Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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mei­ne Mut­ter und mich, und dann schlug der Kut­scher plötz­lich auf die Pfer­de, und vor­über ging das auch in Staub­wol­ken, Son­nen­licht und Wald­schat­ten. Im ra­sche­s­ten Tra­be gin­gen die Gäu­le wei­ter, ob­gleich der Weg sich eben bergan zog.

      Es ist ein sehr an­ge­neh­mes Wald­ge­bir­ge, durch wel­ches da­mals die Gren­ze ge­gen den Nach­bar­staat, der das deut­sche Salz in an­de­rer Wei­se als wir be­steu­er­te, sich zog. Eine Gren­ze ist dort auch heu­te noch vor­han­den, aber je­ner Staat nicht mehr; doch da­von ist jetzt nicht die Rede, son­dern von der Ge­gend – der Land­schaft über­haupt. Fors­ten und Stein­brü­che über­wie­gen; das Acker­land lässt man­ches zu wün­schen üb­rig; doch es ist in den Hän­den der Bau­ern und Klein­bür­ger, und das ist im­mer viel wert. Nur ei­ni­ge große Lan­des­do­mä­nen bil­den zu­sam­men­hän­gen­de­re Kom­ple­xe, und zwei oder drei Rit­ter­gü­ter mit al­ten Ge­schlech­tern dar­auf ha­ben gleich­falls ihr grö­ßer Teil vom al­ten Erbe Adams fest­ge­hal­ten. Schloss Wer­den hat­te in die­ser Hin­sicht den wei­tes­ten Be­sitz auf­zu­wei­sen, frei­lich aber auch, vom treff­li­chen Wal­de ab­ge­se­hen, den stei­nigs­ten und un­frucht­bars­ten. Der Zweig der al­ten Fa­mi­lie, die es be­wohn­te, stamm­te von ei­nem Berg­schlos­se, fünf­zehn Mei­len wei­ter nach Nor­den im Lan­de ge­le­gen und durch vie­le an­de­re bun­te Grenz­p­fäh­le von dem Ab­sen­ker ge­trennt, dazu auch nur als Rui­ne, zu der es schon, wenn wir nicht ir­ren, im Jah­re der Ent­de­ckung Ame­ri­kas mit Auf­wen­dung al­ler da­ma­li­gen krie­ge­ri­schen In­ge­nieur­küns­te ge­macht wur­de.

      In Wien sit­zen Fürs­ten zu Ever­stein, in Mün­chen Frei­her­ren des­sel­bi­gen Na­mens, und hier in die­sem Wald­ge­bir­ge, ver­schol­len wie Ame­ri­ka nach der Ent­de­ckung durch die Chi­ne­sen oder die Nor­we­ger, oder wer es sonst zu­erst auf­ge­fun­den ha­ben soll, Herr Fried­rich Graf Ever­stein mit ei­ner ein­zi­gen Toch­ter, Kom­tes­se Ire­ne; und son­der­ba­re Ge­schich­ten und Gerüch­te gin­gen über den Herrn und sei­nen Haus­halt im Lan­de her­um. Je ge­nau­er man aber dar­auf hin­hör­te, de­sto we­ni­ger wirk­lich Ge­nau­es hat man dar­über er­fah­ren, au­ßer dass »von An­fang an we­nig dort zu su­chen und noch we­ni­ger zu fin­den« war. Ein Ver­bre­chen ist das ge­ra­de nicht, doch an­ge­nehm und be­hag­lich ist’s auch nicht. So sag­ten we­nigs­tens die Leu­te spä­ter.

      Noch eine Stun­de hat­ten wir durch den Bu­chen­wald zu fah­ren, dann ka­men wir an einen sump­fi­gen Gra­ben voll Ried­gras und Bin­sen. Ein al­ters­grau­er Grenz­stein stand, halb ver­sun­ken, dicht an der Chaus­see. Um ihn her­um war das Gras nie­der­ge­tre­ten wie von vie­len Fü­ßen. Un­ser grauschnauz­bär­ti­ger Beglei­ter schob die Schul­tern plötz­lich hin und her und sah grim­mig ver­le­gen auf den Platz hin und leg­te dann mei­ner Mut­ter die Hand auf das Knie und sah dann mei­ne Mut­ter an, in­dem er sich mit den Knö­cheln der an­de­ren Hand die Stirn rieb.

      »Ich weiß nicht, ob es recht von mir ist, Frau, aber ich – der Jun­ge – mag sich wohl ein­mal dar­an er­in­nern wol­len. Da!«

      »Da hat man ihn ge­fun­den!… Ge­mor­det!… Mir und un­se­rem ar­men Kin­de in sei­nem Blu­te!« schrie mei­ne Mut­ter, und –

      »Ja!« sag­te der alte Ka­me­rad. »Zum Hen­ker, Kut­scher, fahr zu!«

      Das kam wohl schroff und hart her­aus, aber doch aus dem weichs­ten, teil­neh­mends­ten Ge­mü­te. Und es war auch in der Tat wohl sehr gut, dass der Kut­scher wirk­lich rasch zu­fuhr. Es war wohl bes­ser, die Frau sanft um den Leib zu fas­sen und sie zu­rück­zu­hal­ten, als sie blind nach dem Griff des Wa­gen­schla­ges fass­te, um sich hin­aus und auf die schreck­li­che Stät­te zu stür­zen. Der Tau hing im Schat­ten noch über­all an Gras, Blu­men und Blät­tern; aber da – un­term Er­len­busch – da, wo der Bo­den am meis­ten zer­stampft war, moch­te wohl noch ein an­de­rer Tau an den Grä­sern und dem nie­der­ge­tre­te­nen Ge­zwei­ge hän­gen.

      Bei­läu­fig, es er­regt ganz ei­gen­tüm­li­che Ge­füh­le, wenn man sich heu­te nach so lan­gen Jah­ren er­in­nert, da­mals, wenn auch nicht auf der schwe­ren Fahrt, ein Wort auf­ge­schnappt zu ha­ben, da­hin lau­tend, dass »der Alte in der Tat merk­wür­dig viel Blut ver­lo­ren habe«!

      Fünf Mi­nu­ten wei­ter von der furcht­ba­ren Stel­le ent­fernt zweig­te sich ein Fahr­weg von der Land­stra­ße ab, quer über Wie­sen. Da bog auch un­ser Wa­gen ein. Jen­seits der Wie­sen, über dich­te Lin­den­wip­fel und an­de­re par­k­ähn­li­che Baum- und Busch­grup­pen, er­ho­ben sich die blauschwar­zen Schie­fer­dä­cher und die bei­den al­ters­grau­en Eck­tür­me von Schloss Wer­den.

      Ein Pfahl am Wege ver­bot hier das Fah­ren und Rei­ten.

      »Sonst fährt hier nur die Herr­schaft«, er­klär­te der Ka­me­rad und Steu­er­kol­le­ge; und es war frei­lich für uns eine bit­te­re Aus­nahms­we­ge­ge­le­gen­heit! Ich hör­te das Wort; aber nach dem Fah­ren hät­te ich in die­sem Au­gen­blick we­nig ge­fragt, wenn ich zu al­lem an­de­ren freie Ver­fü­gung über die son­ni­ge grü­ne Flä­che ge­habt hät­te.

      Die große Wie­se stand in der volls­ten, bun­tes­ten Pracht ih­rer som­mer­li­chen Schön­heit. Es schrill­te tau­send­stim­mig über ihr; die Schmet­ter­lin­ge, Kä­fer und Mücken flat­ter­ten und tanz­ten, es tanz­te die hei­ße Luft über ihr. Wir aber, wir fuh­ren wei­ter dies­mal – die Kin­der­jagd nach den Far­ben und den Tö­nen des Som­mers soll­te mir dies­mal noch nicht er­laubt sein; – wir fuh­ren an ei­nem Teil der ho­hen He­cke des Par­kes ent­lang und dann an ei­ner noch hö­he­ren Mau­er hin bis zu ei­nem al­ten, aber im­mer noch fes­ten und statt­li­chen Ein­gang­stor, über des­sen bei­den Pfei­lern zwei grei­fen­ar­ti­ge Wap­pen­tie­re auf Stein­schil­den in ih­ren Tat­zen das Wap­pen mit dem Eber­kopf der Mor­gen­son­ne hin­hiel­ten.

      Der Wa­gen ras­sel­te auf einen wei­ten, stil­len Hof an ein lang­ge­dehn­tes grau­es Ge­bäu­de her­an und dicht an eine brei­te Stein­trep­pe, die hier zu ei­ner großen of­fe­nen Tür führ­te, sich aber an der gan­zen Fron­te die­ses Haupt­flü­gels des Schlos­ses Wer­den hin­zog.

      Der Die­ner sprang vom Bock und öff­ne­te den Schlag, ein an­de­rer äl­te­rer Mann in der­sel­ben Li­vree kam her­an und nann­te mei­ne Mut­ter selt­sa­mer­wei­se »gnä­di­ge Frau« und füg­te ganz lei­se hin­zu:

      »Be­lie­ben aus­zu­stei­gen.«

      Auf den stum­men Jam­mer­blick und die has­ti­ge Fra­ge der ar­men Frau aber hob er nur die Ach­seln und sag­te:

      »Da sind der Herr Graf schon sel­ber… Ach ja, es geht – den Um­stän­den nach!«

      Das letz­te­re Wort be­zog sich wohl auf mei­nen Va­ter und hieß so­viel als: »Noch lebt er wohl, Frau rei­ten­de Steu­er­kon­trol­leu­rin, aber – wie lan­ge?!«

      Es ist ein nicht mehr ganz jun­ger Mann ge­we­sen, der uns aus der Pfor­te und an der Auf­fahrt ent­ge­gen­trat und den Na­men Graf Fried­rich Ever­stein führ­te. Er hat man­ches Auf­fäl­li­ge in sei­ner Er­schei­nung an sich ge­tra­gen, mir aber ist nichts, aus je­ner Stun­de we­nigs­tens, da­von be­wusst. Nur sprach er so lei­se wie sonst nie­mand von al­len an­de­ren Men­schen in mei­ner Um­ge­bung.

      Drittes Kapitel

      Lei­se sag­te er et­was zu mei­ner Mut­ter, und dann bot er ihr den Arm. Wir wur­den durch die wei­te, küh­le, mit Hirsch­kro­nen, al­ten Blu­men-, Frucht- und Jagd­stücken ge­zier­te


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