Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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bei­des.

      »Wie steht das Be­fin­den, al­ter Freund?«

      »Dan­ke, Herr. Ohne die ver­flix­ten Holzwro­gen könn­te man es viel­leicht wohl zu ei­nem hüb­schen Al­ter brin­gen; aber nun se­hen Sie mal die­se Schand­lis­te von Frev­lern! Und alle aus dem Dorf! Und je­der Ha­lun­ke mit ei­nem Hand­beil un­ter der Wes­te, und jed­we­des Sub­jek­tum vom schö­nen Ge­schlecht mit ei­ner Säge un­term Un­ter­rock. Und die letz­ten sind die schlimms­ten, denn sie rui­nie­ren den Forst von un­ten auf. Kein jun­ger Trieb ist da vor der äl­tes­ten Wa­ckel­lie­se si­cher, und von den jun­gen Spitz­bü­bin­nen will ich gar nicht re­den. Da möch­te man doch lie­ber Papst in Rom sein; und mei­nen Na­mensahn­herrn wün­sche ich mir auf vier Wo­chen hier­her an mei­ne Stel­le.«

      Der Herr Graf lä­chelt matt und seufzt:

      »Wäre es mein Wald, so wür­de ich sa­gen, se­hen Sie durch die Fin­ger, Six­tus. Jetzt se­hen Sie al­lein zu, wie Sie Ihr gu­tes Herz und die Feue­rungs­be­dürf­nis­se un­se­rer bra­ven Nach­barn mit Ih­rer Amts­pflicht in Har­mo­nie brin­gen. Das Kind ist auch wie­der den gan­zen Mor­gen durch aus un­se­rem Ge­sichts­krei­se ver­schwun­den und hilft wahr­schein­lich eben­falls beim Holz­steh­len. Frau Lan­greu­ter ist in Verzweif­lung und kün­digt mir si­cher­lich dem­nächst ihr Gou­ver­nan­ten­tum. Was ha­ben Sie von Ihren Sor­gen zu Hau­se?«

      »Nichts! Sie ha­ben ge­sagt, sie sei­en in den Som­mer­fe­ri­en, und sind auf und da­von. Mein Ev­chen woll­te ei­gent­lich nicht; aber es muss­te. Der Jun­ge muss mir zu Mi­chae­lis si­cher auf die Schu­le; der Pas­tor kommt nicht mehr mit ihm zu Ran­de. Das Fritz­chen da hab ich nur al­lein noch am Hof­tor er­wi­scht und ge­sagt: ›Hier; halt mal!‹ und ihn mit an mei­ne Rech­nun­gen ge­setzt. Da sitzt er, Herr Graf, und nun fra­gen Sie ihn sel­ber ein­mal, wo die an­de­ren ste­cken!«…

      Das »Fritz­chen«, das war ich – der Welt­weis­heit Dok­tor Fried­rich Lan­greu­ter, und der Herr Graf dreht sei­ne sil­ber­ne Dose zwi­schen den Fin­gern, nimmt be­däch­tig eine Pri­se und wen­det sich in der Tat an mich und fragt:

      »Wo ist Ire­ne, mein Sohn?«

      Und bei die­ser Fra­ge öff­net es sich vor mir breit, weit, son­nig, grün, Berg­hü­gel und Berg­hü­gel, Tal und Tal, und dann ein­mal zwi­schen zwei Ber­gen das Glit­zern ei­ner Fluss­win­dung, und dann auf der Fer­ne rund­um ein blau­er, lich­ter, ma­gi­scher Dunst­schlei­er, den man – wie Ewald be­haup­tet – sich am bes­ten zwi­schen sei­nen aus­ge­spreiz­ten Bei­nen durch be­sieht: da ist Eva Six­tus und ihr Bru­der Ewald und Ire­ne Ever­stein und – ich auch, Fried­rich Lan­greu­ter, der Welt­weis­heit Be­f­lis­se­ner! Den un­s­terb­li­chen Göt­tern sei Dank, dass dem so war, dass wir ein­mal so da wa­ren! – – –

      Wir wis­sen noch nichts von den Ver­mö­gens- und Fa­mi­li­en­ver­hält­nis­sen des Herrn Gra­fen und von un­se­ren ei­ge­nen noch we­ni­ger. Wir le­ben in den Tag hin­ein, und wie kann man bes­ser oder viel­mehr an­ge­neh­mer le­ben? – Wenn die Fra­ge: Wo ist Ire­ne, wo sind Ewald und Eva, wo sind die an­de­ren? von neu­em ge­stellt wer­den wird, dann hat sich al­les ge­än­dert und nicht zum Bes­se­ren. Wir le­ben dann nicht mehr in den Tag, in das Licht hin­ein: wir wis­sen dann lei­der ganz ge­nau, mit wel­cher Re­gel­mä­ßig­keit die Däm­me­rung und die Nacht kom­men und wie es am hells­ten Mit­ta­ge dun­kel wer­den kann über dem Men­schen und sei­nem Zu­be­hör.

      Fünftes Kapitel

      Von dem ge­lehr­ten Herrn Pas­tor, den der Herr Graf gleich zu An­fang un­se­rer Be­kannt­schaft mei­ner Mut­ter rühm­te, habe ich we­nig zu sa­gen. Der Herr Graf ver­stand es wohl nicht bes­ser, aber die Ge­lehrt­heit des gu­ten Man­nes war nicht weit her und sein Ein­fluss auf uns un­be­deu­tend.

      Hier­über aber er­hält Ewald am bes­ten das Wort. Er nahm mich sei­ner­zeit bei­sei­te, das heißt, in­dem er mich am Kra­gen fass­te und, mich auf of­fe­ner Dorf­gas­se ab­schüt­telnd, be­merk­te:

      »Tust du dum­me Stadt­pflan­ze noch ein ein­zig Mal da (die­ses war von ei­ner Schul­ter­be­we­gung dem Pfarr­hau­se zu be­glei­tet), als wüss­test du mehr als ich von all den Dumm­hei­ten, so pass auf! Wie die En­gel im Him­mel sin­gen, das weißt du wohl noch nicht? Hör mal, so!«

      Nun ist es durch­aus nicht an­ge­nehm, sei­ner Wis­sen­schaf­ten we­gen an den Ohren auf- und von den Fü­ßen ge­ho­ben zu wer­den.

      »Hörst du sie?! Nicht wahr, sie sin­gen wirk­lich wie die En­gel? Und nun tu’s nicht wie­der und heb den Fin­ger in die Höhe, wenn ich fest­ste­cke! Frag nur Ire­ne, ob die al­ten Rit­ter das ge­tan ha­ben. In der Dorf­schu­le beim Kan­tor tun sie es alle, und da tue ich es auch und du kannst es auch tun; aber bei dem dum­men La­tei­ni­schen und dem Herrn Pas­tor, da pro­bie­re es mir nur noch ein ein­zi­ges Mal und du sollst se­hen, was du er­lebst, und wenn du mir auch hun­dert­mal dei­nen Ro­bin­son und dei­ne Cam­pes Erobe­rung von Me­xi­ko ge­lie­hen hast.«

      »Was soll ich aber denn tun, wenn ich was weiß?« heul­te ich, wäh­rend Ire­ne lach­te und Eva ih­ren Bru­der am Ho­sen­bund nach rück­wärts zog.

      »Die dum­me Schnau­ze hal­ten! Der Alte sagt es schon ganz von sel­ber her. Ich gehe doch schon lan­ge ge­nug bei ihm in die Pri­vat­stun­de und muss es wis­sen, was er al­les weiß! O, der weiß für uns bei­de noch lan­ge ge­nug!«

      So war es; aber lei­der war das, was der gute geist­li­che Herr wuss­te, auch we­nig ge­nug, und was das schlimms­te war, sei­ne Be­ga­bung zum Leh­rer stand noch tief un­ter der Was­ser­hö­he sei­ner Wis­sen­schaft. In der Hin­sicht war es je­den­falls für uns sehr von Nut­zen, dass die Jah­re hin­gin­gen und wir ihm ent­wuch­sen. Und der Herr Graf, der mei­ner Mut­ter we­gen in der Tat al­len Grund hat­te, Wort zu hal­ten, hielt es auch. Ich wur­de mit Ewald auf das Gym­na­si­um der grö­ße­ren Pro­vin­zi­al­stadt des an­de­ren Staa­tes jen­seits des Flus­ses »ge­tan«; und wir ka­men von da an nur in den Fe­ri­en nach Hau­se, das heißt zu­rück nach Schloss Wer­den, in das Förs­ter­haus, das Dorf und den Wald und zu den bei­den Mäd­chen.

      Die bei­den Mäd­chen! Als wir zum ers­ten Mal ab­zo­gen, sag­te Ire­ne:

      »Ihr habt es gut.«

      Worauf Ewald mit ei­nem be­denk­li­chen Griff nach sei­nem Rücken er­wi­der­te:

      »Weißt du das? Erst pro­bie­ren und nach­her wei­se Re­dens­ar­ten! Na, was mich an­geht, so ist die Haupt­sa­che, dass ich end­lich ein­mal aus dem dum­men Dachs­bau her­aus­kom­me. So’n lang­wei­li­ges Volk als euch fin­det man ja im­mer, und nach­her geht der Weg ja auch wei­ter, und des­halb ha­ben wir zwei es si­cher bes­ser als ihr bei­den dum­men Frau­en­zim­mer.«

      »Und ich ver­bit­te mir end­lich die­se ewi­gen dum­men Dumm­hei­ten«, rief Ire­ne. »Das wird auch auf die Län­ge dumm und lang­wei­lig, du – dum­mer Jun­ge. Lass sie ste­hen, Eva, und komm in die fran­zö­si­sche Stun­de; so wie auf mor­gen, wo wir end­lich mal Ruhe vor ih­nen ha­ben, habe ich mich noch auf kei­nen an­de­ren Tag ge­freut. Schafs­kopf!… Herr­gott, Fritz, da ist dei­ne Mama! Ach, nun hat sie auch das wie­der ge­hört! Komm rasch, Ev­chen! Adieu, mes­sieurs, ma­de­moi­sel­le Mar­tin nous at­tend. Ach Gott, ach Gott, ach Gott!«

      Es war frei­lich mei­ne Mut­ter, die um das Gar­ten­ge­büsch trat und in der Tat das Wort »Schafs­kopf« noch ver­nom­men hat­te. Und ob­gleich sie die rich­ti­ge Adres­se si­cher­lich ganz ge­nau kann­te, wen­de­te sie sich des­sen­un­ge­ach­tet


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