Der Herr der Welt. Robert Hugh Benson
rief.
Dann verbarg er sein Gesicht in den Händen, atmete einige Male tief auf und begann sein Gebet.
Wie er es stets beim betrachtenden Gebet zu tun pflegte, begann er mit einem freiwilligen Akt des Selbstloslösens von der Sinnenwelt. Unter der Vorstellung des Sinkens unter eine Oberfläche drängte er seine gesamten Seelenkräfte nach innen, versenkte sie förmlich, bis der Klang der Orgel, das Schlürfen der Fußtritte, die Härte des Betstuhles unter seinem Handgelenk — bis alles losgelöst und einer mit seiner Person in keinerlei Verbindung mehr stehenden Außenwelt anzugehören schien, bis er sich ganz allein fühlte mit seinem pochenden Herzen, seinem Geiste, der ihm Bild um Bild vorführte und Regungen hervorrief, die zu schwach waren, um sich selbst zu äußern. Dann noch weiter niedertauchend und noch mehr sich loslösend von allem, was er besaß und war, wurde er sich bewusst, dass selbst die Verbindung mit seinem Körper aufhörte, und dass sein Gemüt und Herz, von Ehrfurcht durchdrungen durch die Allgegenwart, die sie umschwebte, sich dem Willen anschmiegten, der ihnen Herr und Beschützer war, und sich ihm unterordneten. Noch einige tiefe Atemzüge, er fühlte die Nähe des Allerhöchsten, stammelte mechanisch einige Worte und versank in jenen Frieden, der dem Aufgeben der eigenen Denktätigkeit folgt.
In diesem Zustand verharrte er eine Weile. Fern über ihm tönte die hinreißende Musik, der Schall der Trompeten und der schrillen Flöten, aber sie wirkten wie unbedeutender Straßenlärm auf einen fest Schlafenden. Er fühlte sich wie durch einen dichten Schleier von der Außenwelt getrennt, jenseits der Grenzen der Sinne und Reflexionen, an jenem verborgenen Orte, zu dem er nach endlosem Mühen erst den Weg sich gebahnt hatte, in jener Region, wo Vorstellungen sich mit der Schnelligkeit des Lichtes ablösen, wo der schwankende Wille bald diesen, bald jenen Akt erfasst, ihn formt und wieder fallen lässt, wo alle Dinge sich treffen, wo die Wahrheit klar zutage tritt, erfasst und erprobt wird, wo der immanente Gott eins ist mit dem transzendenten, wo die wahre Bedeutung der äußeren Welt durch die Erkenntnis ihres inneren Wesens sich erschließt und die Kirche und ihre Mysterien sich darbieten, wie von einem Glorienschein umgeben.
So lag er einige Augenblicke, sich den Eindrücken und der Ruhe hingebend. Dann sich zum Bewusstsein seiner selbst erhebend, begann er: »Herr, hier bin ich und hier bist du. Ich erkenne dich. Nichts ist hier als du und ich All dieses lege ich in deine Hände nieder, — deinen abtrünnigen Priester, dein Volk, die Welt und mich selbst. Vor dir breite ich es aus, — vor dir breite ich es aus.«
Er hielt inne, ließ die gleichmäßige Ruhe seiner Seele sich wiederherstellen, bis alles, was sein Denken beschäftigte, wie eine Ebene am Fuße eines Berges dalag.
»… Ich, o Herr, ich würde ohne deine Gnade in Finsternis und Elend verfallen. Du bist es, der mich behütet. Lass dein Werk in meiner Seele sich vervollkommnen und vollenden. Gib nicht zu, dass ich auch nur einen Augenblick wanke. Ziehst du deine Hand von mir zurück, so sinke ich in Nichts.«
So erhob sich seine Seele, die Hände flehentlich ausgebreitet, doch voll Vertrauen. Dann wurde der zum Bewusstsein zurückgekehrte Wille schwankend, und er erneuerte Akte des Glaubens, der Hoffnung und Liebe, um ihn wieder zu befestigen. Das Gefühl der Allgegenwart, die ihn erbeben machte, ließ ihn tief aufatmen, und er begann von Neuem:
»Herr, blicke auf dein Volk herab! Viele verlassen dich. Zürne uns nicht in Ewigkeit! Ich vereinige mich mit allen Heiligen und Engeln und mit Maria, der Himmelskönigin; blicke auf sie und mich und erhöre uns. Gieße aus dein Licht und deine Wahrheit. Lege uns nicht schwerere Lasten auf, als wir ertragen können. Herr, warum schweigest du?«
In so leidenschaftlichem, erwartungsvollem Verlangen presste er sich nach vorn, dass er die Gelenke seines Körpers krachen hörte. Abermals trat eine Erschlaffung ein, und von Neuem begann das sanfte Spiel wortloser Akte, von denen er wusste, dass sie den Kern des Gebetes bilden. Das Auge seiner Seele wanderte hierhin und dorthin, von Kalvaria1 zum Himmel und wieder zurück, zur mühsalbeladenen, ringenden Erde. Er sah Christus sterbend in seiner Verlassenheit, während die Erde bebte und stöhnte; Christus als Priester, herrschend auf seinem Throne, angetan mit einem Gewände von Licht, Christus, geduldig und in unerbittlichem Schweigen unter den sakramentalen Gestalten, und zu jedem der Reihe nach suchte er den Blick des ewigen Vaters zu lenken …
Dann harrte er der Antwort, und sie kam, so leise und zart, wie Schatten heranschwebend, sodass die Bemühung, sie zu erfassen und zu erwidern, seinem Willen Blutschweiß und Tränen entpresste.
Er sah den mystischen Leib in seinem Todeskampf hingestreckt, er sah die einzelnen Sehnen gezerrt und gekrümmt, bis der Schmerz sie wie aufloderndes Feuer zeigte, Tropfen um Tropfen sah er das Lebensblut von seinem Haupte, seinen Händen und Füßen herabrinnen, und die Welt stand darunter, belustigt und spottend. »Anderen hat er geholfen, sich selbst kann er nicht helfen … Christus, steige nun herab vom Kreuze, dass wir sehen und glauben.« Weit weg aber, hinter Büschen und aus Erdhöhlen blickten Jesu Freunde hervor und weinten; selbst Maria schwieg, von sieben Schwertern durchbohrt, und der Jünger, den er liebte, hatte kein Wort, ihn zu trösten.
Auch schaute er, wie kein Wort vom Himmel würde herabgesprochen werden, selbst den Engeln war befohlen, das Schwert in die Scheide zu stecken und der ewigen Geduld Gottes zu harren, denn der Todeskampf hatte kaum erst begonnen; tausenderlei Schrecken standen noch bevor, ehe das Ende eintreten sollte, die Fülle der Kreuzigung … Ihm war nur beschieden, zu wachen und zu warten und sich damit zu begnügen, dabeizustehen und den Dingen ihren Lauf zu lassen, und die Auferstehung sollte für ihn nur eine Hoffnung sein, eine Hoffnung, von der er nur träumen durfte. Noch musste erst der Sabbat kommen, währenddessen der mystische Leib in seinem dunklen Grabe zu liegen hatte, und selbst die Würde des Kreuzes musste entschwinden und die Kenntnis, dass Jesus gelebt hatte. Diese innere Welt, zu der er nach langer Mühe den Weg gefunden hatte, war gänzlich mit Todesangst erfüllt, die Bitterkeit der Tränen herrschte dort und jener fahle Glanz, den nur der äußerste Schmerz hervorruft; in seinen Ohren gellte es in einem Ton, der sich bis zum Angstschrei steigerte, … er fühlte sich niedergedrückt, sein Innerstes durchbohrt, auseinandergerissen, wie auf einer Folter …
»Herr, ich kann es nicht ertragen«, stöhnte er.
Da wusste er sich wieder an der Oberfläche des Lebens, die Not seiner Seele äußerte sich in tiefen Atemzügen. Seins Zunge berührte seine Lippen, und seine geöffneten Augen fanden sich der in Dunkel gehüllten Apsis gegenüber. Die Orgel war verstummt, und der