäftigt war.
Dann antwortete er mit eigener Bedachtsamkeit: »Ich sagte, dass Braithwaite mit einer einzigen Rede mehr für die Welt getan habe, als Christus mit allen seinen Heiligen zusammen.« — Er bemerkte, dass die Stricknadeln eine Sekunde ruhten; dann arbeiteten sie weiter, wie vorher.
»Aber jedenfalls hatte er die Absicht gehabt, die Tat auf alle Fälle zu vollbringen«, fuhr Oliver fort.
»Woher weiß man denn, dass er ein Katholik war?«, fragte seine Frau darauf.
»Einen Rosenkranz fand man bei ihm vor; auch hatte er gerade noch so viel Zeit, um seinen Gott anzurufen.«
»Und weiter weiß man nichts?«
»Weiter nichts, übrigens war er gut gekleidet.«
Oliver war ein wenig verstimmt, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sein Arm schmerzte noch in fast unerträglicherweise. Aber im Grunde seines Herzens war er doch sehr glücklich. Allerdings war er von einem Fanatiker verwundet worden, doch bedauerte er keineswegs, für eine solche Sache leiden zu müssen, und es war außer Frage, dass die Sympathie ganz Englands sich ihm zuwandte. Zu dieser Stunde noch war Mr. Phillips im Nebenzimmer damit beschäftigt, die unaufhörlich einlaufenden Telegramme zu beantworten. Caldecott, der Premierminister, Maxwell, Snowford und ein Dutzend anderer hatten umgehend ihre Glückwünsche übersandt, und aus allen Teilen Englands kam eine Depesche um die andere. Es war ein ungeheuerer Vorteil für die Kommunisten; ihren Anführer hatte man angegriffen, während er seiner Pflicht genügte und für seine Grundsätze focht; für sie bedeutete es unschätzbaren Gewinn und einen Verlust für die Individualisten, dass Bekenner schließlich doch nicht nur auf der einen Seite zu finden waren. In ganz London hatten die riesengroßen elektrischen Plakate es in Esperanto schon verkündet, als Oliver bei einbrechender Dunkelheit den Zug bestieg.
»Oliver Brand verwundet … Mordanschlag eines Katholiken … Entrüstung des Landes … wohlverdientes Schicksal des Mörders.«
Auch war er zufrieden, dass er alles getan hatte, den Mann zu retten. Sogar in jenem Augenblick des plötzlichen und heftigen