Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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Dass er das Ex­pe­ri­ment nicht mit dem Kop­fe nach un­ten hän­gend aus­führt, ist ein schö­ner Zug sei­ner Nach­gie­big­keit und Her­zens­gü­te; ver­sucht hat er’s selbst­ver­ständ­lich, aber Eva hat es sich für »un­se­ren Baum« ver­be­ten, wie Ire­ne eben da­für den Knas­ter aus der Schweins­bla­se sei­nes Va­ters.

      Er kommt rich­tig auch dies­mal wie­der mit un­ge­bro­che­nen Glied­ma­ßen im ho­hen Gra­se und un­ter den Stern­blu­men und Kuckucks­blu­men der Wie­se an und schlägt zur Er­ho­lung von der An­stren­gung noch ein dut­zend­mal Rad im Krei­se. Schon kriecht die Kom­tes­se durch die Hain­bu­chen­he­cke, und mehr als dass sie springt, fliegt sie über die ho­hen Klet­ten- und Bren­nes­sel­bü­sche im Gra­ben. Aus dem Wun­der­baum er­schallt noch ein fle­hend kläg­li­ches Stimm­chen:

      »Ach Gott, Fritz?!«

      Ich rei­che bei­de Arme an der Lei­ter em­por, um das ängst­li­che Vög­lein aus dem Baum im Not­fall im Fall auf­fan­gen zu kön­nen.

      »Da ren­nen sie schon über die Wie­se nach dem Wal­de! Mach rasch, Ev­chen!«

      »Ach Gott, ja! Sie hö­ren ja nun wie­der nicht! Und ich gin­ge doch so gern erst hin und sag­te es zu Hau­se, wo wir ge­blie­ben sind.«

      »Wir sind ja zu vier, Ev­chen! Und ei­ner wird doch wohl üb­rig­blei­ben und Nach­richt brin­gen, wenn drei von uns zu Scha­den kom­men.«

      »Ja, und ihr wollt dann, dass ich das bin! Mein Va­ter ängs­tigt sich wohl nicht; der kommt viel­leicht auch erst zum Abendes­sen heim. Aber dei­ne Mut­ter!… Und Ire­nes Va­ter?!«

      »Das ist nun zu spät. Sie ru­fen schon vom Wal­de her; hörst du?«

      Sie ru­fen wirk­lich, und wir kom­men. Wir fol­gen der glück­li­chen, se­li­gen Spur durch den Tau der Wie­se; und nun sind auch wir, Eva Six­tus und ich, in dem küh­len Schat­ten der Bu­chen, und – wun­der­bar! – ein Ge­wis­sen hat­ten wir bis eben, aber nun ist es uns gleich­falls ab­han­den ge­kom­men. Sie ha­ben alle kein Ge­wis­sen in den Ge­brü­dern Grimm, und wir ste­cken voll und ganz dar­in, in dem Mär­chen, in der Won­ne des Aben­teu­ers der Kin­der­welt – ganz und gar dar­in wie die zwei an­de­ren, Ewald Six­tus und Ire­ne Ever­stein!

      Was geht in der Mensch­heit Be­ha­gen über die­se gan­ze vol­le Ge­wis­sens­lo­sig­keit des Mär­chens oder noch bes­ser der Ju­gend­zeit? – Die »ewi­ge Se­lig­keit«; denn die wird frei­lich in ei­nem noch et­was hö­he­ren Gra­de ge­wis­sens­los sein.

      Sechstes Kapitel

      Sie hat­ten vom Wal­de, dem großen Wal­de her ge­ru­fen; und hin­ter dem Wal­de saß der Vet­ter – der Vet­ter Just Ever­stein; und wenn es für Na­men kein bes­ser Sieb gibt als ein Kon­ver­sa­ti­ons­le­xi­kon in der Rei­hen­fol­ge sei­ner Auf­la­gen, so ist es sehr scha­de, dass der Vet­ter durch einen der ge­wöhn­li­chen Zu­fäl­le nicht hin­ein­ge­kom­men ist. Er ge­hör­te von Rechts we­gen hin­ein und von Got­tes Gna­den dar­in zum ei­ser­nen Be­stan­de ir­di­schen gu­ten Gerüch­tes.

      Jen­seits un­se­res Wal­des und jen­seits des Flus­ses hat­te sich da eine Sei­ten-Sei­ten­li­nie des Ge­schlech­tes de­rer von Ever­stein all­ge­mach von Ge­ne­ra­ti­on zu Ge­ne­ra­ti­on, von Glücks­wech­sel zu Glücks­wech­sel in den Bau­ern­stand zu­rück­ver­lo­ren. Schon vor hun­dert­und­fünf­zig Jah­ren, ge­ra­de als eben dem Bruch­teil von Adams Ge­schlech­te auf Schloss Wer­den das Gra­fen­tum als hö­he­re Be­ti­te­lung von oben zu­fiel, hat­ten die Vet­tern drü­ben den letz­ten Ring, der sie an den Adel des deut­schen Vol­kes knüpf­te, fal­len las­sen. Das Wört­lein von war ih­nen ab­han­den ge­kom­men, wie ein Ta­ler in die Stu­ben­rit­ze rollt. Sie wuss­ten sel­ber nicht recht an­zu­ge­ben, wie es ei­gent­lich zu­ge­gan­gen war.

      »Das ein­zi­ge, was ich ge­wiss dar­über weiß, ist, dass wir da­mals scheuß­lich auf dem Hun­de wa­ren«, sag­te der Vet­ter Just. »Was will ein Kot­sas­se, dem der Sie­ben­jäh­ri­ge Krieg die letz­te Kuh aus dem Stal­le holt, mit ei­nem ade­li­gen Wap­pen über sei­ner Stall­tür? Sich bei den an­de­ren Bau­ern und alle Abend im Kru­ge lä­cher­lich ma­chen? Das kann er! Siehst du, Frit­ze, das ist eben die Sa­che beim Krie­ge, dass er den einen zum Kai­ser­li­chen Feld­mar­schall-Leut­nant macht, wenn’s beim an­de­ren um die letz­te Kuh gilt. Stu­die­re du dei­ne mit­tel­al­ter­li­chen Ge­schichts­quel­len ru­hig wei­ter; aber mei­ne lass mir lie­ber doch un­auf­ge­rührt. Ich mei­ne, der alte Brun­nen kommt im­mer doch noch klar ge­nug aus der Tie­fe in die Höhe. Nur im­mer kühl und klar, das ist die Haupt­sa­che; am Ende bleibt al­les, was dem Men­schen über­haupt auf die­ser Erde pas­sie­ren kann, in der Ver­wandt­schaft, und das ist ein Trost; – nicht etwa?«

      »Ja­wohl, ja­wohl!« hol­te ich die Ant­wort tief aus der See­le her­auf. Das war aber al­les nicht an dem Mor­gen, an dem wir wie­der ein­mal von dem Nuss­baum zum Vet­ter Ever­stein jen­seits des Flus­ses »durch­gin­gen«, son­dern lan­ge, be­schwer­li­che Jah­re spä­ter. – Der Nuss­baum oder die Nuss­bäu­me wa­ren da­mals längst eben­so un­mo­ti­viert um­ge­hau­en wor­den wie die, wel­che den Le­ga­ti­ons­se­kre­tär Wer­ther in sol­che Wut ge­gen die neue Frau Pfar­rern zu St. brach­ten: – »wie kühn und wie herr­lich die Äste wa­ren!… Ab­ge­hau­en! Ich möch­te ra­send wer­den, ich könn­te den Hund er­mor­den, der den ers­ten Hieb dran tat!… Siehst du, ich kom­me nicht zu mir!… O, wenn ich Fürst wäre! Ich wollt die Pfar­rern, den Schul­zen und die Kam­mer – – –«

      Eine neue Chaus­see führt über die Stel­le weg, wo mei­ne Nuss­bäu­me stan­den, und wer weiß, wie bald auch über die­sen Weg sich ein Ei­sen­bahn­damm hin­legt und wie bald die Per­so­nen- und Gü­ter­zü­ge vom und zum Rhein über die Stät­te brau­sen und keu­chen. Es än­dern sich stets die äu­ßer­li­chen Um­stän­de, un­ter de­nen die Na­tur und der Mensch ih­ren Adel ge­win­nen oder ver­lie­ren!…

      »Pas­sier­te es nur ein­mal, so wäre es frei­lich schlimm«, sag­te der Vet­ter Just. »Aber da es im­mer­dar sich so er­eig­net hat und sich auch fer­ner­hin nicht an­ders ma­chen las­sen will, so stel­le ich mich auch hier auf den Fuß der Phi­lo­so­phie, nach­dem ich mich ge­är­gert habe.« – Das sag­te er aber von den Nuss­bäu­men.

      Selbst auf die Vet­tern­schaft mit dem vor­neh­men Schloss Wer­den er­hu­ben die Man­nen jen­seits des Flus­ses ih­rer­seits nicht den ge­rings­ten An­spruch mehr. Der »Vet­ter« war auch ei­gent­lich nur dem ge­gen­wär­ti­gen letz­ten Spross der Fa­mi­lie an­ge­hängt wor­den, und zwar von der Ge­gend. Es war so et­was von der »Vet­ter-Mi­chel­schaft« da­bei, aber im bes­ten und ver­gnüg­lichs­ten Sin­ne.

      »Ges­tern Abend war Vet­ter Just da!« war ein Wort, das einen un­ge­mein be­hag­li­chen Klang weit um­her in je­dem Hau­se hat­te.

      »Wenn ich nur wüss­te, wie es mit dem Kerl zu­letzt ein­mal zu Ende ge­hen wird!« war dann frei­lich ein Nach­klang von et­was be­denk­li­che­rer Ton­far­be; al­lein es wa­ren im­mer nur die Un­ver­stän­digs­ten im Lan­de, die sich also ach­sel­zu­ckend äu­ßer­ten, und was über­all in der Welt auf de­ren Be­den­ken und heim­tückisch-wohl­wol­len­de Sorg­lich­keit für den lie­ben Nächs­ten zu ge­ben ist, das weiß man; – ich we­nigs­tens weiß es. Ist es nicht lei­der meis­tens der Ver­stand der Ver­stän­di­gen, bei dem sich am liebs­ten die Scha­den­freu­de hin­ter dem freund­schaft­li­chen, sor­gen­vol­len Nach­den­ken und teil­neh­men­den, be­dau­ern­den Kopf­schüt­teln


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