Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


Скачать книгу
»vier dum­me Krab­ben«, wie der Va­ter Six­tus sich aus­zu­drücken be­lieb­te, – in glei­cher Wei­se zu Dumm­hei­ten und auf Sei­ten- und Schleich­pfa­de zu ver­lo­cken im­stan­de war?

      Für uns nicht, wenn mich gleich das Le­ben ge­lehrt hat, ei­nem je­den das Recht un­ver­küm­mert zu las­sen, das theat­rum mun­di sei­ner Ju­gend in glei­cher Wei­se al­len an­de­ren Fel­dern und Wäl­dern, hier den Fich­ten und dort den Pal­men, weh­mü­tig und freu­dig vor­zu­zie­hen.

      Nach rechts und links, im Schat­ten und Licht, im Trock­nen und Feuch­ten lock­te es, und na­tür­lich da im­mer am ver­füh­re­rischs­ten, wo das Dickicht am ver­wor­rens­ten war, wo Berg und Fels am steils­ten sich er­ho­ben und wo der Bach am mut­wil­ligs­ten durchs Tal schäum­te. Wann hät­te zur Zeit der Ki­bit­zei­er die Kom­tes­se je­mals eine Ge­le­gen­heit, bis an die Knie im Sump­fe zu ver­sin­ken, ver­ab­säumt? Wann hät­te Ewald Six­tus je ein hei­les Knie ei­nem zer­schun­de­nen, eine gan­ze Hose ei­ner hal­b­en vor­ge­zo­gen?

      Und dann die Jah­res­zei­ten, die wir zähl­ten durch die Schnee­glöck­chen, die Mai­blu­men über die Erd­bee­ren weg bis in die Brom­bee­ren und den Doh­nen­stieg! Auch ich habe da­mals mit den an­de­ren ge­lacht, wenn die lie­be Eva ein bit­te­res Trän­chen über die ar­men er­häng­ten Kram­mets­vö­gel ver­goss und den Sack nie tra­gen woll­te, der die ge­fie­der­te Jagd­beu­te ent­hielt.

      »Wenn sie sie in der Schüs­sel auch nicht rie­chen könn­te, so woll­te ich gar nichts sa­gen«, brumm­te Ewald. »Dich mei­ne ich nicht, Ire­ne; aber so seid ihr Frau­en­zim­mer! Nicht wahr, Frit­ze, wir ge­nie­ren uns nicht:

       Was ich ge­bra­ten se­hen kann,

       Seh ich nie als ’ne Mord­tat an!

      Also ist die Rei­he an dir, den Ran­zen zu schlep­pen, Ire­ne. ›Im­mer ga­lant ge­gen die Da­men!‹ sagt Mam­sell Mar­tin; wenn es wie­der bergan geht, nimmt ihn Fritz­chen dir ab. Aber Rie­sen­krea­tu­ren ha­ben wir dies­mal, was?! Es ist wahr­haf­tig ein Spaß, was für eine Men­ge un­schul­dig Blut so’n paar rote Vo­gel­bee­ren an den Gal­gen brin­gen! Nicht wahr, Eva?«

      »Fa­mos!« ruft die Kom­tes­se hoch­rot, zer­zaust und glü­hend vor Jagd­lust; und der Herbst­wind fegt und ras­selt durch den Nie­der­wald und treibt ihr die blon­den Lo­cken über das Ge­sicht und – treibt mich zu­rück in den Som­mer­mor­gen, den ich im­mer von neu­em un­ter der Fe­der weg ver­lie­re, um mich im­mer wie­der zu ihm zu­rück­zu­fin­den.

      »So? Ha­ben sich die bei­den Pup­pen noch her­an­ge­fun­den?« fragt Ewald grin­send, als sei­ne Schwes­ter und ich ihn und die Grä­fin un­ter den Bäu­men des Wal­des wie­der ein­ho­len. »Das ist schön! Nun ha­ben wir auch die Tu­gend und die Vor­sicht in der Ban­de, und nun kann’s los­ge­hen! Was an mir in Fet­zen heu­te da­von­fliegt, das flickst du zu­sam­men, Ev­chen. Für die schänd­li­chen Re­dens­ar­ten, die heu­te Abend über Ire­ne los­ge­las­sen wer­den, bist du vor­han­den, Fritz­chen. Und nun rasch wei­ter; – dei­ne Alte merkt wahr­schein­lich jetzt schon Un­rat, Fritz, und hängt schon an der Sturm­glo­cke –«

      »Und Papa kommt die Trep­pe her­un­ter und schüt­telt in dem Gar­ten­saa­le den Kopf. Und dei­ne Mama ringt die Hän­de, Fritz, und Papa ist zu al­ler­letzt noch am we­nigs­ten är­ger­lich und in Sor­gen. Ach, es soll aber heu­te auch das al­ler­letz­te Mal sein, dass wir so böse sind! Ich gehe ganz ge­wiss nicht wie­der mit durch, ohne vor­her um Er­laub­nis ge­be­ten zu ha­ben.«

      »Ich auch nicht«, ruft Eva Six­tus mit Trä­nen in den Au­gen.

      »Ich auch nicht!« sage ich klein­laut, und –

      »Na, denn ich auch nicht; aber fürs ers­te ste­cke ich mir jetzt ’ne Pfei­fe an. Hier sind wir auf Staats­forst­grund, und die Gra­fen von Ever­stein kön­nen mir mei­net­we­gen kom­men. Üb­ri­gens könnt ihr ja alle noch um­keh­ren; im Not­fall lau­fe ich ganz gern al­lein, und dem Vet­ter Just ist es auch recht. Geh du dreist wie­der nach Hau­se, Fritz­chen, und nimm al­les ru­hig mit, was sonst noch von Tee­sim­peln da ist. Au!… Alle Don­ner!«

      Eine gute Hand­voll Haa­re aus der Lo­cken­fül­le des »höh­ni­schen Hans­wurs­tes« streut Ire­ne Ever­stein in die Mor­gen­lüf­te, und fünf Mi­nu­ten spä­ter sind wir al­le­samt so weit von dem Schlos­se Wer­den fern, dass uns auch der lau­tes­te Kla­ge- oder War­nungs­ruf von dort­her nicht mehr zu er­rei­chen ver­möch­te. Wir sind ge­ret­tet aus al­ler Kul­tur in die schöns­te Wild­nis, in die sich der ge­bil­de­te, äl­ter ge­wor­de­ne Mensch nur in sei­nen al­ler­höchs­ten Fei­er­stun­den zu­rück­den­ken kann – in den Stun­den oder Au­gen­bli­cken, die wie ein leich­ter schö­ner Rausch kom­men und schwin­den und lei­der nicht je­den Tag auf der Ta­ges­ord­nung ste­hen, was auch die Leu­te, die es so aus­neh­mend gut ver­ste­hen, »zur Sa­che!« zu ru­fen, da­von hal­ten mö­gen.

      In an in­di­an file, wie Ewald, der da­mals mit grö­ßes­tem Ei­fer sei­ne ame­ri­ka­ni­schen Aben­teu­rer­ro­ma­ne eng­lisch las, sag­te, schlüpf­ten wir durch die Bü­sche; und wenn die bei­den Mäd­chen alle Au­gen­bli­cke aus der Bahn bra­chen und ins Blu­men­pflücken ge­rie­ten, so fand sich für uns zwei Jun­gens wie­der man­cher­lei an­de­res, was uns auf dem Wege auf­hielt. Gut zehn Uhr wird es in Bo­den­wer­der ge­schla­gen ha­ben, wenn wir end­lich eine hal­be Stun­de wei­ter strom­auf­wärts das Flus­sufer, den Va­ter Klaus und den Kahn des­sel­bi­gen bei sei­ner Fi­scher­hüt­te er­rei­chen.

      Es führt eine Schiff­brücke bei Bo­den­wer­der über den Fluss. Das weiß ein je­der, so gut als ein je­der den Frei­herrn von Münch­hau­sen aus Bo­den­wer­der kennt. Was wäre aber un­se­re Fahrt zu dem Vet­ter Just Ever­stein ohne den Va­ter Klaus und sei­nen Kahn in­mit­ten des We­ges? Un­be­dingt nur das hal­be Ver­gnü­gen.

      Wenn wer mit in die Lust des wol­ken­lo­sen Ta­ges hin­ein­ge­hör­te, so war’s der alte Fi­scher Klaus, ob­gleich Ewald je­des Mal be­merk­te:

      »Wä­ren die Mäd­chen nicht da­bei, so spar­te ich si­cher mei­nen Gro­schen dem Al­ten am Lei­be ab. Wer schwim­men kann, braucht auf dem Lum­pen­was­ser noch lan­ge kei­ne Bret­ter un­ter sich.«

      »O du Re­nom­mist!« ruft Ire­ne, die, wenn sie sich ganz al­lein zwi­schen den Bu­chen und Wei­den hü­ben und drü­ben ge­wusst hät­te, wahr­schein­lich gleich­falls kei­ne Bret­ter und Bal­ken zwi­schen sich und das son­nen­be­glänz­te, weich hin­glei­ten­de Ele­ment ge­legt ha­ben wür­de.

      Schon zupft mich Eva Six­tus scheu und er­schreckt am Rock­är­mel.

      »Sei nur ru­hig, Ev­chen. Sie re­nom­mie­ren bei­de furcht­bar. Das Groß­maul da mit sei­nen Hän­den in den Ho­sen­ta­schen und Ire­ne – in­ner­lich! Komm nicht ins Rut­schen den Ab­hang her­un­ter. Da liegt der Va­ter Klaus bei sei­nen Reu­sen, und da steigt sein Rauch auf von sei­nem Her­de. Ire­ne kann ja gar nicht schwim­men!«

      Die­ser Rauch von dem Feld­st­ein­her­de des Al­ten am Was­ser ist wahr­schein­li­cher­wei­se die Ret­tung mei­ner Nase vor zwei Fäus­ten, die von rechts und links her dicht un­ter sie ge­hal­ten wer­den.

      »Hur­ra, der Va­ter Klaus!« schreit Ewald und rutscht be­reits auf sei­nes Va­ters erst vor ei­nem hal­b­en Jah­re an den Dorf­schnei­der ab­ge­ge­be­nen Hoch­zeits­ho­sen über das Stein­ge­röll in die Tie­fe, als ob er den Stoff gleich­falls für »ab­so­lut un­ver­wüst­lich« er­ach­te.

      Die Kom­tes­se


Скачать книгу