Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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wie­der zu den Le­ben­di­gen ge­hen.«

      Kaum hör­bar füg­te er hin­zu:

      »Wenn ihr wüss­tet, was ich weiß, so wür­det ihr viel wei­nen und we­nig la­chen.«

      ENDE

Alte Nester

      1880

      *

      Ein Freund von mir be­glei­te­te ein­mal Goethen auf ei­nem Spa­zier­gan­ge. Un­ter­wegs stie­ßen sie auf einen ar­men Kna­ben, der am Wege saß, den Kopf in den Hän­den und die Arme auf die Knie stüt­zend, und so in das Blaue hin­ein­star­rend. »Jun­ge, was machst du da? Worauf war­test du?« rief Goe­thes Beglei­ter. – »Worauf soll­te er war­ten, mein Freund?« nahm Goe­the das Wort. »Er war­tet auf mensch­li­che Schick­sa­le.« –

      O. L. B. Wolff

       All­ge­mei­ne Ge­schich­te des Ro­mans, von des­sen

       Ur­sprung bis zur neues­ten Zeit.

      *

Erstes Buch

      Erstes Kapitel

      Eine Blu­me, die sich er­schließt, macht kei­nen Lärm da­bei; auch das, was man von der Aloe in die­ser Be­zie­hung be­haup­tet, hal­te ich für eine Fa­bel. Auf lei­sen Soh­len wan­deln die Schön­heit, das wah­re Glück und das ech­te Hel­den­tum. Un­be­merkt kommt al­les, was Dau­er ha­ben wird in die­ser wech­seln­den lärm­vollen Welt voll falschen Hel­den­tums, falschen Glückes und un­ech­ter Schön­heit; und es ist kein eit­les, sich über­he­ben­des Wort, was ich hier zu An­fang die­ser Blät­ter hin­set­ze; denn es sind die Le­bens­ge­schich­ten an­de­rer Leu­te, die ich be­schrei­ben will, nicht mei­ne ei­ge­nen. Das Hel­den­tum und die Schön­heit der Rol­le, die ich da­bei ab­spie­le, las­sen sich wohl hal­ten in der hoh­len Hand. Aber ei­nes ist auch wahr und darf ge­sagt wer­den: Glück, viel Glück habe ich wohl nicht ge­habt, aber doch dann und wann mein Be­ha­gen, mei­ne Be­lus­ti­gung und mei­ne Er­götz­lich­kei­ten; und das al­les ist gleich­falls ganz na­tür­lich und ziem­lich un­be­merkt ge­kom­men und ge­gan­gen – so­dass es heu­te in den ge­gen­wär­ti­gen stil­len, nach­denk­li­chen, über­le­gen­den Stun­den nichts Er­stau­nens­wür­di­ge­res für mich gibt als mein un­leug­bar vor­han­de­nes Wohl­ge­fal­len nicht nur an der Welt, son­dern auch im­mer noch an mir.

      Mein ers­tes Auf­bli­cken in die­ser Welt fällt in die Zeit der Grün­dung des Deut­schen Zoll­ver­eins, also in den An­fang der vier­zi­ger Jah­re die­ses Sä­ku­lums. Wer eine Ah­nung da­von hat­te, dass aus die­ser an­fangs et­was un­be­que­men und viel­be­strit­te­nen In­sti­tu­ti­on ein­mal das ei­ni­ge Deut­sche Reich auf­wach­sen kön­ne, be­hielt die­sel­be ru­hig für sich, und eine klei­ne Aus­nah­me mach­te da viel­leicht nur ein klei­ner Mann im Mi­nis­te­ri­um der aus­wär­ti­gen An­ge­le­gen­hei­ten in Pa­ris, M. Louis Adol­phe Thiers ge­nannt. Das deut­sche Volk ließ sich mur­rend, wenn auch nach sei­ner Art gut­wil­lig die ers­ten Le­bens­be­dürf­nis­se und vor al­lem das Salz durch den se­gens­rei­chen po­li­ti­schen Schach­zug ver­teu­ern.

      Da war nun so ein Stät­lein (auf die Land­kar­te bit­te ich da­bei nicht zu se­hen), das die­sem »preu­ßi­schen Ve­rein« bei­ge­tre­ten war, aber sei­ne Pla­ne­ten­stel­le nicht ver­än­dern konn­te, son­dern lie­gen­blei­ben muss­te, wo es lag, näm­lich ganz und gar um­ge­ben von ei­nem an­de­ren Staat, der nicht »bei­ge­tre­ten« war, und das jun­ge Reichs­volk von heu­te hat gott­lob kei­ne Idee da­von, was das sei­ner­zeit be­deu­te­te, ob­gleich es ei­gent­lich noch gar so lan­ge nicht her ist. Zog der eine deut­sche Bru­der sei­nen Grenz­kor­don, so zog ihn der an­de­re eben­falls. Dass wir im gan­zen das Deut­sche Volk und der er­lauch­te Deut­sche Bund da­bei blie­ben, konn­te den Zei­tungs­le­ser nur mä­ßig er­qui­cken und ihn höchs­tens ganz kos­mo­po­li­tisch in sei­ner Selb­st­ach­tung über dem Was­ser er­hal­ten.

      Die Haupt­sa­che für mich, auch heu­te noch, ist, dass das, was da­mals von zi­vil­ver­sor­gungs­be­rech­tig­ten Mi­li­tär­per­so­nen vor­han­den war, fest dar­auf rech­nen durf­te, »un­ter die Steu­er ge­steckt zu wer­den«, und dass mein bra­ver, se­li­ger Va­ter mit dem Ti­tel Herr Kon­trol­leur na­tür­lich gleich­falls hin­ein­fiel und mei­ne Mut­ter eben­so selbst­ver­ständ­lich mit ihm. Mei­ne ers­te deut­li­che Le­bens­er­in­ne­rung aber ist, dass ich von ei­nem Wa­gen ge­ho­ben und in ein Haus ge­tra­gen wur­de, das mir aus ei­nem ein­zi­gen groß­mäch­ti­gen, kind­lich-un­ge­heu­er­li­chen schwar­zen Scheu­nen­flur, ei­ner Rauch­wol­ke un­ter der De­cke und zwei Rei­hen Kuhkrip­pen nebst den da­zu­ge­hö­ri­gen hera­äu­gi­gen, haupt­schüt­teln­den, ket­ten­ras­seln­den ge­krön­ten Herr­schaf­ten zu be­ste­hen schi­en.

      Dem war je­doch nicht ganz so. Es fan­den sich in dem un­te­ren Rau­me die­ses Hau­ses noch zwei oder drei Ge­mä­cher, die den zu dem Feu­er­her­de und den Haus­tie­ren ge­hö­ri­gen Men­schen zu al­ler­lei Ge­brau­che dienten; und eine lei­ter­ar­ti­ge, stei­le Stie­ge führ­te so­gar in ein obe­res Stock­werk, we­nigs­tens in der Front des Ge­bäu­des, em­por – in un­se­re Woh­nung, die ein­zi­ge, die mei­nen El­tern bei ih­rer Ver­set­zung in die­ses Ge­birgs­städt­chen of­fen­ge­stan­den hat­te. Dicht an un­se­re Woh­nung stieß der Heu­bo­den, und wir hat­ten des­halb mit Feu­er und Licht sehr vor­sich­tig um­zu­ge­hen, was wir denn auch ta­ten und vor­züg­lich ich, dem al­les un­nö­ti­ge Spiel da­mit mehr­fach in schla­gen­der Wei­se ver­lei­det wur­de.

      Mein Va­ter, der rei­ten­de Steu­er­kon­trol­leur Her­mann Lan­greu­ter, trug einen Sä­bel und eine Uni­form, die mir heu­te in der Erin­ne­rung den Ein­druck von Grün­blau und Blau und vie­len gel­ben Me­tall­knöp­fen mit dem Lan­des­wap­pen macht. Was den An­zug mei­ner Mut­ter be­trifft, so hal­te ich es hell in dem Ge­dächt­nis fest, dass sie stets in hel­len Klei­dern ging – bis zu dem Er­eig­nis, das sie für im­mer in Schwarz und Grau warf.

      Die Salz­schmugg­ler ha­ben mir näm­lich mei­nen Va­ter er­schos­sen. Um einen Sack voll Salz muss­te er da­mals sein Le­ben im Wal­de auf der lä­cher­li­chen Gren­ze las­sen. Ich aber habe wahr­lich spä­ter kei­ne Ver­lust­lis­te, die um des deut­schen Vol­kes Ein­heit aus­ge­ge­ben wur­de, ge­le­sen, ohne an den al­ten Gries­gram auf sei­nem Fel­de der Ehre weh­mü­tig und kopf­schüt­telnd zu den­ken. Der Don­ner der tau­send Ka­no­nen in den großen Sie­ges­schlach­ten der Ge­gen­wart hat die Schüs­se, die sei­ner­zeit hin­über und her­über ge­wech­selt wur­den, nicht über­tö­nen kön­nen. Gott­lob ist es heu­te nur höchs­tens ein Drit­tel der Na­ti­on, das sich je­nes brü­der­li­che Nach­bar­ge­plän­kel zu­rück­wünscht, was in An­be­tracht des Na­tio­nal­cha­rak­ters merk­wür­dig we­nig ist, zu­mal wenn man noch die sehr ver­schie­den­ar­ti­gen Grün­de, aus de­nen je­ner Wunsch auf­wächst, in Be­tracht und in Rech­nung zieht.

      Auch aus die­sem letz­ten po­li­tisch-his­to­ri­schen Ex­kurs wird mei­nem Le­ser ein­leuch­tend her­vor­ge­hen, dass der schö­ne Som­mer­mor­gen, an dem uns die schlim­me Nach­richt über den Va­ter ge­bracht wur­de, ziem­lich weit zu­rück­liegt. So ist es; es ist viel mehr als ein Men­schen­al­ter seit dem Tage hin­ge­gan­gen, und ich kann dreist die ob­jek­tivs­ten Be­mer­kun­gen an ihn an­knüp­fen.

      Des­sen­un­ge­ach­tet liegt je­ner Tag und alle sei­ne Stim­mun­gen heu­te schier kla­rer vor mei­ner See­le als der gest­ri­ge, an dem es mir zu­erst ein­fiel, mir selbst ein­mal


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